Kost und Logis: Alle in dieselbe Richtung
Bettina Dyttrich sammelt Höhenmeter

Ich war nie auf dem Jakobsweg. Es gibt so viele schöne Wege auf der Welt, warum müssen sich alle auf der gleichen Route zusammendrängen? Als ich Mitte zwanzig allein ans Mittelmeer wanderte, suchte ich mir den Weg selbst, hin und her zwischen Italien und Frankreich. Ich war froh, als es vorbei war. Die Einsamkeit war brutaler als erwartet. Nicht tagsüber auf den Wegen, aber abends in den Unterkünften. Am schlimmsten in französischen Berghütten, allein unter Wandergruppen. Neugierige Blicke, blöde Fragen: «Haben Sie keine Angst, so allein als Frau?» Doch, vor euren Fragen!
Zwei- oder dreimal gab es doch unerwartet schöne Abende mit Mitwandernden. Die ich aber nie wiedersah: Niemand ging meine Route. Danach plante ich allein nur noch kurze Touren, zwei, drei Tage. Längere nur, wenn Freund:innen Zeit hatten. Zu selten.
Jetzt versuchte ich es doch wieder einmal allein. Auf der Grande Traversata delle Alpi (GTA), dem Weitwanderweg, der durch die ganzen piemontesischen Alpen bis ans Meer führt. Die GTA gilt als Vorbild des ökologischen Alpentourismus. Sie nutzt die alten Wege der Bergbäuer:innen: vom Dorf aufs Maiensäss, weiter auf die Alp und über den Pass ins nächste Dorf. Also das Gegenteil einer «alta via». Also sehr viele Höhenmeter. Die Idee ist, dass die Wandernden in den Dörfern übernachten und einkehren, damit auch die Einheimischen etwas davon haben – in Regionen, in denen es null Massentourismus gibt. Natürlich lösen zehn GTA-Gänger:innen pro Tag keinen Wirtschaftsboom aus. Aber sie helfen, Strukturen zu erhalten, gerade ausserhalb der in Italien sehr kurzen Hochsaison. Mal schläft man im Stockbett in einem ehemaligen Schulzimmer, mal in einer Alphütte mit einem neugierigen Pferd vor der Tür, mal in einer Pension.
In Rimella zum Beispiel, in einem Seitental des unendlich verzweigten Val Sesia. Da scheint das Albergo Fontana das ganze Dorf am Leben zu erhalten: gleichzeitig Hotel, Restaurant, Bar und Dorfladen. Da wird wieder einmal klar, wie wichtig solche Treffpunkte für eine Gesellschaft sind. Und es gibt sieben Gänge Antipasti, einfach so, im Standardmenü.
Ich wate durch Blumenwiesen, die unwirklich wirken, wie ein japanisches Gemälde. Oder wie von einer KI bearbeitet. Ich bestaune das extreme Relief zwischen Ossolatal (250 Meter) und Monte Rosa (4634 Meter). Felsgrate hinter Felsgraten, zuhinterst die Viertausender. «Wer braucht Nepal, wenn es das hier gibt?», hat auf der Alpe della Colma jemand ins Gästebuch geschrieben.
Ausgerechnet auf der GTA verstehe ich, was für viele den Reiz des Jakobswegs ausmacht: Es ist möglich, allein aufzubrechen und trotzdem nicht allein zu sein. Ich treffe drei lustige Deutsche, die ich zuerst für eine Familie halte. Aber sie haben sich erst unterwegs kennengelernt. Wenn alle in dieselbe Richtung gehen, trifft man sich wieder. Die GTA ist auch eine Art Jakobsweg. Einfach viel steiler.
Bettina Dyttrich ist WOZ-Redaktorin.