Argentinien: Die Stunde der Ultrarechten

Nr. 40 –

Vor wenigen Monaten noch galt er als chancenlos. Nun aber scheint mit Javier Milei ein rechtskonservativer Anarchokapitalist beste Aussichten zu haben, am 22. Oktober argentinischer Präsident zu werden.

Ein «Männerministerium» einführen; den freien Verkauf menschlicher Organe fördern (jedoch den freien Entscheid zu einer Abtreibung ablehnen); Papst Franziskus als «kommunistische» Gefahr bezeichnen – und eine Motorsäge als Symbol der politischen Kampagne präsentieren, die mit jeglicher Opposition «aufräumen» soll: Diese Bilder, die aus einer dystopischen Fiktion stammen könnten, sind nur einige Beispiele für die Mittel, mit denen Javier Milei, Präsidentschaftskandidat von La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran), bei den Vorwahlen in Argentinien über dreissig Prozent der Stimmen gewann.

Vor dem Hintergrund einer Jahresinflation von über 120 Prozent und einer anhaltenden wirtschaftlichen Stagnation präsentiert sich der «Anarchokapitalist» – wie er sich selbst bezeichnet – als Alternative zu den beiden Koalitionen, die im letzten Jahrzehnt regierten: der Mitte-Links-Koalition peronistischer Tradition und der liberalkonservativen Koalition Juntos por el Cambio (Gemeinsam für den Wandel).

Dass beide keine Lösungen boten, begünstigte die Entstehung von La Libertad Avanza. Milei, der sich mit dem biblischen Moses vergleicht, verspricht, die «Wirtschaft zu dollarisieren» – also den argentinischen Peso als Landeswährung abzuschaffen – und die Zentralbank zu «sprengen». Obwohl die Elite des Landes sowie internationale Finanzorganisationen wie der Internationale Währungsfonds (IWF) nichts davon halten, hat Milei gute Chancen, bei den Wahlen am 22. Oktober Präsident zu werden.

Schimpfen auf die «Politikerkaste»

Als Milei diesen August bei den Vorwahlen den Sieg davontrug, waren seine Gegner:innen ebenso verblüfft wie Analystinnen und Journalisten – zumal er sein erstes politisches Amt als Parlamentsabgeordneter erst seit 2021 innehat. Mileis überraschender Aufstieg ist auch die Folge einer Repräsentationskrise, die wiederum Ergebnis der chronischen Inflation ist. Der Krieg gegen die Ukraine und die starken Dürren waren weitere Faktoren, die den argentinischen Peso schwächten und die Inflation derart hochtrieben. Gleichzeitig führte die neuerliche Verschuldung beim IWF dazu, dass weniger öffentliche Mittel zur Verfügung stehen, was sich in einer immer knausrigeren und kurzsichtigeren Sozialpolitik niederschlägt. Im Zuge des Mangels an Lösungen vonseiten der traditionellen Parteien entstand eine dritte Alternative – noch weiter rechts als die Juntos por el Cambio.

Aus der wirtschaftlichen und politischen Krise von 2001 als Produkt des vorangegangenen neoliberalen Jahrzehnts zog die argentinische Gesellschaft die Lehre, dass der Wohlfahrtsstaat nicht verhandelbar ist. Die Wähler:innen von La Libertad Avanza, mehrheitlich Junge, die die neoliberale Zeit nicht erleben mussten, scheinen diese Wahrheit nicht zu akzeptieren. Wie Milei bei seinen täglichen Medienauftritten wiederholt, bedrohe der Staat mit Steuern und der Regulierung der Wirtschaft die individuelle Freiheit. Insbesondere die dauerhafte Kontrolle des Dollar-Peso-Wechselkurses gibt ihm Anlass zu seinen Fantasien von radikaler Freiheit. Das Credo Mileis, der Wirtschaft studierte und als Berater im Privatsektor tätig war, lautet nun nicht, die Devisenbewirtschaftung zu «befreien», sondern den Peso direkt durch den US-Dollar zu ersetzen.

Ein weiteres Mantra, das Milei stetig wiederholt, ist das von der «Politikerkaste». Diese Idee kommt in Argentinien besonders bei jenen an, die einen Staat sehen, der Steuern einzieht, aber keine Sozialleistungen bietet – Kleinunternehmer:innen und Selbstständige etwa, auch aus dem wachsenden Sektor der informellen Wirtschaft. Der Logik des individualistischen unternehmerischen Subjekts folgend, verspricht ihnen Milei eine deregulierte Wirtschaft, in der alle ihr jeweils eigenes Schicksal gestalten.

Im gleichen Sinn verteufelt er den Staat, indem er gerne den weitreichenden Lockdown in Argentinien während der Covid-19-Pandemie heranzieht, um seine libertären Theorien zu legitimieren. Lange bevor Milei Präsidentschaftskandidat wurde, war er immer wieder in den Medien, um Argentiniens Regierung als «kommunistisch» anzuprangern. In den Augen eines «Anarchokapitalisten» wie Milei unterdrückt der Staat die Freiheiten, anstatt sie zu gewährleisten, und die «Politikerkaste» ist für das Debakel verantwortlich.

Zu sagen, Milei sei der argentinische Donald Trump oder Jair Bolsonaro, erklärt seinen Aufstieg nur zum Teil. Das Phänomen Milei, das international mit europäischen und US-Neofaschist:innen in Verbindung gebracht wird, vereint lokale und globale Tendenzen, die nicht nur eine Reaktion auf eine anhaltende wirtschaftliche Misere sind. Sie sind auch Ausdruck einer Revanche für Errungenschaften Argentiniens in den Bereichen Gender, Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit. Auf die politische Korrektheit eines Wohlfahrts- und inklusiven Staates reagiert Milei mit einer radikalen Unkorrektheit, die fasziniert, statt Angst zu machen. Und diese Faszination muss als Hoffnung auf einen Wandel gelesen werden, auf die keine der traditionellen Parteikoalitionen eine Antwort fand.

Milei repräsentiert zudem eine Art von Männlichkeit, die sich wegen der erzielten Fortschritte der feministischen «Ni una menos»-Bewegung in Argentinien ausgeschlossen fühlt, deren grösster Sieg die Abtreibungslegalisierung vom Dezember 2021 war. Sein petromaskuliner Charakter spielte im öffentlichen Diskurs eine grosse Rolle, weshalb seine Partei alle Anstrengungen darauf richtet, Stimmen von Frauen zu holen, von denen sie in den Vorwahlen nur wenige gewinnen konnte.

In dieselbe Richtung geht ein weiterer Aspekt des Aufstiegs von La Libertad Avanza, nämlich die an Bedeutung gewinnende Vizepräsidentschaftskandidatin Victoria Villarruel. Dieses Jahr feiert Argentinien vierzig Jahre Demokratie. Die Wiedergutmachungs- und Erinnerungsarbeit, die 1983 begonnen hat und ab 2003 unter Néstor Kirchner und Cristina Fernández fortgesetzt wurde, war ein Meilenstein für die argentinische Gesellschaft. Dank dieser Arbeit, bei der Menschenrechtsbewegungen, insbesondere die Abuelas de Plaza de Mayo (Grossmütter der Plaza de Mayo), führend waren, konnten bis heute 133 Enkel:innen ihre Identität wiedererlangen, nachdem ihre Eltern verschwunden waren und man sie zur Zwangsadoption freigegeben hatte.

Villarruel, die seit 2021 im Parlament sitzt, zielt genau in die entgegengesetzte Richtung: Während ihrer politischen Laufbahn besuchte sie Militärs im Gefängnis, die wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt worden waren, unter ihnen auch den Diktator Rafael Videla. Vor wenigen Wochen organisierte sie eine Gedenkfeier für die «Opfer» der «Guerilla». Damit lässt Villarruel einen Diskurs aufleben, der in Argentinien überwunden schien: die Leugnung der Verbrechen, die während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 begangen wurden.

Neoliberalismus 2.0

Die Ideologie von La Libertad Avanza reiht sich in antistaatliche Tendenzen eines Neoliberalismus 2.0 ein. Die virtuellen Plattformen, auf denen Milei sein Aufstieg gelang, in Verbindung mit Ideen von individuellem Unternehmertum und globalen Kryptowährungen, sind nur einige Elemente der ultrarechten Welle in Argentinien. Seine Identifikation mit dem «Anarchokapitalismus» im Kontext prekärer Arbeitsverhältnisse, wirtschaftlicher Stagnation und konstanter Inflation widerspiegelt die Widersprüche eines individualistischen Libertarismus lateinamerikanischer Prägung.

Wie bereits vor Jahrzehnten in dieser Region würde eine neue neoliberale Welle kaum die soziale Gleichheit fördern, sondern zu mehr Ungleichheit, sozialen Konflikten und politischer Instabilität führen. Die konservative Elite des Landes und die internationalen Finanzorganisationen wissen das. Daher fürchten sie, dass Milei, der sich durch verbale Brutalität und Reizbarkeit auszeichnet, zu Gewalt greifen wird, wenn angesichts gegen das Volk gerichteter Massnahmen Proteste ausbrechen sollten – und dass Argentinien in eine neue politische Krise wie 2001 gerät.

«Die Welt ist eine Schweinerei, das war so und wird so sein, 506 wie 2000», heisst es im berühmten Tangolied «Cambalache», das vom Niedergang im 20. Jahrhundert handelt. Wir werden die Präsidentschaftswahlen vom 22. Oktober abwarten müssen, um zu sehen, ob La Libertad Avanza wieder dasselbe Lied zum 21. Jahrhundert in Argentinien spielt.

Der Argentinier Tomás Bartoletti arbeitet als Historiker an der ETH Zürich. Aus dem Spanischen von Iris Leutert.