Bergkarabach: Die Vertreibung hat begonnen
Der aserbaidschanische Angriff auf Bergkarabach könnte Armenien zurück in die Arme Russlands treiben. Auch weil die EU aus Rücksicht auf Energiegeschäfte wegschaut.
Der Sohn vollendet, was seinem Vater verwehrt geblieben ist, mit Gewalt, Demütigung und Verbrechen. Ilham Alijew beherrscht Aserbaidschan seit dem Tod des ehemaligen Präsidenten Heydar Alijew, der von 1993 bis 2003 die Macht innehatte, autokratisch. Seine Gas- und Ölgeschäfte erlauben es dem Diktator, die Grenzen auf der Landkarte im Südkaukasus neu zu ziehen.
Am 19. September hat die aserbaidschanische Armee nach einer monatelangen Belagerung und einem kurzen Feldzug die Kontrolle über die armenisch besiedelte Enklave Bergkarabach übernommen. Völkerrechtlich gehört Bergkarabach heute zu Aserbaidschan. Doch es war Josef Stalin, der das Gebiet 1921 Sowjet-Aserbaidschan zuteilte. Beim Zerfall der UdSSR siebzig Jahre später spaltete sich das bis dahin autonome Gebiet von Sowjet-Aserbaidschan ab. Fast dreissig Jahre lang blieb Bergkarabach – «Arzach» nennen es die Armenier:innen – eine international nicht anerkannte Minirepublik.
Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Bergkarabach schwelte in diesen drei Jahrzehnten beständig weiter. Zuletzt griff Aserbaidschan im Herbst 2020 die Region Bergkarabach mit dem Ziel an, diese zu erobern. Doch russische Friedenstruppen setzten zunächst einen prekären Waffenstillstand durch. Drei Jahre später aber erringt das Regime in Baku trotz der Anwesenheit von 2000 russischen Soldaten den vollständigen Sieg. Und der Exodus der armenischen Bevölkerung aus ihrer angestammten Heimat scheint nicht mehr aufzuhalten zu sein.
In der armenischen Hauptstadt Eriwan kommt es derweil täglich zu Massenprotesten. Die Demonstrierenden blockieren die zentralen Strassen, errichten Barrikaden – aber überall stossen sie mit Polizeikräften zusammen. Die meisten Sicherheitskräfte stehen auf dem Platz der Republik, wo sich das Regierungsgebäude befindet. Fast täglich kommt es zu Schlägereien zwischen ihnen und den Demonstrant:innen. Es gibt mehrere Dutzend Verhaftete und Verletzte.
«Was soll ich tun? Zu Hause sitzen und warten, bis sie unser Volk abschlachten?», fragt eine Frau. «Ich stehe weder auf der Seite der Regierung noch auf der Seite der Opposition. Ich bin aus Verzweiflung auf die Strasse gegangen.»
Die Oppositionskräfte, die durch die «samtene Revolution» von Regierungschef Nikol Paschinjan von den Schalthebeln der Macht verdrängt wurden, rufen nun zum Ungehorsam auf und geben dem «Verräter Paschinjan» und seiner Regierung die Schuld an der militärischen Niederlage. «Sie wollen wieder an die Macht», heisst es aus der Regierungspartei. Mehr ist nicht zu vernehmen. Die Regierung hat in dieser schwierigen Zeit den Kontakt zur Bevölkerung abgebrochen. Die Zukunft sieht düster aus. «Die Opfer dieser Politik sind die 120 000 Armenier:innen, die die neunmonatige Belagerung durch Aserbaidschan überlebt haben», klagt ein Demonstrant in Eriwan.
Aserbaidschan hat die Menschen in Bergkarabach in einen Käfig gesteckt, sie von der Aussenwelt abgeschnitten und schlichtweg ausgehungert. Die Details dessen, was wirklich geschehen ist, werden erst noch ans Licht der Öffentlichkeit gebracht werden müssen. Weder internationale Beobachterinnen noch Journalisten wurden bislang in die Region gelassen.
Mit der Vertreibung eines Teils der armenischen Bevölkerung ist aber klar, dass ethnische Säuberungen begonnen haben. Bis Mittwoch sind bereits 30 000 der insgesamt 120 000 Armenier:innen von Bergkarabach nach Armenien geflüchtet. Es sind vor allem Frauen, Kinder, ältere Menschen und Verletzte, die vom Roten Kreuz in einem Flüchtlingslager in der Stadt Goris im Süden Armeniens betreut werden.
Neuer Angriff befürchtet
Das Ende des Krieges um Bergkarabach kann der Beginn neuer gewaltsamer Veränderungen für Armenien sein. Das Regime in Baku fordert gemeinsam mit der Türkei, die Aserbaidschan während des Karabachkriegs militärisch und politisch unterstützt hat, die Eröffnung eines Landwegs durch die südliche Region Sjunik – souveränes Territorium der Republik Armenien. «Der nächste Schritt muss die Wiedereröffnung des Sangesur-Korridors sein», so die Forderung der aserbaidschanischen Führung.
Diese Landverbindung soll Aserbaidschan mit der aserbaidschanisch besiedelten Exklave Nachitschewan verbinden, zu der Aserbaidschan bisher keinen direkten Zugang hat. Die Türkei gewänne damit einen direkten Zugang zu ihrem Verbündeten und zum Kaspischen Meer. Auch deshalb besuchte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan am 25. September Nachitschewan und traf dort mit Ilham Alijew zusammen.
Aus geopolitischer Sicht bedeutet das, dass die Position Russlands im Südkaukasus während des Krieges gegen die Ukraine geschwächt worden ist. Das heisst jedoch keineswegs, dass das aserbaidschanisch-türkische Bündnis nun die uneingeschränkte Vorherrschaft beanspruchen könnte.
Würden die türkisch-aserbaidschanischen Pläne realisiert, würde Armenien vom Iran abgeschnitten. Aus diesem Grund gibt es vernehmliche Warnungen aus Teheran, dass der Iran eine Änderung der Grenze zu Armenien nicht akzeptieren wird, weil der Iran ansonsten einen strategischen Zugang zur Aussenwelt verlieren würde.
Unterdessen wirkt sich die jüngste Entwicklung deutlich auf die russisch-armenischen Beziehungen aus. Die russischen Medienpropagandist:innen Margarita Simonyan und Wladimir Solowjow rufen die armenische Bevölkerung auf, sich der Opposition anzuschliessen. Sie fordern eine ausschliesslich auf Russland ausgerichtete Politik. Jewgeni Feodorow, Abgeordneter der russischen Staatsduma und Mitglied der regierenden Partei Jedinaja Rossija, kündigte gegenüber russischen Medien an, Russland werde die armenische Souveränität abschaffen und das Land in ein «russisches Gouvernement» verwandeln, «damit Moskau seine volle Kontrolle über Armenien» wiederherstellen könne.
Der armenische Politologe Hovsep Churschudjan hat dazu eine klare Meinung. «Armenien hat mit Russland in keiner Form eine sichere Zukunft.» Seine Begründung dafür: «Russland sieht sich als Sklavenhalter in Armenien.» So wie das ukrainische «Brudervolk» plötzlich zu «Faschisten» wurde, so werde der «kleine Bruder Armenien» vom Kreml zum «Verräter» gemacht. Churschudjan kritisiert die armenischen Behörden dafür, sich nicht sofort aus der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, dem von Russland dominierten Militärbündnis, zurückzuziehen. Erst dadurch würde es Armenien ermöglicht, Sicherheitspartnerschaften mit Europa und Amerika einzugehen. Doch für viele Armenier:innen am Platz der Republik klingt das utopisch und naiv.
Zumal europäische Spitzenpolitiker:innen bislang diskret wegschauen. Obwohl zahlreiche Menschenrechtsorganisationen und Genozidforscher:innen in den vergangenen Monaten Alarm geschlagen haben und der Internationale Gerichtshof Aserbaidschan bereits zweimal aufgefordert hat, den blockierten Latschin-Korridor zur Versorgung Bergkarabachs sofort freizugeben, vermeidet die EU klare Worte zum aserbaidschanischen Überfall.
Drehscheibe Schweiz
Die Erklärung: der Ausbau der Gas- und Ölgeschäfte mit dem Diktator in Baku. 2022 unterzeichnete die EU eine Absichtserklärung mit Aserbaidschan, die Erdgaslieferungen bis 2027 auf 20 Milliarden Kubikmeter pro Jahr zu erhöhen. 2022 wurden 11,4 Milliarden Kubikmeter geliefert. Das entspricht etwa drei Prozent des EU-Verbrauchs im vergangenen Jahr. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen nannte Aserbaidschan einen «verlässlichen Partner» der EU. Und der deutsche Kanzler Olaf Scholz bezeichnete Aserbaidschan als Partner von wachsender Bedeutung für Gas- und Öllieferungen. Ignazio Cassis fordert derweil ein «Ende der Feindseligkeiten», freilich ohne zu benennen, von wem diese ausgehen.
Denn auch die Schweiz ist gut im Geschäft mit Diktator Alijew. Socar, der staatliche Ölkonzern Aserbaidschans, wickelt über die Schweiz sein Europageschäft ab. Im Jahr 2022 erwirtschaftete Socar weltweit einen Umsatz von rund 65 Milliarden Schweizer Franken, wovon rund 42 Milliarden Franken auf den Ableger in der Schweiz entfallen. Dazu ist Socar ein wichtiger Akteur auf dem Schweizer Energiemarkt mit rund 200 Tankstellen und einer starken Präsenz auf dem Gross- und Einzelhandelsmarkt.