Essay: Gegen die Tyrannei des einen Rings

Nr. 21 –

Warum gibt es im Theater nicht so viele eskalierende Nahostdiskussionen wie in der Musikszene oder in der Kunst? Ein Rundblick auf und neben die Bühnen in Berlin, Wien und Zürich.

Bühnenfoto des Theaterstück «Bucket List» von Yael Ronen und Shlomi Shaban
Der radikalste Beitrag zur Debatte über Israel und Gaza: «Bucket List» von Yael Ronen und Shlomi Shaban mit dem Ensemble der Schaubühne in Berlin.   Foto: Ivan Kravtsov

Seit dem 7. Oktober stehen die Künste unter Druck wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Junge Aktivist:innen fordern zweifelsfreie Bekenntnisse für Palästina ein, ohne sich ausreichend von der Hamas zu distanzieren; ältere sogenannte Debattenführer:innen werten bereits eine Palästinaflagge als Antisemitismus. Die Kulturpolitik möchte am liebsten keine Araber:innen mehr fördern, weil sonst beschäftigungslose Bürger:innen propalästinensische Likes auf Social Media melden und sofortige Nichtbeschäftigung verlangen.

Für die Künste ist das eine Belastungsprobe, die so gross ist, dass sich viele qualifizierte Leute nicht mehr auf Leitungsposten bewerben. Egal, was man macht, man landet auf Beschwerdelisten. Vielleicht ist dieser nun offen ausgebrochene Irrsinn auch nur eine Steigerung des grassierenden Antiintellektualismus, weil die Lage endlich ganz vom Nachdenken befreit. So besteht die Gefahr, dass selbst in der Kultur nun Ressentiments und Reflexe für eine mittlere Karriere genügen.

Doch gibt es eine überraschende Ausnahme: das Theater, das Schauspiel, die subventionierten Sprechbühnen. Da ist es vergleichsweise ruhig geblieben. Das diesjährige Berliner Theatertreffen, traditionell das Brennglas für den deutschsprachigen Bühnenraum, zeigte zwei starke Beispiele, warum das Theater nicht nur Ort von Kulturkämpfen sein muss, sondern darüber hinaus mit Komplexität punkten kann, sogar in der heillosen Nahostdebatte.

Wo bleibt die Versöhnung?

Ein erstes gutes Beispiel gelingt Regisseur Ulrich Rasche mit dem auch nicht mehr allen bekannten, seit gut 200 Jahren aber berühmtesten Drama über Antisemitismus oder «Toleranz», wie es gemeinhin heisst. Das Theatertreffen eröffnete mit Lessings «Nathan der Weise», produziert für die Salzburger Festspiele, als einer von insgesamt zehn eingeladenen Inszenierungen. Die Premiere war also vor dem 7. Oktober. Doch alljährliche Festivals wie das Theatertreffen sind gute Gelegenheiten, in der Präsenzkunst Theater noch einmal anders auf eine Arbeit zu schauen.

Rasche wird für seinen angeblich stets ähnlichen Regiestil viel gescholten und von andern viel geliebt. Die Spieler:innen sprechen oft im Chor, sie bewegen sich stundenlang auf drehenden Scheiben und Bühnen – mal synchron zum Beat der live gespielten Musik, meistens eine Form von Minimal Music, mal dagegen. Das ist auf den ersten Blick, aufs erste Hören hin auch in diesem «Nathan» so, der aber auch zeigt, wie unergiebig solche rein formalen Beschreibungen sind.

Die von jahrhundertelangem Deutschunterricht geformte Interpretation, dieses Ideenstück von 1779 preise die aufklärerische Toleranz zwischen Juden, Christinnen und Muslim:innen, bürstet Rasche mit konkreten Mitteln gegen den Strich – nämlich mit dem Text selbst. Die Versöhnungsorgie am Schluss, als ein paar Tricks aus der Komödienkiste fast alle Figuren in ein Verwandtschaftsverhältnis setzen und die potenzielle Gewalt zwischen den Religionen scheinbar zur Ruhe kommt, kann bereits bei Lessing als zweifelhafte Illusion gelesen werden. Bei Rasche sprechen schon die Körper von der ständig lauernden Gewalt: Die Figuren schleichen auf der Drehbühne manchmal wie Raubtiere umeinander herum, die Verse klingen fast gefaucht, die Konsonanten spritzen Speichel, der gleichsam vom kommenden Blut kündet.

Zentral ist natürlich auch bei Rasche die berühmte Ringparabel, die Lessing im 12. Jahrhundert in Jerusalem spielen lässt: Nathan, der Jude, muss dem muslimischen Sultan Saladin die trickreiche Aufgabe beantworten, welche der drei Religionen nun die wahre sei. Es ist ein rhetorisches Kabinettstück, deshalb ist das Drama so berühmt. Valery Tscheplanowas Nathan sieht man zu jeder Zeit den Horror an, womöglich dennoch in eine Todesfalle zu laufen. Die skrupellose Macht des Sultans, der nur Milde kennt, wenn er (familiäre) Ähnlichkeit spürt, die Angst des Juden, die Brutalität des christlichen Patriarchen: All das steht auch im Text, wollten und wollen aber viele nicht hören. Bei Rasche kommt man nun nicht umhin, diese Töne zu vernehmen. Das verübelten ihm einige Kritiker:innen: Wo bleibt die Fabel der Versöhnung? Doch Rasches Regie ist komplexer als die Sehnsüchte mancher Teile der Öffentlichkeit, jetzt bitte klare Verhältnisse zu haben.

Bewusst verblendeter Schluss

Noch schöner und komplexer – und das schafft nur ein Festival – wurde die Sache, als einige Schauspieler:innen der Produktion in einem Publikumsgespräch widersprachen: Nein, für sie stehe die Versöhnung nach wie vor im Mittelpunkt, besonders am Schluss der knapp vier Stunden. Nach dem gefauchten Text, der dunklen, leeren Drehbühne und den durchgehend dunklen Kostümen, räumlich nur von zwei Lichttürmen dominiert und mit beleuchtetem Trockeneis zerteilt, herrscht im letzten Akt die Hoffnung: weisse Kostüme, weisses Licht. Die weite Gruft erscheint nun als Sektenparadies. Einer wird allerdings ausgeschieden, damit der Rest sich pudelwohl fühlen kann. Richtig, es ist der Jude, der bei Tscheplanowa in Rasches Regie noch einmal den zentralen Satz der Ringparabel wiederholt und von der «Tyrannei des einen Rings» sprechen muss: der irrigen Annahme, eine Religion könne die wahre sein.

Die Ringparabel setzt sich so in der Rezeption fort: Jede:r denkt, die eigene Interpretation sei richtig. Wer den Körpern zuschaut, den Stimmen zuhört, kann bei Rasche zwar nicht ernsthaft die alte Feier der Versöhnung finden. Und doch bleibt Lessings Text stehen, der auch die versöhnliche Lesart zulässt. Genial am vermutlich bewusst verblendeten Schluss im hellen Licht und Kleid ist, dass hier wirklich beides passiert: das Vorführen der Verblendung wie auch die Versöhnung. Diese Schlussszene leistet viel mehr als manche Feuilletondebatte seit dem 7. Oktober.

Lessing gehört zum rasch dünner werdenden Kanon. Auch wenn Shakespeare, die deutsche Klassik oder naturalistische Dramen von Hauptmann über Ibsen bis Tschechow noch gespielt werden, hat es das Alte schwer. Die Digitalisierung führt zu einer kulturellen Übergabe und zur – immer berechtigten – Frage, ob gewisse Autor:innen auch für die kommenden Jahrhunderte mit in den Reisekoffer müssen. Was sich in krisenhaften Diskurslagen wie der zu Nahost aber nun als Vorteil erweist: Alte Texte sperren sich bei klugen Regisseur:innen gegen eindeutige Bearbeitungen, Lesarten, Vereinfachungen. Texte sind tot, man kann alles mit ihnen machen. Aber wer nicht mit ihnen in den Dialog tritt, langweilt.

Selbst die geografische Beschränktheit des Theaters erweist sich nun als überraschend gute Voraussetzung für eine diskursive Öffnung. Weil der Radius der Debatte überschaubar bleibt, besteht auch weniger Druck, mit anderswo geführten Debatten gleichzuziehen. Vor allem taugt Theater in sozialen Medien nicht zum Kleinholz, mit dem man ohne Kenntnis ein Feuer entfachen kann. Oder genauer: Man kann schon, aber die Hitze kühlt rasch ab. Theater verlangt mühsame körperliche Präsenz. Man muss raus aus der eigenen Wohnung, rein in die Bühnenhäuser und dort das grosse Holz hacken. Deutschkenntnisse sind von Vorteil, auch wenn es mittlerweile oft englische Übertitel gibt. Und meist braucht man Ausdauer.

Die ausgelöschte Geschichte

Anschliessend passen die verwirrenden Eindrücke nicht so gut auf ein kleines Plakat (wie sähe so etwas aus: «Hamlet now!» oder «Dänemarkhasser, go home!»?). Viele junge Akti­vist:innen und ältere Debattenführer:innen in den Feuilletons eint ja, dass sie weder zur ruhigen Auseinandersetzung noch zu einem Mindestmass an Geduld in der Lage sind. Theater ist aber zwangsläufig «slow thinking» und «local talking». Deswegen kann man im Theater sogar Rederunden zu Gaza veranstalten, ohne dass die Veranstaltungen sofort gestört werden; vermutlich auch deshalb, weil viele Aktivist:innen die Theater schlicht nicht auf dem Schirm haben.

Seit fünfzehn Jahren eine Ausnahme von vielem ist die israelische Regisseurin Yael Ronen: Sie ist international, sie interessiert sich kein bisschen für den deutschen Kanon, ihre Arbeiten wollen unterhalten. Und mit «Bucket List» hat sie zusammen mit dem Musiker Shlomi Shaban den radikalsten Beitrag zur Eskalation in Israel und Gaza geschaffen. Die Radikalität besteht darin, dass ihr Abend mit dem Ensemble der Schaubühne in Berlin jeden direkten Kommentar vermeidet und vielleicht gerade deshalb viel über die Debatte zu sagen vermag. Uraufführung war Mitte Dezember, sehr nahe am 7. Oktober also. Aber die Brillanz dieses Abends zeigt sich auch ein halbes Jahr später noch: ­«Bucket List» wurde ebenfalls ans Theatertreffen in Berlin eingeladen.

Die Inszenierung benutzt zwei Kniffe, um aus dem Griff der Meinungsfixierung rauszukommen. Erstens wird fast nur gesungen, kaum geredet; es ist ein Musical. Zweitens hilft ein Mittel der Science-Fiction: Die Rahmengeschichte erzählt von einer Firma, die zur Therapie von posttraumatischen Belastungsstörungen Gedächtnisverlust anbietet; ein bisschen wie im Blockbuster «Total Recall» mit Arnold Schwarzenegger nach einer Kurzgeschichte von Philip K. Dick. Bei Ronen und Shaban wacht ein Mann an einem Samstag, wie der 7. Oktober einer war, auf und kann sich an nichts mehr erinnern. Die Geschichte ist ausgelöscht.

Eins der Probleme der frei drehenden Debatten war und ist ja noch immer: Jede Erinnerung an die Geschichte des Nahostkonflikts wird von manchen bereits als unzulässige «Kontextualisierung» abgewertet. Noch schräger: Der Verweis auf «Kontexte» und «Geschichte» genügt oft, um den Verdacht der Relativierung in den Raum zu stellen und um Leute zu diffamieren. Ronen und Shaban erzählen die allegorische Fabel ihres Stücks als Paartherapie. Einer solchen ist genauso wenig geholfen wie dem politischen Konflikt, wenn die Erinnerung fehlt. Im Gegenteil: Die Verdächtigungen nehmen zwischen dem Bühnenpaar stetig zu.

Mit viel Fantasie kann man «Bucket List» auch als makabre Romantic Comedy sehen: Alles flutscht, die vier Darsteller:innen und die dreiköpfige Band singen und spielen so präzise, dass das Handwerk zwischen Broadway-Anleihen und etwas Bombast, mitunter der Rockgruppe Queen nachempfunden, das Publikum auch so mitreisst. Aber schon nach fünf Minuten gibt es einen kleinen, witzigen Hinweis, dass Ronen in diesem Musical auch ihr Unverständnis über die aktuelle Situation ausdrückt, besonders die deutsche.

Als der englisch sprechende Mann von seiner gelöschten Erinnerung erzählt und Worte für ebendiese Sprachlosigkeit finden will, fällt ihm dauernd ein Deutscher ins Wort. Und bei jeder Unterbrechung dreht sich der Mann ohne Gedächtnis (Damian Rebgetz) langsam und ernsthaft verblüfft um. Nicht anders erging es in Deutschland linken Jüd:innen, als ihnen deutsche Feuilletonist:innen unablässig Israel erklärten. Diese absurde Diskurslage führte dazu, dass viele israelische Kulturschaffende (von palästinensischen ganz zu schweigen) in Deutschland schlicht gar nichts mehr sagten. Auch Yael Ronen verzichtet auf Publikumsgespräche beim Theatertreffen. Und im letzten Jahr lehnte sie mehrere Interviewanfragen ab, immer mit der freundlichen Begründung, das Stück sei ihr Beitrag, für den Moment müsse das reichen.

Operettenstaat Österreich

An den Rändern des Theaterbetriebs gibt es aber durchaus ein paar Erschütterungen. Zum Beispiel in Wien, Zentrum einer Republik, die sich politisch regelmässig als Operettenstaat auf‌führt. Zu dieser Theaterhaftigkeit Österreichs gehören nicht nur koksende Politiker, die sich in Hinterzimmern wie halbwüchsige Gangsterbosse benehmen, sondern auch der hohe Stellenwert seiner Theaterhäuser. In Wien bieten das Burgtheater, das Volkstheater und die Wiener Festwochen sogar Skandalstoff für Boulevardmedien.

Nur so ist es zu erklären, dass die Rede des wohl differenziertesten Nahostintellektuellen, des deutsch-israelischen Philosophen Omri Boehm (siehe WOZ Nr. 20/24), noch vor der Eröffnung der Wiener Festwochen die österreichische Öffentlichkeit durchdrehen liess. Weil Boehm schon einmal die Nakba, die palästinensische Vertreibung, als Trauma bezeichnet hatte, waren sich alte wie junge jüdische Interessenverbände nicht zu schade, den Juden Boehm einen Antisemiten zu schimpfen. Am meisten erstaunt war da wohl der neue Festwochen-Intendant Milo Rau. Wenn einer nicht die Gemüter provoziere, sei es wohl Boehm, hatte Rau gesagt – und hatte gerade deswegen den Philosophen ursprünglich gar nicht einladen wollen.

Jede:r sieht etwas anderes

In Zürich wiederum wird seit einem halben Jahr rund um das Theater Neumarkt diskutiert, wie sinnvoll es sei, dass die Theaterleitung es bewusst vermieden habe, einen israelischen Schauspieler im gleichen Stück wie eine Libanesin zu besetzen, weil deren Heimatstaat es ihr verbiete, auf derselben Bühne wie ein Israeli zu stehen, und die Familien der in solchen Fällen Beteiligten im Libanon deswegen tatsächlich bedrängt werden können. Leider hat die vom Verwaltungsrat des Theaters in Auftrag gegebene Untersuchung nur wenig zur Klärung des Falls beigetragen. Man dachte womöglich, man könne das aussitzen. Aber das Dilemma bleibt auch so: Familienangehörige gefährden oder die Produktionen trennen?

Die Beispiele in Wien und in Zürich irritieren auch deshalb, weil die öffentliche Debatte nur den Ton der maximalen Erregung kennt: Wer beschimpft als Erstes einen jüdischen Menschen als antisemitisch? Wer äussert zuerst den populistischen Verdacht, ob in unseren Theatern schon die Scharia herrsche? Widersprüche und Zwischentöne sind da bloss noch Störgeräusche. Aber: Es sind beides ausserkünstlerische Beispiele. Auf der Bühne geht es viel klüger zu, zumindest auf manchen Bühnen.

In «Bucket List» von Yael Ronen fallen weisse Kleider vom Bühnenhimmel, auch solche von Kindern. Jede:r sieht das etwas anders. Eine Kollegin erkennt da zweifelsfrei den Hinweis auf die von der Hamas ermordeten israelischen Kinder. Andere denken an die zerstörten Krankenhäuser in Gaza. Dass der Abend beide Lesarten zulässt, ist bestimmt Absicht. Diese Ambivalenz fiele nicht derart auf, wenn die Debatte weniger Angst vor Geschichte hätte. Das Theater ist auch mehr als 200 Jahre nach Lessing ein guter Ort, die Tyrannei des einen wahren Rings zurückzuweisen.