Bergkarabach: Das Warten auf die Heimkehr kann noch Jahre dauern

Nr. 49 –

Im Krieg vor einem Jahr eroberte Aserbaidschan einen grossen Teil des einst von Armenien besetzten Bergkarabach zurück. Zehntausende von Armenier:innen verliessen das Konfliktgebiet und leben seither in prekären Verhältnissen – einzelne auch als Flüchtlinge im eigenen, heute geteilten Dorf.

  • «Je länger ich rüberschaue, desto schlechter fühle ich mich»: Narine Churschudjan wurde aus ihrem Haus vertrieben und lebt heute wenige Meter entfernt auf der anderen Strassenseite. Zunächst fand sie mit ihrem Mann in diesem Wagen Unterschlupf, inzwischen konnten sie einen etwas grösseren Wohncontainer beziehen.
  • Armenien ist ein bergiges Land, Reisen führen immer wieder über Passstrassen, wie hier zwischen Goris und Kapan.
  • Im Latschinkorridor zeigt sich die raue Schönheit der Landschaft.
  • «Für immer gemeinsam», ver­spricht Wladimir Putin auf dem 2300 Meter hoch gelegenen Worotanpass. Angesichts der Präsenz russischer «Friedenstruppen» in Bergkarabach könnte das auch als Drohung verstanden werden.
  • «Wir vermissen unser Haus», sagt Artur Babajan.
  • Novella Balajan verlor ihr Heim und ihr Geschäft.

Zaghkadsor, ein Dorf fünfzig Kilometer nordöstlich der armenischen Hauptstadt Eriwan. Hier, in einem Gebäude des Sportkomplexes, haben 184 Erwachsene und Kinder ein Dach über dem Kopf gefunden, nachdem sie vor einem Jahr aus Bergkarabach fliehen mussten. Die Unterkunft liegt etwas abseits des Dorfs an einer Ausfallstrasse. In einem einstigen Pool der Anlage wachsen die Bäume schon meterhoch in den Himmel, an einer Hauswand prangt ein Gemälde mit einem Athleten aus der Sowjetzeit. Neben dem Eingang des zur Notunterkunft umfunktionierten ehemaligen Sportler:innenheims ragen die letzten Kohlköpfe aus dem Boden: Die armenischen Geflüchteten haben einen Teil des Bodens zur Selbstversorgung umgenutzt.

Auch Artur Babajan und seine Familie wohnen derzeit im grossen Gebäude mit den langen, leeren Korridoren. «Natürlich ahnten wir, dass es einen neuen Krieg geben würde – aber nicht in diesem Ausmass», sagt der Fünfzigjährige. Die Familie lebte im Dorf Aknaghbjur bei Hadrut in Bergkarabach und wurde am 6. Oktober 2020 evakuiert, als die aserbaidschanische Armee anrückte. Babajan, der wegen Nachwirkungen von im ersten Karabachkrieg Anfang der neunziger Jahre erlittenen Verletzungen an einem Stock geht, hoffte, dass die Kampfhandlungen ähnlich wie 2012 und 2016 nur einige Tage dauern würden. Doch die Nachricht, dass die aserbaidschanischen Streitkräfte das nahe Dschabrail eingenommen hätten, zerstörten diese Illusion schon bald. «In Dschabrail haben wir in zwei Tagen 600 bis 700 Soldaten verloren», erklärt Babajan.

27 Verhandlungsjahre brachten keinen Frieden

Nach einer Zwischenstation in Togh verliessen Babajan und seine Familie Bergkarabach Anfang November letzten Jahres über eine Nebenstrasse durch den sogenannten Latschinkorridor, eine Gebirgsregion zwischen Bergkarabach und Armenien. Hätte der Krieg verhindert werden können? «Es wäre möglich gewesen, wenn wir Latschin und Kalbadschar als Korridor behalten und die anderen Regionen, Agdam, Dschabrail, Sangilan, Fisuli und Gubadli, zurückgegeben hätten», meint Babajan. Diese Gebiete waren vor dem ersten Krieg in den neunziger Jahren fast vollständig von ethnischen Aserbaidschaner:innen besiedelt, später dienten sie als Pufferzone vor der Waffenstillstandslinie von 1994.

Nun liegt das zweistöckige Wohnhaus der Familie Babajan, umgeben von siebzig Bäumen, im aserbaidschanischen Kontrollbereich. Was Babajan, seiner Frau und den Kindern bleibt, sind ihre Kleider, einige Dokumente, Fotos vom Haus auf dem Smartphone – und die Hoffnung, irgendwann wieder zurückkehren zu können. Die international nicht anerkannte Regierung von Arzach, wie die Armenier:innen Bergkarabach seit 2017 neu nennen, habe ihnen beschieden, sie müssten mit der Rückkehr drei Jahre zuwarten. «Wir würden, wenn nicht anders möglich, auch irgendwo in Bergkarabach in eine Notunterkunft ziehen», sagt Babajan, «aber Hadrut hat natürlich Priorität. Wir vermissen unser Haus.»

Der Krieg von 2020 ist eine Folge der ungelösten Probleme aus dem ersten Krieg um Bergkarabach. 1988 wollten sich die Armenier:innen in der mehrheitlich armenisch besiedelten Region Bergkarabach von der aserbaidschanischen Sowjetrepublik lossagen; drei Jahre später löste Aserbaidschan den Autonomen Oblast Bergkarabach auf, nachdem dieser seine Unabhängigkeit erklärt hatte. Daraufhin brach 1992 der erste Krieg aus, dem 30 000 Menschen zum Opfer fielen. Die Armenier:innen erlangten dabei nicht nur die Kontrolle über Bergkarabach, sie eroberten zudem auch sieben umliegende Provinzen, in denen überwiegend Aserbaidschaner:innen lebten. Es fand faktisch eine ethnische Trennung statt: 684 000 Aserbaidschaner:innen flohen aus Bergkarabach und den umliegenden Gebieten, 185 000 aus Armenien. Auf der anderen Seite waren es gegen 300 000 Armenier:innen, die aus Aserbaidschan fliehen mussten (alle Zahlen stammen vom Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen, dem UNHCR).

Dem Waffenstillstand von 1994 folgte nie ein Friedensabkommen, und auch der Status der Region Bergkarabach blieb unklar. Derweil die Armenier:innen auf Unabhängigkeit pochten, bestanden die Aserbaidschaner:innen auf der faktischen Reintegration und der Rückgabe der umliegenden Gebiete. 27 Jahre Verhandlungen unter der Ägide der Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) führten zu keinen nennenswerten Ergebnissen; an der Waffenstillstandslinie kamen bei gelegentlichen Schlagabtauschen jährlich bis zu dreissig Soldaten und Zivilist:innen ums Leben. 2012, 2016 und im Juli 2020 kam es zu mehrtägigen Kämpfen.

Das geteilte Dorf

Am 27. September 2020 schliesslich begann der zweite Krieg um Bergkarabach. Die in den letzten Jahren technisch hochgerüstete aserbaidschanische Armee war den armenischen Streitkräften weit überlegen und eroberte insbesondere im südlichen Teil der Front, entlang der iranischen Grenze, grosse Gebiete zurück. Der Einsatz von Kampfdrohnen aus türkischer und israelischer Produktion war einer der Hauptgründe dafür. Mehrere sogenannte humanitäre Waffenstillstandsabkommen scheiterten. Als aber Aserbaidschan die strategisch wichtige Stadt Schuscha unter seine Kontrolle brachte und kurz danach nahe der iranischen Grenze einen russischen Kampfhelikopter angeblich aus Versehen abschoss, kam am 9. November 2020 ein von Russland vermittelter Waffenstillstand zustande. Dieser sah nicht nur das Ende der Kampfhandlungen vor, sondern auch die Rückgabe der armenisch besetzten Gebiete Latschin, Kalbadschar und Agdam. Gegen 2000 Angehörige einer russischen Friedenstruppe wurden ins Konfliktgebiet verlegt.

Ein Jahr später. Auf einer Wiese nur einige Hundert Meter von ihrem Haus in Schurnuch entfernt sitzt Narine Churschudjan in einem Container, der ihr und ihrem Mann vor einigen Monaten von einer Elektronikmarktkette zur Verfügung gestellt wurde. Churschudjan ist Geflüchtete im eigenen Dorf – als eine der Letzten, die in diesem Konflikt vertrieben wurden. Nur knapp passen zwei Betten und ein Sofa in den fünfzehn Quadratmeter kleinen Raum; im engen Vorraum sind ein Holzofen und die kleine Küche installiert. Derzeit ist auch noch die Enkelin zu Besuch. Der Winter dürfte hart werden: Wenn nicht regelmässig Holz nachgelegt wird, wird es im Container schnell kalt. Der Verlust ihres Hauses auf der anderen Strassenseite, zu dem Narine Churschudjan nicht einmal für einen kurzen Augenblick zurückkehren darf, schmerzt: «Je länger ich rüberschaue, desto schlechter fühle ich mich», sagt die 54-Jährige.

Einige Wochen nach Kriegsende, kurz vor Ende des Jahres 2020, seien plötzlich Vertreter der russischen Friedenstruppen und Aserbaidschaner gekommen, erinnert sich Churschudjan: «Wir geben euch vier, fünf Tage», hätten sie ihnen mitgeteilt, «das sei ihr Land, und wir hätten zu gehen.» Churschudjans Haus steht seither für sie unerreichbar unter aserbaidschanischer Kontrolle. Auf einem der zwölf Häuser auf jener Seite der Durchgangsstrasse, die die Städte Kapan und Goris verbindet, weht die aserbaidschanische Flagge, und auf einer Ortstafel steht der Dorfname nun in aserbaidschanischer Schreibweise: Surnuxu kendi.

Kurz vor dem Krieg noch hatten die Churschudjans zu ihrem zweistöckigen Haus einen Unterstand für die Tiere gebaut. Am 2. Januar verliess die Familie ihr Zuhause, nahm das Wichtigste mit, darunter die 100 Schafe und 35 Kühe. 60 Schafe verkaufte die Familie zum halben Preis, viele Tiere verlegte sie in die Nähe von Jeghegnadsor, der Hauptstadt der armenischen Provinz Wajoz Dsor. Die besten Weideflächen liegen nun auf der aserbaidschanischen Dorfseite – ein Problem für viele armenische Dorfbewohner:innen, die Viehwirtschaft betrieben und sich nun ihrer Lebensgrundlage beraubt sehen.

Grenzdisput nach dem Krieg

Das Schicksal des geteilten Dorfs Schurnuch an der Hauptachse Kapan–Goris ist exemplarisch für die verworrene Lage in diesem Teil des Südkaukasus. Darin zeigen sich alle Faktoren des armenisch-aserbaidschanischen Konflikts und der beidseitig historisch unterlegten Ansprüche – und damit verbunden auch die regionalpolitischen Interessen Russlands, des Irans und der Türkei (vgl. «Kein Grund zur Zuversicht» ).

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Erlangung staatlicher Unabhängigkeit durch die beiden Kaukasusländer im Jahr 1991 gab es fast dreissig Jahre lang nie eine Demarkation der Staatsgrenzen zwischen Armenien und den armenisch besetzten Gebieten in Aserbaidschan – nicht zuletzt aufgrund des nicht beigelegten Konflikts um Bergkarabach. Doch nach dem Waffengang im letzten Jahr berief sich die Republik Aserbaidschan auf alte Karten aus Sowjetzeiten. Die bis dahin nur auf dem Papier existierende Staatsgrenze zwischen Armenien und Aserbaidschan mit der aserbaidschanischen Kontrolle der Bezirke Kalbadschar, Latschin, Gubadli, Dschabrail und Sangilan manifestierte sich nun plötzlich nicht nur de jure – sondern auch de facto.

Die Gründe für die Teilung des Dorfs Schurnuch/Surnuxu reichen aber tiefer: Gemäss dem armenischen Autor Zaven Korotjan soll Schurnuch 1830 von den Armenier:innen aufgegeben worden sein (etwa zur Zeit der Eroberung durch das russische Zarenreich); Ende des 19. Jahrhunderts existierten noch Ruinen einer Kirche. Später lebten Aserbaidschaner:innen und einige Armenier:innen im Dorf – bis Erstere das Dorf um 1989 wieder verliessen und weitere Armenier:innen herzogen. Vom aserbaidschanischen Kapitel des Dorfs zeugt heute noch ein überwucherter Friedhof mit muslimischen Grabsteinen und aserbaidschanischen Namen.

Von den zwölf armenischen Familien, die ihre Häuser vor einem Jahr verlassen mussten, sind einige aus Schurnuch abgereist, etwa nach Goris. Wie aber lebt es sich mit dem Feind gleich auf der anderen Strassenseite? «Man wäre dumm, nicht ängstlich zu sein», sagt Narine Churschudjan. Etwas Licht am Horizont gibt es dennoch: Die armenische Regierung lässt am höher gelegenen Dorfrand neue Häuser bauen, die nächstes Jahr bezugsbereit sein sollen – einige Grundmauern stehen bereits. Auf einem Hügel vor der Baustelle steht die wohl grösste armenische Flagge in der gesamten Provinz Sjunik. Wie auch die Flüchtlinge aus Bergkarabach in Armenien erhalten Churschudjan und ihr Mann staatliche Unterstützung in der Höhe von monatlich 68 000 armenischen Dram (etwa 130 Schweizer Franken). Seit vier Monaten jedoch, sagt Nadine Churschudjan, stünden die Zahlungen aus. Sie fühlt sich vergessen.

65 000 neue Vertriebene

Die kurvige, teilweise bis auf rund 2000 Meter über Meer führende Strasse zwischen den armenischen Städten Goris und Kapan im Südwesten des Landes führt auf zwei längeren Abschnitten durch aserbaidschanisches Staatsgebiet – und mitten durch Schurnuch. Auf dieser Route wechseln sich – meist auf Anhöhen, teilweise am Strassenrand – armenische, russische und aserbaidschanische Observations- und Strassenposten ab. Auch die Flaggen der drei Länder sowie Militärs und Polizisten sind zu sehen. Die Durchfahrt von Fahrzeugen mit armenischen Kennzeichen erfolgte bis vor einigen Wochen in Gruppen und relativ problemlos – Mitte November jedoch errichteten die Aserbaidschaner Zollstationen. Es gibt auch Medienberichte, wonach sie schon im Sommer iranische Lastwagenfahrer zur Zahlung von Zöllen verknurrt hätten. Die armenische Plattform Civilnet schrieb von 130 Dollar pro Lastwagen.

Nur wenige Kilometer von der Grenze zum Iran entfernt liegt die Kleinstadt Meghri. Durch diese Region Armeniens könnte einmal die im Waffenstillstandsabkommen vom 9. November 2020 festgelegte Verkehrsverbindung zwischen Aserbaidschan und seiner Exklave Nachitschewan führen. Hier lebt seit Mitte Februar Novella Balajan mit ihrem Mann. Zunächst flüchteten sie aus Hadrut über Stepanakert in Bergkarabach nach Eriwan zu ihren Kindern, wo das Ehepaar einige Monate verbrachte. Dann fand ihr Mann in Meghri eine Stelle als Polizist, wo sie seither in einem alten Wohnblock wohnen. Novella Balajan, die in Hadrut ein Schmuckgeschäft betrieb, hütet hier nun die Wohnung.

Sobald der Mann nächstes Jahr pensioniert wird, will das Paar in die Hauptstadt Eriwan zu den Kindern ziehen. Meghri liegt zwar klimatisch günstig, hier wachsen Kakis und Granatäpfel, doch das Städtchen ist geografisch und verkehrstechnisch vom restlichen Armenien ziemlich isoliert. Novella Balajan sieht ihre Kinder und Neffen deshalb nur alle zwei Monate. Zudem kostet die Wohnung 60 000 Dram (etwa 115 Schweizer Franken). Trotz des Jobs des Ehemanns sind sie auf die Unterstützung von Nachbar:innen angewiesen. Vom armenischen Staat erhofft sich Novella Balajan nichts mehr. Wer weiterhin in Bergkarabach lebe und das Haus verloren habe, erhalte wenigstens die Miete erstattet – nicht aber, wer nach Armenien geflüchtet sei, sagt die 55-Jährige. Sie seien ja nicht einmal als Flüchtlinge registriert. «Wir kriegen hier überhaupt keine Unterstützung. Erzählen Sie von unserem Fall, wir haben keinen Status», sagt sie zum Abschied.

Mitarbeit: Nvard Melkonyan.

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