Literatur: Einen Flat White für die Freiheit
In ihrem neuen Roman «Augustblau» lässt Deborah Levy eine rastlose Konzertpianistin nach Griechenland reisen. Dort trifft sie auf ihre Doppelgängerin und ihre eigene abgründige Geschichte.
Ihr Inneres ist in etwa so aufgewühlt wie das Meer. Sie steht am Hafen von Piräus, bereit für die Überfahrt nach Poros, wo sie einen Dreizehnjährigen am Piano unterrichten wird. «Ich wusste, dass ich davonrannte, aber ich wollte mein Leben nicht mit einer Gabel aufspiessen und es mir zu genau ansehen», erzählt Elsa M. Anderson.
Die persönliche Krise der Ich-Erzählerin beginnt, nachdem ihr in Wien bei Sergei Rachmaninows zweitem Klavierkonzert die Finger nicht mehr gehorchen wollen und eine unbekannte Melodie anschlagen. Eine Woche zuvor schon färbte sich die Pianistin die Haare blau, um sich «von der eigenen DNA abzuspalten». Seither hat die Mittdreissigerin der Bühne den Rücken gekehrt und reist rastlos durch Europa. Ab und zu gibt sie reichen Sprösslingen Privatunterricht.
«Augustblau» beginnt an einem Nachmittag, an dem Elsa M. Anderson auf einem Athener Flohmarkt zwei batteriebetriebene Tanzpferde entdeckt. Seltsam hingezogen fühlt sie sich zu der Frau, die diese kauft, zugleich ist sie verschreckt: «Mein bestürzender Gedanke in diesem Moment war, dass sie und ich ein und dieselbe Person waren», und weiter: «Ich hatte das Gefühl, dass sie mir etwas gestohlen hatte, etwas, das mir im Leben fehlen würde.» Fortan tritt die Pianistin mit ihrer Doppelgängerin in einen gedanklichen Austausch und beginnt, verdrängte Kapitel der eigenen Geschichte zu beleuchten.
Alle alten Meister
Wir erfahren, dass Elsa M. Anderson, deren mittlerer Buchstabe für «Miracle», also Wunder, steht, nicht immer so hiess. Die ersten sechs Lebensjahre verbrachte sie als Ann bei Pflegeeltern, ihre leiblichen Eltern kennt sie nicht. Früh wird sie von Arthur Goldstein, einem renommierten Musiklehrer, entdeckt und adoptiert. Er macht Ann zu Elsa und verpasst dem am Klavier hochbegabten Kind das M im Namen. Zu Goldstein pflegt sie eine professionelle Beziehung, als Vater bezeichnet sie ihn nicht: «Ich war verpflanzt worden von einem bescheidenen Haus bei Ipswich in Suffolk in ein grösseres Haus in Richmond, London.» Disziplin prägt ihre Jugendjahre. «Es braucht ein Leben lang, um Bach spielen zu lernen.» Und Elsa, das Wunderkind, lernt nicht nur Bach, sie spielt sie alle, die «alten Meister».
Je mehr Elsa M. Andersons Leben aufgefächert wird, desto stärker beschleicht einen das Gefühl, dass die Autorin die Figur mit psychologischen Themen und Deutungsmöglichkeiten überladen hat: Die Protagonistin kennt ihre Mutter nicht, ist Adoptierte, kindliche Muse, gefördert, fremdbestimmt und abhängig von ihrem Entdecker, bis ihr Körper bei besagtem Konzert nicht mehr mitmacht.
Natürlich muss nicht über allem die Lanze der Plausibilität gebrochen werden, nur bekommt die Figur durch ihre aussergewöhnliche Biografie und die damit verbundenen Abgründe etwas gar Gekünsteltes, Unnahbares und verliert so an Reiz. Das ist schade, zumal es Levy normalerweise ausserordentlich gut gelingt, vielschichtige und tiefgründige «missing female characters» zu entwerfen, mit denen man sich gerne verschwestern möchte.
In ihrem Roman «Heisse Milch» (2018) liess Levy etwa eine griechisch-englische Anthropologiestudentin mit ihrer Mutter nach Spanien reisen, wo diese in einer Spezialklinik behandelt werden soll. Subtil tritt dort eine fast schon gewalttätige Bindung zutage. Und in der dreiteiligen «Living Autobiography» erzählte die mittlerweile 64-jährige Autorin davon, wie sie nach einer Scheidung mit knapp fünfzig Jahren eine neue Rolle als Frau, Mutter von zwei Töchtern und Autorin sucht.
Gipszeus am Kühlschrank
Auch «Augustblau» kann als feministischer Entwicklungsroman gelesen werden. Denn nach und nach beginnt Elsa M. Anderson, sich von den Erwartungen ihres durch Männer dominierten Umfelds zu lösen und ihre eigene Geschichte zu erzählen. Dafür findet Levy erfrischende Bilder, etwa wenn sie beschreibt, wie die Pianistin mit ihren für Millionen versicherten und vertraglich zu Pflege und Massagen verpflichteten Händen in Griechenland nach Seeigeln taucht und danach die Stacheln genüsslich aus den Fingern zieht. Manchmal wäre weniger aber auch sprachlich mehr. So wirkt etwa das wiederkehrende Bild für patriarchale Unterdrückung – der Dirigent, der Elsa M. Andersons unbekannter Melodie während des desaströsen Rachmaninow-Konzerts in Wien nicht folgen kann und sie «an der Ausübung ihrer eigenen Komposition» hindert – etwas abgedroschen.
Dennoch geht von Levys neuem Roman eine starke Anziehungskraft aus, vor allem von dessen Ich-Erzählerin, die auf ihren Reisen ständig abdriftet, mäandert, affirmiert und assoziiert. Durch genaues Beobachten des Banalen gelangt sie vom Wirklichen ins Unwirkliche: Kleine Gipsfiguren von Zeus, Apollo und Aphrodite erleben in Levys Roman «eine letzte Metamorphose» und werden zu Kühlschrankmagneten. Und für eine sich verflüchtigende Gegenwart findet die Autorin Sätze wie: «Der Kapitalismus hat mir einen Flat White verkauft, als wäre es eine Tasse Freiheit.»
Die Autorin liest an der Buchbasel am Samstag, 18. November 2023, um 20 Uhr. www.buchbasel.ch