Iran: Frau, Leben … Tod
Nach zwei Jahren geht das iranische Regime brutaler denn je gegen die feministischen Proteste vor. Der neue Präsident bleibt brav auf Linie.
Schon wieder wurde eine Frau im Iran fast umgebracht, weil sie gegen die obligatorischen islamischen Kleiderregeln verstossen haben soll. Arezu Badri sass am 24. Juli in der nordiranischen Stadt Nur in einem Auto, als die Polizei auf sie aufmerksam wurde. Die 31-Jährige habe laut Darstellung der Beamten ihr Haar nicht ordnungsgemäss verschleiert gehabt und trotz Aufforderung nicht angehalten. Die Polizisten haben seitlich durch die Tür auf sie geschossen. Badri ist nun querschnittgelähmt.
Der Vorfall erregt Unruhe, weshalb Bewacher vor Badris Krankenzimmer in Teheran stehen. Ihre Familie dürfe sie nur kurz besuchen und müsse zuvor die Handys abgeben, heisst es in Medienberichten – es sollen keine Informationen ungefiltert nach aussen dringen. Vergangene Woche veröffentlichte das Staatsfernsehen ein Video, auf dem sich die junge Frau im Spital gequält lächelnd für die gute Behandlung bedankt. Sie liegt in einem Bett und sagt in ein Mikrofon, dass es ihr gut gehe. Viel besser als in der Woche zuvor, sagt ihr Vater, der neben dem Krankenbett steht und nach dem Befinden seiner Tochter gefragt wird. Das Video ist eindeutig unter dem Druck des Regimes entstanden.
Ein Krieg gegen Frauen
Zwei Jahre sind seit dem Ausbruch der «Frau, Leben, Freiheit»-Proteste vergangen. Der Widerstand brach damals nach dem Tod von Mahsa «Jina» Amini aus. Die 22-jährige Kurdin hatte ihren Hidschab locker gebunden, woraufhin sie von der Sittenpolizei so brutal geschlagen wurde, dass sie wenige Tage später, am 16. September 2022, an den Verletzungen starb. Daraufhin formierte sich spontan eine Protestbewegung gegen das Regime. Noch nie seit der Islamischen Revolution 1979 hatte es so grosse Proteste gegeben: In Hunderten Städten und an Universitäten demonstrierten die Menschen monatelang gegen die alltägliche staatliche Gewalt des Mullahregimes, gegen Korruption und den Kopftuchzwang.
Das Regime geht seit Beginn der Proteste mit grosser Gewalt gegen diese vor, Frauen werden immer stärker unter Druck gesetzt. So versuchte die Regierung, wirtschaftlichen Druck auszuüben, um den Widerstand gegen die Kleiderordnung zu brechen: Es wurden vermehrt Verkehrskameras eingesetzt, um Bussgelder gegen Frauen zu verhängen, die ohne Kopftuch im Auto sitzen. Unternehmen, die beschuldigt wurden, Frauen zu beschäftigen, die sich nicht an die Kleiderordnung hielten, wurden geschlossen. Es gibt regelmässig gewaltsame staatliche Übergriffe auf Frauen.
Im Dezember 2023 etwa verstarb Armita Geravand, nachdem sie von der Sittenpolizei in der U-Bahn in Teheran auf ihre gesetzeswidrige Kopfbedeckung aufmerksam gemacht worden war. Im darauffolgenden Streit mit den Polizist:innen soll die Sechzehnjährige angeblich auf den Kopf gefallen sein.
Verhaftet wegen Yogakursen
Im April kündigten die Machthaber eine Kampagne mit den Namen «Nur» (Persisch für «Licht») an mit dem Ziel, «Verstösse» gegen die rigide Hidschabpflicht künftig noch konsequenter zu verfolgen. So wurde ein Gesetz erlassen, gemäss dem die Sittenpolizei ein Auto beschlagnahmen darf, wenn darin eine unverschleierte Frau sitzt. Seitdem werden in sozialen Netzwerken immer wieder Videos veröffentlicht, auf denen zu sehen ist, wie Frauen von Sittenwächter:innen aus Autos gezerrt werden. Künftig sollen noch mehr Kameras zur Überwachung der Frauen aufgestellt und neue Gesichtserkennungssoftware eingesetzt werden. Als «Krieg gegen die Frauen» bezeichnet Amnesty International das Vorgehen des Regimes.
Doch bislang ist es den Machthabern nicht gelungen, die Proteste ganz zum Verschwinden zu bringen. Weiterhin rebellieren im ganzen Land Frauen gegen die Kleiderordnung und zeigen sich in der Öffentlichkeit mit unbedecktem Haar. Oder sie trauen sich, ihre Bedürfnisse zu erfüllen – auch wenn diese dem Regime missfallen. So wurden in der Millionenstadt Isfahan Mitte August zehn Frauen angeklagt, weil sie etwa Yoga oder Musikkurse anboten, was als unislamisch gilt. Im ganzen Land finden weiterhin – wenn auch kleinere – Demonstrationen statt. Trotz des strengen Verbots.
Seit Anfang August fordert zudem in einigen Provinzen das Gesundheitspersonal bessere Arbeitsbedingungen und die regelmässige Auszahlung der Löhne. Die Demonstrantinnen skandieren Slogans wie «Unsere Geduld ist am Ende» oder «Von Schiras nach Maschhad: Streik, Streik!». Zu hören ist das auf einem Video, das in sozialen Netzwerken kursiert. Auch bei diesen Demonstrationen kam es letzte Woche zu Verhaftungen; eine Krankenschwester soll nach ihrer Festnahme in Maschhad im Nordosten des Landes misshandelt worden sein. Seitdem liegt sie im Koma.
Im vergangenen Jahr liess das Regime laut Amnesty International mindestens 834 Menschen durch Erhängen hinrichten. 2022 waren es mindestens 576 Personen, 2021 zählte Amnesty 314 Hinrichtungen. Getötet werden die Menschen nicht nur wegen Verbrechen wie Mord oder Drogendelikten, sondern auch aus politischen Gründen; viele wegen der Beteiligung an den «Frau, Leben, Freiheit»-Protesten.
Und was macht der neue Präsident Massud Peseschkian, der nach seiner Wahl am 5. Juli in westlichen Medien fälschlicherweise als «Reformer» bezeichnet wurde? Schon vor seiner Wahl hat er seine Kooperation mit dem ultrakonservativen Religionsführer Ali Chamenei betont, der bei allen politischen und religiösen Fragen das letzte Wort hat. Als Peseschkian im August sein neues Kabinett vorstellte, versicherte er, er habe vor dessen Zusammenstellung die Unterstützung des Obersten Führers eingeholt. Lediglich eine einzige Frau gehört seiner Regierung an; Sunniten oder Vertreter ethnischer Minderheiten fehlen; das Durchschnittsalter beträgt sechzig Jahre. Dabei hatte Peseschkian zuvor versprochen, dass mehr als die Hälfte seiner Minister:innen unter fünfzig Jahre alt sein würden. Auch aus diesem Grund trat nach nur elf Tagen Peseschkians Vizepräsident Muhammad Dschawad Sarif zurück. Der frühere Aussenminister gilt als moderat-konservativ, als Architekt des Atomdeals, dessen Wiederbelebung sich das Regime wünscht, damit die Sanktionen westlicher Staaten gegen den Iran gelockert werden.
Peseschkian ist ein Komplize
Die Hinrichtungen und Verurteilungen gehen unter Peseschkian weiter. Allein im Juli, dem Monat seines Amtsantritts, hat das Regime mindestens 87 Menschen exekutieren lassen. Vergangene Woche wurde eine Frau zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt, weil sie die «Frau, Freiheit, Leben»-Proteste in sozialen Netzwerken unterstützt hatte. Wie zu erwarten, kommt von Peseschkian keinerlei Kritik an all diesen Verbrechen des Regimes.
Auch zum Fall Arezu Badri schweigt der Präsident. Im kurzen Wahlkampf hatte er den Kopftuchzwang und die «Nur»-Kampagne noch zaghaft kritisiert und in Aussicht gestellt, die Patrouillen der Sittenpolizei gegen Frauen zu stoppen. «Wir sind gegen jede gewalttätige Behandlung unserer Schwestern und Töchter und werden nicht zulassen, dass so etwas geschieht», erklärte er. All das ist wenige Wochen später wieder vergessen.
«Sein beschämendes Schweigen macht Peseschkian zum Komplizen derjenigen, die auf eine unbewaffnete Frau geschossen haben», schreibt die iranische Aktivistin Masih Alinedschad auf X. Und: «Solange dieses Regime an der Macht bleibt, werden weiterhin Frauen misshandelt und getötet.» Auch aus diesem Grund haben vor allem Frauen unter dem Hashtag #WhereIsArezoo eine Kampagne gestartet, in der sie eine internationale Untersuchung des Falls Badri fordern.