Literatur: Selbstsuche in Umbruchzeiten

Nr. 45 –

Buchcover von «Rote Sirenen. Geschichte meiner ukrainischen Familie»
Victoria Belim: «Rote Sirenen. Geschichte meiner ukrainischen Familie». Aus dem Englischen von Ekaterina Pavlova. Aufbau Verlag. Berlin 2023. 351 Seiten. 34 Franken.

Ein E-Mail von Victorias Onkel Wladimir führt zum Kontaktabbruch: «In seiner letzten Nachricht schrieb er mir um drei Uhr nachts Tel Aviver Zeit, dass unsere Familie der Sowjetunion zu Dank verpflichtet sei.» Victoria konnte diese Sowjetnostalgie nie nachvollziehen, mit der Sowjetzeit verbindet sie eher die leeren Supermarktregale ihrer Kindheit und die Kriege, Hungersnöte und Säuberungen, unter denen frühere Familienangehörige litten. Während sie dem Thema lange Zeit auswich, konfrontiert sie der Einmarsch der russischen Armee auf die Krim im Frühling 2014 mit hitzigen Diskussionen.

Mitten in dieser Umbruchzeit spielt Victoria Belims autobiografische, in der Ich-Form erzählte Familiengeschichte «Rote Sirenen». Victoria reist von ihrem Wohnort Brüssel zu ihrer Grossmutter in die Zentralukraine, um mehr über ihre Familie und insbesondere Nikodim, den älteren Bruder ihres Urgrossvaters, herauszufinden. Nikodim verschwand in den 1930er Jahren und tauchte auch in den Erzählungen ihrer Urgrosseltern, bei denen Victoria jeweils die Sommerferien verbrachte, nicht auf. Erst nach deren Tod stösst Victoria auf eine Notiz ihres Urgrossvaters: «Bruder Nikodim, verschwunden in den 1930ern im Kampf für eine freie Ukraine». Ihre Grossmutter jedoch, die im Haus der Urgrosseltern lebt, möchte von Victorias Suche nichts wissen und hält sie mit Arbeiten im Kirschgarten auf Trab.

Victoria sieht sich bei ihrer Rückkehr in die Ukraine mit einer patriarchalen Kultur konfrontiert: Die Grossmutter verbietet Victorias Cousin, das Geschirr abzuwaschen, da dies eine «niedere Frauenarbeit» sei. Victoria kocht innerlich vor Wut, hält sich aber bei derlei Äusserungen zunehmend zurück. So entsteht eine gegenseitige Zuneigung zwischen den beiden Frauen, die in einer völlig anderen Realität aufgewachsen sind – Victoria emigrierte mit der Familie in die USA, als sie fünfzehn war. Victoria Belims Buch erzählt berührend und aufschlussreich davon, wie familiäre Beziehungen und gesellschaftliche Entwicklungen ineinandergreifen.