Tiraden im Theater: Guter Hass, schlechter Hass

Nr. 39 –

Im Netz gefährden schimpfende Männer die Demokratie, auf den Bühnen werden sie vergöttert. Zum neuen Stück von Rainald Goetz fragt sich nun: Ist die Wutrede als künstlerische Praxis noch zeitgemäss?

Szene aus «Baracke» von Rainald Goetz am Deutschen Thea­ter Berlin
Spass machts schon, auch wenn die These des Stücks hanebüchen ist: Szene aus «Baracke» von Rainald Goetz am Deutschen Thea­ter Berlin. Foto: Thomas Aurin

Unter Kulturprofis in Berlin kursiert seit Jahren ein Spiel: die Goetz-Sichtung. Wer hat ihn wo gesehen, auf dem Fahrrad wie früher oder im Auto jetzt, wegen der Kinder, sind es zwei oder drei?

Je weniger der 1954 geborene Schriftsteller Rainald Goetz veröffentlichte, desto mehr wurde er vermisst. Weil seine hyperklugen Texte, sein auch Albernheit aushaltendes Denken, Reden, Schreiben so vielen als Versprechen gedient hatte, dass jenseits der Spätjugend ein aufregendes, unverspiessertes Geistesleben denkbar blieb – nicht im Reformknast Universität, nicht in trotzigen Avantgardenischen, nicht in geschwächten Mainstreammedien, sondern stets dazwischen.

Rainald Goetz war der beispielhafte Intellektuelle, der alles gleichzeitig in den Ring warf: die Liebe zu den Zeitungen, in denen und über die er so leidenschaftlich schrieb; die belesene, manchmal grosssprecherische, die Debatten bestimmende (Männer-)Kultur seines Verlags Suhrkamp; die Medizin und die Psychiatrie, deren Studien der Teufelskerl neben Geschichte mit dem Doktor abschloss; das Technonachtleben selbst mit weissen Haaren noch; die Euphorie für Kunst und Medien und Luhmanns Systemtheorie und sein Hass auf so vieles, fast jeden Tag anderes. Dann schrieb er in den nuller Jahren fast nichts. In den Zehnern erhielt er vor allem Preise.

Verlorene Weltzugänge

Sein Rückzug war eine Kränkung, weil damit einigen dämmerte, dass Goetz eine Figur des vergangenen Jahrhunderts gewesen sein könnte. 1998 schrieb er noch das erste Internettagebuch, eine Mischung aus Lektürebericht und Poetik seines Schreibens. 1999 erschien der Blog als Buch: «Abfall für alle» war unwissentlich eines der letzten Bücher, die ihren Weltzugang über Fernsehschauen und Zeitunglesen erschlossen. Dann kam das Netz, und alle herkömmlichen Medien verloren an Reichweite, Geld, Bedeutung. Auch der Buchmarkt.

Mit «Abfall für alle» hatte Goetz dem Diskursbetrieb ein Denkmal gesetzt, das sich nachträglich als Grabrede herausstellte. Das erklärt die Sehnsucht im Kulturmilieu, er möge zurückkehren – und mit ihm der Geist einer untergegangenen Debattenkultur, an der eher nicht so viele teilnehmen durften. Die grösste Kränkung hat er dem neuen, zentralistischen Berlin erspart: Er ist nicht zurück nach München gezogen, wo er hörbar aufwuchs und fast 45 Jahre blieb.

Vor drei Jahren, in einem kurzen Spielfenster während Corona, wurde sein Stück «Reich des Todes» in Hamburg uraufgeführt. Im Herbst 2021 inszenierte es dann der Schweizer Regisseur Stefan Bachmann in Düsseldorf und Köln. Bei Bachmann hält eine optisch auf Goetz getrimmte Schauspielerin am Schluss einen langen Monolog. Der Text zieht da längst abenteuerliche Analogien vom Holocaust zu Abu Ghraib bis zu Netflix.

Halt doch irgendwie Kunst

Wer nicht nur niederkniete, sondern zuhörte, traute seinen Ohren nicht. Mit nur annähernd ähnlichem Geschichtsgedöns wäre die Karriere jedes Journalisten, jeder Politikerin und auch jedes anderen Künstlers vermutlich vorbei gewesen. Zu seiner Rettung konnte man anfügen: Es spricht eine Figur, zwar ohne viel Kontur, aber es ist halt doch irgendwie Kunst. Aber erstens hält sich der Autor Goetz seit jeher in seinen Texten selbst präsent, die Trennung vom Werk war da nie gross Thema. Zweitens braucht er keine Rettung. Den Heiligenschein wird er auch so nicht mehr los.

Diese religiöse Verehrung des im Auftritt ewig quirligen Musensohns zeigt schon die allererste Szene der neusten Goetz-Erscheinung: «Baracke» gehört im Deutschen Theater Berlin zum Eröffnungsreigen der neuen Intendanz von Iris Laufenberg. Nach den Verrissen zum ersten Premierenwochenende kann Laufenbergs Start einen Knaller brauchen. Aber auf der Bühne beginnt «Baracke» als Hochamt: Eine Frau sitzt an einem Tisch und rezitiert sämtliche Titel der von Goetz je erschienenen Bücher (das steht so nicht im Stück, Gott sei Dank). Wir könnten jetzt ebenso gut mit herausgestreckter Zunge nach vorne zur Bühne gehen, an jedem Buchdeckel lecken wie an einer Hostie und nach dieser Kommunion nach Hause gehen.

Aber dann stellt auch Goetz’ neuer Text eine hanebüchene These ins Zentrum, die eine fantasiefreudige Truppe auf die Bühne wuchtet, als wäre das ein beliebiges Stück (Regie führt die Schweizerin Claudia Bossard). Die These: Die Kleinfamilie, ja schlechterdings die bürgerliche Familie sei die Keimzelle des Terrors. Und zwar ausdrücklich des rechten Terrors des Nationalsozialistischen Untergrunds etwa, dessen Haupttrio vor zehn Jahren aufgeflogen war, nach zehn Morden und 43 Mordversuchen.

Dass Goetz lustig flirrende Textpartikel zwischen Theorie und Tanzfläche produziert, wenn er über das Kippen von Liebe in Hass, auch von Kinderliebe in Kinderfrust berichtet, macht für sich genommen Spass. Seltsam aber, wie ein so kluger Autor eine so unkonkrete, völlig veraltete linksradikale These wiederholen kann, die Institution der Familie sei schuld auch am rechten Terror. Scheissfamilie, Scheisskinder, Scheissbürgertum. Wäre ein bisschen mehr geliebt worden im Hause Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt, hätte es keinen NSU gegeben?

Schlechte Laune hat Konjunktur

Es gibt im Theater seit bald sechzig Jahren eine Kultur des Rants, der Wutrede und der Beschimpfung. Die Grossen dieser Gattung kommen alle aus dem Suhrkamp-Stall: Peter Handke, Thomas Bernhard und Rainald Goetz. Bernhards schlechte Laune hat wieder Konjunktur auf den Bühnen, einige Stücke und dramatisierte Romane wie «Auslöschung» kehren in vielbeachteten Arbeiten ganz oder als Ausschnitte wieder.

Peter Handke, der 1966 mit der «Publikumsbeschimpfung» seinen Ruhm begründete, ergeht es anders im Theaterbetrieb – aus politischen Gründen, seit er sich in den Jugoslawienkriegen für Serbien starkmachte. Dabei wurde übersehen, wie Handke oft (selbst)ironisch mit seinem Welthadern in den Texten umging, etwa in «Untertagblues» vor zwanzig Jahren, dem heftigen Rant eines alten Mannes in einer U-Bahn.

Die Suhrkamp-Kultur der Grantler hat historisch aber einen anderen Hintergrund. Es waren kritische, virtuose Stimmen, die in die Nachkriegszeit hineinriefen, in die laute Stille der wirtschaftlich so schnell genesenen Gesellschaften hinein, die das Erinnern an den Holocaust öffentlich ritualisierten und sich so privat vom Leib hielten. Der poetische Punch von Bernhard, Handke und auch von Goetz wurde als Notwendigkeit gesehen, dem Spiesserfrieden seine zugrunde liegende Gewalt zu zeigen. Nach rund zwanzig Jahren Internet für alle haben sich die Verhältnisse aber gedreht: Wut wird als Gefährdung der Demokratie verstanden, Wut flutet das Netz mit Scheisse und gibt in der Regel rechten Parteien Auftrieb.

Die Künste reagieren auf den digitalen Hass, indem sie mehrheitlich den Weg der radikalen Softness einschlagen. In der bildenden Kunst geht es viel um die Verflüssigung zwischen Natur und Mensch, Pilz und Tier, Maschine und Urwald und allem zwischendrin. Selbst von Popbühnen herab stoppen Stars wie Billie Eilish die Show, wenn jemand umfällt, oder kuscheln mit den ersten Reihen wie Nick Cave. Und der Theaterbetrieb reicht vielen bislang Marginalisierten eine samtene Hand und bittet zur Repräsentation. Doch der Rant ist deswegen nicht von den Bühnen verschwunden. Vernünftige Kulturkonsument:innen verurteilen ihn im Netz, doch im Theater kann man die Wutrede vereinzelt noch hemmungslos geniessen.

Als Ventil ist das womöglich sinnvoll, doch zur Bekämpfung der antidemokratischen Kräfte ist es sinnlos, den Hass an die Kunst zu delegieren. Kein Mensch weniger wird ermordet, wenn wir die Terrorkeimzelle Familie zerschlagen und stattdessen allein in Zwei- oder Dreizimmerwohnungen leben. Aber vielleicht folgt bald ein Stück über Alleinstehende, die für den Rechtsruck verantwortlich gemacht werden könnten.