Südkaukasus: Symbolische Tränen, illusorische Hilfe
Mit dem aserbaidschanischen Angriff auf Armenien hat der Konflikt eine neue Eskalationsstufe erreicht – ein Ausdruck der volatilen Kräfteverhältnisse zwischen den beiden regionalen Grossmächten Russland und Türkei.
US-amerikanische Flaggen schmückten zum Wochenanfang die Strassen der armenischen Hauptstadt Eriwan. Die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, die Demokratin Nancy Pelosi, war im Vorfeld des Unabhängigkeitstags, den Armenien am 21. September feiert, zu Besuch. Nie zuvor in der 31-jährigen Geschichte der Republik im Südkaukasus landete ein Flugzeug mit einer derart hochrangigen Person aus der US-Politik in Eriwan.
Die Bilder von Pelosi am Genozidmahnmal in Eriwan, wo sie ihren Tränen freien Lauf liess, gingen um die Welt. 1,5 Millionen Armenier:innen wurden in den Jahren 1915/16 im damaligen Osmanischen Reich gefoltert, ermordet oder deportiert. Es hat allerdings mehr als hundert Jahre gebraucht, bis die USA den Völkermord an den Armenier:innen anerkannten.
Russische Friedenstruppen
Der Besuch von Pelosi hatte aber noch einen weiteren, alles andere als feierlichen Hintergrund: Letzte Woche, kurz nach Mitternacht am 13. September, griffen aserbaidschanische Streitkräfte mit Artillerie, Mörsern und Drohnen die armenischen Regionen Gegharkunik, Wajoz Dsor und Sjunik an: Regionen, die zum international anerkannten Staatsgebiet der Republik Armenien gehören. Eriwan meldete bis jetzt 207 Tote und Vermisste. Die Regierung Aserbaidschans in Baku spricht von rund 75 getöteten eigenen Soldaten.
Mit ihrem Besuch demonstrierte Nancy Pelosi die Unterstützung der USA für Armenien. Sie verurteilte die «illegalen» Grenzangriffe Aserbaidschans. «Die Kämpfe wurden von den Aserbaidschanern initiiert, und das muss anerkannt werden», sagte Pelosi.
Der Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien flammt seit Jahren immer wieder auf. Doch bis jetzt ging es immer um Bergkarabach. In der Sowjetunion war Bergkarabach der Teilrepublik Aserbaidschan zugeordnet. Nach dem Zerfall des Sowjetreichs entbrannte ein Territorialkonflikt, der nunmehr seit dreissig Jahren schwelt. Am 27. September 2020 brach der fragile Status quo endgültig zusammen. Der 44-tägige Krieg endete mit der faktischen Kapitulation Armeniens. Das Land verlor nicht nur die Kontrolle über sieben an Bergkarabach grenzende aserbaidschanische Regionen, die es seit 1994 innehatte, sondern auch über Teile Bergkarabachs selbst. Seither soll eine 2000 Mann starke russische Friedenstruppe die Waffenruhe kontrollieren.
Richard Giragosian, Gründungsdirektor des Regional Studies Center in Eriwan, bewertet den Besuch von Nancy Pelosi als Politikwechsel der USA in der Region. «Dies ist nur der Anfang eines politischen Wandels. Dies deutet auf ein stärkeres Engagement des Westens – der USA und der EU – in der Region hin», sagte er gegenüber Radio Free Europe/Radio Liberty. Gleichzeitig ist der Politologe skeptisch, ob die Vereinigten Staaten wirklich bereit sind, Armenien bestimmte Sicherheitsgarantien zu geben. «Wir sollten die Illusion vermeiden, dass wir direkte militärische Hilfe aus dem Westen bekommen können», sagte Giragosian. Auch andere Analyst:innen in Armenien teilen die Meinung, dass die Lage – und vor allem die Zukunft des armenisch kontrollierten Teils von Bergkarabach – mehr von den russischen Friedenstruppen in der Region abhängig sein wird.
Vereinigung aller Turkvölker?
Mit dem letztwöchigen Angriff auf Armenien ist klar geworden, dass der autokratische aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew grössere Pläne verfolgt. Baku versucht offenbar, mit militärischen Mitteln einen Korridor durch die südlichen Regionen Armeniens in die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan zu schlagen. Diese wurde 1921 bei einer Übereinkunft zwischen Mustafa Kemal Atatürk, dem Begründer der Türkischen Republik, und den Bolschewiken in Moskau nicht Armenien, sondern Aserbaidschan zugeschlagen. Nun scheint Aserbaidschan einen direkten Zugang nach Nachitschewan schaffen zu wollen, das bis jetzt wirtschaftlich von der Türkei aus versorgt wird – über eine siebzehn Kilometer lange Grenze zur Exklave.
Viele armenische Expert:innen vermuten hinter diesen Bemühungen das Gespenst des türkischen Panturkismus, des Wunsches nach einer Vereinigung aller Turkvölker im Südkaukasus und in Zentralasien. Die Türkei solle jetzt einen direkten Zugang zu ihrem Verbündeten Aserbaidschan bekommen. Schon während des sechswöchigen Krieges zwischen Armenien und Aserbaidschan 2020 positionierte sich der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan unmissverständlich an der Seite Alijews, den er auch militärisch unterstützte.
Darüber hinaus könnte der türkische Einfluss hin zum Kaspischen Meer und zu den muslimischen, turksprachigen Ländern in Zentralasien, wo ebenfalls beständige Konflikte schwelen, ausgedehnt werden. Seit einigen Tagen sind schwere Kämpfe zwischen Kirgistan und Tadschikistan aufgeflammt, die zentralasiatischen Nachbarländer streiten seit dem Ende der Sowjetunion vor rund dreissig Jahren über den Grenzverlauf, gerade so wie Armenien und Aserbaidschan im Südkaukasus. Diese Gebiete waren bislang klare Einflusszonen Russlands, das aktuell allerdings mit dem Krieg in der Ukraine und in Syrien genug zu tun hat. Die Türkei versucht immer offensichtlicher, an die Stelle Russlands zu treten und zum wichtigen Player im Südkaukasus und in Zentralasien aufzusteigen, und derzeit kann Moskau eine Konfrontation mit Ankara nicht brauchen.