Humanitäre Krise in Bergkarabach: Auf sich allein gestellt

Nr. 35 –

Seit neun Monaten blockiert Aserbaidschan die einzige Landverbindung zwischen Armenien und Bergkarabach. Über die sozialen Medien organisieren die Menschen vor Ort ihr Überleben – und appellieren verzweifelt an die Aussenwelt.

Als Aschot Gabrieljan im Dezember 2022 eine Landkarte auf Instagram postet, ahnt er noch nicht, dass sich sein Feed bald zum virtuellen Tagebuch eines monatelangen Zermürbungsversuchs entwickeln würde. «Hier könnt ihr den Latschin-Korridor sehen», schreibt er damals – und kringelt für seine Follower:innen den entsprechenden Landzipfel im Südkaukasus auf der Karte rot ein. Durch den Korridor schlängelt sich die einzige Strasse, die Armenien mit der selbsterklärten Republik Arzach in Bergkarabach verbindet – jener umkämpften Region, in der mehrheitlich Armenier:innen leben, die aber völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört. Gabrieljan ist dort geboren und aufgewachsen, in seinem Post warnt der Armenier vor einer «humanitären Katastrophe».

Zu diesem Zeitpunkt begann das Regime in Baku, die Strasse abzuriegeln. Medikamente, Hygieneprodukte, Mehl – nur noch Hilfstransporte des Internationalen Roten Kreuzes (IKRK) durften die Zufahrt passieren. Und sogenannte russische Friedenstruppen, die seit Ende des letzten Karabachkriegs von 2020 eigentlich für Stabilität in der Region sorgen sollen. Mittlerweile ist auch das vorbei. Laut dem IKRK erreichten die letzten Transporter mit Lebensmitteln Bergkarabach Mitte Juni; seit Anfang Juli kommen keine medizinischen Hilfsgüter mehr in die Region.

Arzachs 120 000 Bewohner:innen sind damit auf sich allein gestellt. In armenischen Medien ist von einer Verdreifachung der Fehlgeburtenrate die Rede, das Bild einer abgemagerten Leiche soll den ersten Hungertoten zeigen. Luis Moreno Ocampo, ehemaliger Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, warf Aserbaidschan jüngst genozidale Absichten vor: «Hunger ist die unsichtbare Waffe des Völkermords», schrieb er.

Aufreibende Ungewissheit

Journalist:innen können bereits seit Beginn der Blockade nicht mehr nach Bergkarabach einreisen, eine unabhängige Überprüfung der Lage vor Ort ist nahezu unmöglich. Und doch verdichtet sich das Bild – durch das, was die Eingeschlossenen in den sozialen Medien posten. In Facebook-Gruppen etwa floriert der Tausch alltäglicher Dinge: Für ein Stück Seife gibt es eine Zahnpastatube, für Öl, Salz oder ein Päckchen Kaffee neun Damenbinden. Auf Instagram berichten User:innen über die langen Warteschlangen vor Supermärkten und Bäckereien, in denen man doch nur leere Regale vorfindet.

Eines dieser Fenster in die Blockade ist Aschot Gabrieljan. Sein virtuelles Tagebuch sei nicht geplant gewesen, nur wenige Medien würden umfassend über die sich zuspitzende Lage berichten, schreibt er. «Ich glaube, es liegt an uns, die Stimmen zu erheben und das Bewusstsein auf globaler Ebene zu verstärken.» Um mit dem 22-Jährigen zu telefonieren, ist die Verbindung in Askeran, einer Provinz im Norden Bergkarabachs, zu schlecht.

Vor der Blockade hatte Gabrieljan – wie viele junge Menschen aus Bergkarabach – in Armeniens Hauptstadt Eriwan studiert. Für ein Auslandssemester war er nach Portugal gereist, Bilder in seinem Feed zeigen ihn in Galicien und vor dem Eiffelturm. Dann eskalierte der jahrzehntelange Konflikt um seine Heimat erneut – und schuf Fakten: Waren die Armenier:innen aus dem ersten Karabachkrieg Anfang der Neunziger noch als Sieger hervorgegangen und hatten in Bergkarabach einen eigenen Staat proklamiert, war das durch Gasexporte zu Wohlstand gekommene Aserbaidschan nun militärisch überlegen.

Baku eroberte grosse Teile Bergkarabachs zurück. In dem von Russland vermittelten Waffenstillstandsabkommen erhielt Aserbaidschan zudem Gebiete zugesprochen, die zuvor unter armenischer Kontrolle gestanden hatten. Ein Schockmoment für viele Armenier:innen. Gabrieljan beschloss damals, für eine Weile nach Bergkarabach zurückzukehren, um als Lehrer zu arbeiten. Während er für einige Tage im Ausland war, begann die Blockade.

Statt in Eriwan auszuharren, habe Gabrieljan bei seinen Schüler:innen und seiner Familie in Bergkarabach sein wollen, sagt er. Da die offizielle Strasse versperrt gewesen seien, habe er sich mit anderen Passagieren in einen überfüllten Kleinbus gepresst, der sie über einen ungesicherten Schotterweg nach Bergkarabach gebracht habe. Auf eigene Gefahr, durch den Wald und in nächster Nähe zu den Militärposten der Azeris. Mittlerweile sei auch dieser Weg versperrt.

Mit dem Obst und Gemüse aus ihrem Garten könne sich Gabrieljans Familie noch ernähren. Aber die Ungewissheit der Situation reibt ihn auf, in seine Instagram-Posts mischt sich seit einigen Tagen immer mehr Verzweiflung: «Nachdem ich zwei Tage nach Brot gesucht habe, jeden verfickten Tag nur Kartoffeln und Tomaten esse, meine kurzzeitigen und anderen Pläne aufgegeben und die Realität akzeptiert habe, bin ich am Ende», schreibt er etwa an Tag 235.

Kaum Treibstoff oder Lebensmittel

Auch Mary Asatrjan versucht auf Instagram, auf die Blockade aufmerksam zu machen. Die 27-Jährige ist in Moskau geboren, ihre Vorfahren flohen einst vor dem Genozid an den Armenier:innen im Osmanischen Reich. «Ich bin mit Geschichten über unsere verlorene Heimat aufgewachsen», sagt Asatrjan. Die WOZ erreicht sie in Stepanakert kurz vor der sechsstündigen Stromabschaltung, die Bergkarabachs Regierung veranlasst hat, um Energie zu sparen. Nach dem letzten Krieg habe Asatrjan befürchtet, dass sich die Geschichte wiederholen könne. Seit September arbeitet sie im Büro des Ombudsmanns von Bergkarabach, dokumentiert seit der Blockade die Missstände in der Region.

«Hier in Arzach ist alles miteinander verbunden», sagt sie, «unser Leben ist wie gelähmt.» Weil es kaum Treibstoff gebe, könnten die Bäuer:innen ihre Ernten nur noch mit Pferden und Eseln in die Städte bringen. Da die Gebietsverluste von 2020 etliche Kraftwerke einschlössen, müssten die verbliebenen ihre Leistung hochfahren. Das schmälere den Stand im Sarsang-Stausee, der die Region mit Wasser versorge. Bereits jetzt fehle Wasser auf den Feldern. Weil überall Lebensmittel knapp seien, könnten keine Vorräte angelegt werden. Schon seit März gebe es kein Gas zum Kochen und Heizen mehr. Und nun stehen im Kaukasus der Herbst und der Winter bevor.

Momentan sieht es trotz zahlreicher internationaler Bemühungen nicht so aus, als würde die Blockade bis dahin beendet sein. Nicht einmal die Erklärung von Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan im Mai konnte etwas ausrichten. Darin gestand er zu, Bergkarabach als Teil Aserbaidschans anzuerkennen, wenn Baku die Sicherheit der dort lebenden Armenier:innen garantiere. So weit war noch kein armenischer Politiker vor ihm gegangen. Einen Sonderstatus lehnt Aserbaidschans Machthaber Ilham Alijew jedoch ab: Die Armenier:innen in Bergkarabach hätten die Wahl, Staatsbürger:innen Aserbaidschans zu werden oder die Region zu verlassen, erklärte er zuletzt mehrfach.

«Die Menschen würden lieber sterben, als Teil von Aserbaidschan zu werden – selbst zu verhungern scheint ihnen eine bessere Option zu sein», sagt Asatrjan. Sicherheit gebe es nicht durch Erpressung. Sondern nur durch Selbstbestimmung.