Sachbuch: Wahnvorstellungen und Realkonflikte
Ein Buch zur rechten Zeit: In einem breit angelegten Sammelband des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung diskutieren über zwanzig Autor:innen Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft.
Der Buchtitel «Was ist Antisemitismus?» könnte die Erwartung wecken, hier werde eine widerspruchsfreie, allgemein anwendbare Definition geliefert. Zur Präzisierung haben die Herausgeber:innen eine Unterzeile hinzugefügt: «Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft». Der Plural macht den Unterschied. Gerade in den vergangenen Jahren haben Versuche, Antisemitismus verbindlich zu beschreiben, stets Kontroversen ausgelöst.
Das gilt etwa für die 2016 von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) veröffentlichte Definition, die – zumindest in Europa – am meisten Verbreitung fand: «Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann.» Diese IHRA-Formulierung wurde als zu vage kritisiert, aber auch, weil die hinzugefügten Beispiele alle den israelbezogenen Antisemitismus betreffen. Die 2021 von 200 Wissenschaftler:innen unterschriebene Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA) erscheint zwar etwas weniger beliebig, setzte sich aber ebenfalls nicht durch: «Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).»
Narzisstische Wünsche
Im neuen Sammelband des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung wird der Streit um die konkurrierenden Definitionen zwar dargestellt, auf eine Parteinahme aber verzichtet. Statt griffiger Formeln liefern die Autor:innen ein Handbuch mit klarer Struktur. Auf die Einleitung folgen drei Kapitel über Grundbegriffe, Problemfelder und Positionen. Abgeschlossen wird der Band mit einem längeren Text: Peter Ullrich, einer der sieben Herausgeber:innen, erörtert «Probleme der Begriffsbildung und Definition von Antisemitismus».
Alle anderen Texte umfassen jeweils nur wenige Seiten. Diese Konzentration auf das Wesentliche gelingt fast durchgehend. So erklärt Klaus Holz nachvollziehbar den sekundären Antisemitismus, die Judenfeindschaft nach dem Holocaust. Deren zentrales Motiv sei die Abwehr von Schuld, geboren aus dem «narzisstischen Wunsch, einem guten Kollektiv anzugehören» – trotz Auschwitz. Antisemit:innen (die keine mehr sein wollen) banalisieren das präzedenzlose Menschheitsverbrechen und beschuldigen «die Juden», ihre Leidensgeschichte zu instrumentalisieren. Diese klassische Täter-Opfer-Umkehr kennzeichnet oft auch den Verweis auf das israelische Besatzungsregime oder die angeblichen Machenschaften geheimer Mächte zulasten souveräner Völker. Dafür reichen häufig Andeutungen. So wird aus der «Judenpresse» der Nazis die «Lügenpresse» der AfD oder aus dem «Weltjudentum» der «Zionismus».
Der israelisch-palästinensische Konflikt wird dabei nicht zur Ursache, sondern zur Projektionsfläche von Antisemitismus. Zugleich aber handelt es sich um einen «Realkonflikt», wie Peter Lintl und Peter Ullrich hervorheben: «Antizionismus oder Israelfeindschaft kann, aber muss nicht zwingend antisemitisch sein.» Bei der Beurteilung konkreter Fälle gehen die Meinungen allerdings weit auseinander, nicht nur in der politischen Debatte, sondern auch in der Wissenschaft.
Das «Gerücht über die Juden»
Das gilt ebenso für den «postkolonialen Antisemitismus», einen Begriff, den Jan Weyand in seinem Beitrag durchgehend in Anführungszeichen setzt. In der «polemisch geführten Debatte» 2022 um die Documenta 15 und zuvor schon um den kamerunischen Philosophen Achille Mbembe, die BDS-Bewegung und kontroverse Antisemitismusdefinitionen gehe es im Kern um drei Fragen: die Singularität der Shoah, das Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus, die israelische Politik gegenüber den Palästinenser:innen. Divergierende Antworten auf diese Fragen hätten auch mit grundverschiedenen historischen Erfahrungen zu tun, schreibt Weyand. Sein Fazit: «Die Rede von einem ‹postkolonialen Antisemitismus› ist in dieser Pauschalität also sicher falsch. Treffender liesse sich von einer typischen postkolonialen Verkennung von Antisemitismus sprechen.»
Dass aus dieser Verkennung, besonders in Deutschland, regelmässig Skandale werden, trägt nicht zur Klärung bei. Bekenntniszwang ist mit Wissenschaft unvereinbar. Wie die Auseinandersetzung geführt werden kann, wenn nicht Abgrenzungsbedürfnis, sondern Erkenntnisinteresse im Vordergrund steht, zeigen die Texte im Kapitel «Positionen». Dort werden die Arbeiten von vierzehn Theoretiker:innen kritisch gewürdigt, darunter Klassiker:innen wie Hannah Arendt, Horkheimer/Adorno und Jean-Paul Sartre. Als eine der Ersten erkannte Arendt, dass die antisemitische Ideologie seit dem Zeitalter des Imperialismus «verquickt [sei] mit Problemen, die so gut wie keinen Bezug mehr zu den Realitäten der modernen jüdischen Geschichte haben». Auf Max Horkheimer und Theodor Adorno gehen Einsichten über den postnazistischen Antisemitismus zurück. Adorno prägte zudem die Formel vom Antisemitismus als «Gerücht über die Juden», und von Sartre stammt der viel zitierte Satz: «Wenn es keinen Juden gäbe, der Antisemit würde ihn erfinden.»
Die Autor:innen dieser kurzen Einführungen idealisieren nicht, heben aber den Erkenntnisgewinn hervor, der den vorgestellten Denker:innen zu verdanken ist. Auf ihre Anstösse bauten spätere Arbeiten auf, etwa die von Klaus Holz über «nationalen Antisemitismus»: Das antisemitische Feindbild verweise meist auf das positive Selbstbild der eigenen nationalen Wir-Gruppe.
Das Problem der Definitionen
Am Ende des Kapitels skizziert Stefanie Schüler-Springorum, Leiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung, Überlegungen des Historikers Jonathan Judaken, der die Unzulänglichkeit bisheriger Antisemitismusdefinitionen kritisiert. Diese seien politisch instrumentalisierbar und würden den Blick auf andere Formen der Ausgrenzung verstellen. Judaken schlägt zudem vor, den Begriff «Antisemitismus» durch «Judeophobie» zu ersetzen. «Judenhass als Wahnvorstellung oszilliert demnach zwischen Furcht und Faszination und sei daher im Begriff der Phobie am umfassendsten aufgehoben», umreisst Schüler-Springorum diesen Vorschlag. Sie gibt aber zu bedenken, dass damit Antisemitismus als «Alltagsreligion» nicht erfasst werde. Gemeint sind damit judenfeindliche Einstellungen, die nicht Teil einer Weltanschauung sind oder sich in Übergriffen äussern.
Es folgt auf mehr als siebzig Seiten Peter Ullrichs «zusammenführender Blick» auf die versammelten Beiträge. Eine Art «Lackmustest» für Antisemitismus könne es nicht geben, in der politischen wie der wissenschaftlichen Auseinandersetzung dürfe man aber weder in «Beliebigkeit» noch in «feindliche Konfrontation» verfallen – die «notwendige Vagheit» der Definitionen kennzeichnet auch Teile von Ullrichs Bilanz. Zugleich hält er fest, was heute als wissenschaftlicher Konsens gelten kann. Der vielleicht wichtigste: dass Antisemitismus wenig bis gar nichts mit dem Verhalten von Jüdinnen und Juden zu tun hat. Die angebliche «Judenfrage» ist immer eine «Antisemit:innenfrage».