Ein Traum der Welt: Es ist nicht alles verloren
Annette Hug sieht die «Dreigroschenoper» in Paris

Weil gerade alles noch schlimmer kommt als gedacht, ist man auf weitere Katastrophen gefasst. Und dann dieser Riss im Untergangsblues: Die «Dreigroschenoper» von Bertolt Brecht, Elisabeth Hauptmann und Kurt Weill taugt noch für die Bühne. Dass das Stück zu meiner Überraschung noch funktioniert, hat mit drastischen Kürzungen zu tun, mit einer französischen Neuübersetzung und jungen Schauspieler:innen, die im Aussehen so divers sind wie Paris.
Dort wird das Stück in der Regie von Thomas Ostermeier in der Comédie-Française gespielt. Sogar der Klamaukonkel Peachum, der manchmal etwas an Louis de Funès erinnert, wirkt aktuell: Wenn er Bettler:innen besonders bedauernswert ausstaffiert, um aus der Wohltätigkeit ein Geschäft zu machen, glaubt man sich in einem ganz normalen Bewerbungsgespräch. Man trägt seine Haut zu Markte, auch sein Lächeln und Weinen, und man lässt sich vom Boss eine Torte ins Gesicht klatschen. Wenns ihm Spass macht. Der Gangsterboss heisst Mackie Messer und ist der beste Freund des Polizeichefs. Sie sind Militärkameraden. Da kommt die Übersetzung ins Spiel.
Ich weiss nicht, wie man heute einen Text singen könnte, in dem es heisst: «Wenn es mal regnete / Und es begegnete / Ihnen ’ne neue Rasse / ’ne braune oder blasse / Da machten sie vielleicht daraus ihr Beefsteak Tartar.» Diesen «Kanonensong» der Kolonialveteranen orchestriert Maxime Pascal so, dass das Orchester metallisch-dröhnend das Gegröl ausstellt, und mir blieb fast die Luft weg, als die beiden Männer auf ein Podest stiegen, als würden sie gleich wie Führer zu den Massen sprechen.
Dass der Song in Paris krass ist, aber die Gewalt rassistischer Worte nicht einfach wiederholt, hat mit der Übersetzung von Alexandre Pateau zu tun. Der Zwang, dass sich die neue Version eines Songs auch reimen und sangbar sein muss, ist hier ein Glück. «Et qu’ils tombent nez à nez / ’vec des pâles ou des basanés», schreibt Pateau, das Wort «Rasse» fällt weg, und die Soldaten fallen auf die Nase, beziehungsweise auf die Fresse, mit «Bleichen und Braunen». Pateaus Zeilen schwächen den rassistischen Duktus etwas ab, zwingen ihn den Schauspielern und dem Publikum weniger auf, stattdessen leiten sie den Stimmungsumschwung der kommenden, letzten Strophe ein. Die Erbärmlichkeit der Veteranen liegt gerade darin, dass sie jetzt grossgekotzt tun, obwohl sie auch nur Kanonenfutter waren.
Wenn sich dann alle zu einem Chor versammeln und rot-weiss-schwarze Collagen im Hintergrund an die dreissiger Jahre erinnern, wenn «des Menschen nacktes Recht auf Erden» besungen wird, dann ist zu spüren, wo sozialistischer Realismus einmal in faschistische Ästhetik gekippt ist und noch kippen kann. Genau da packen die Sänger:innen ihren Galaglimmer aus. Sie sind immer auch die andern, die das Unverhoffte tun. Jede Figur steht auch neben sich. Selbstverständlich muss sie andere verraten, stehlen, Konkurrent:innen niedermachen. Denn die Verhältnisse sind so.
Aber das ist nicht alles. Scheint Polly am Anfang naiv, schafft sie sich bald eine eigene Bühne auf der Bühne und singt von der Seeräuber-Jenny. In den schönsten Strophen befreit ein grosser Atem jede Figur aus den Rollen, die sie spielen muss. Und vielleicht eben doch nicht muss.
Annette Hug ist Autorin und lernt gerade, wie viele Männer und Frauen an der Entstehung und ständigen Veränderung der «Dreigroschenoper» beteiligt waren – von François Villon bis Elisabeth Hauptmann. Nachzulesen in der opulent dokumentierten Ausgabe, die der Übersetzer Alexandre Pateau im französischen Verlag L’Arche herausgegeben hat.