Flucht aus Bergkarabach: Warum schaut die Welt weg?

Nr. 41 –

Freiwillige Helfer:innen in ganz Armenien versuchen, den rund 100 000 Geflüchteten aus der Enklave Arzach beizustehen. Unterwegs in einer schlaflosen Nacht in der Hauptstadt Eriwan.

der Chor Khaser mit Sopranistin Araks Manucharyan probt in Eriwan für ein Benefizkonzert
Armenische Volkslieder gegen gebrochene Herzen: Der Chor Khaser mit Sopranistin Araks Manucharyan (vorne) probt in Eriwan für ein Benefizkonzert.

Als die Sopranistin Araks Manucharyan zu singen beginnt, unterbricht die Dirigentin ihren Gesang. Manucharyan trifft die Töne nicht immer ganz richtig. Ihre Tränen fliessen. Sie denke an die Kinder, die im Krankenhaus liegen, sagt sie, an die Frauen, die um ihre toten Söhne trauern, und an die Männer, die nun an Krücken gehen – sie alle sind obdachlos geworden.

Der Chor Khaser probt täglich auf dem Dachboden eines dreistöckigen Hauses in einem ruhigen Stadtviertel der armenischen Hauptstadt Eriwan. Acht junge Leute stehen im Kreis und folgen den Anweisungen der Dirigentin: «Läutet die Glocken, ruft die tapferen Heiligen an», erklingt der Gesang. In wenigen Tagen wird ein Benefizkonzert stattfinden, der Erlös wird als humanitäre Hilfe an die Vertriebenen verteilt werden. Die armenische Liturgie und die armenischen Volkslieder sollen in dieser schwierigen Zeit ein Heilmittel für die gebrochenen Herzen der Menschen sein.

Seit dem Angriff Aserbaidschans am 19. September auf das armenisch besiedelte Bergkarabach haben rund 100 000 Armenier:innen die Enklave fluchtartig verlassen müssen, 85 Prozent der Bevölkerung. Die postsowjetische Republik Armenien mit ihren 2,8 Millionen Einwohner:innen ist bei der Versorgung der Geflüchteten auf internationale Unterstützung angewiesen. Und ohne das Engagement der Zivilgesellschaft würde die Regierung die Krise kaum bewältigen können.

Seit zwei Wochen verteilt die Sopranistin Manucharyan als freiwillige Helferin der Organisation World Central Kitchen Lebensmittel und warmes Essen an Geflüchtete in ganz Armenien. Manucharyan ist 31 Jahre alt, hat lockiges Haar und trägt einen hellgrünen Hoodie, auf den die Namen der Berge Armeniens gedruckt sind. Sie arbeitet als Finanzexpertin bei der Zentralbank des Landes. Eine ihrer Leidenschaften ist das Wandern.

Trauben, Käse und Kuchen

Es ist fast Mitternacht, als die Chorprobe endet. Manucharyan hat noch viel vor. Sie steigt in ein Taxi und fährt zu einem der vielen Lebensmittelläden in Eriwan, die rund um die Uhr geöffnet sind. Den Einkaufskorb füllt sie mit Weintrauben, Bananen, Pfirsichen, Wurst, Käse, Kuchen und Joghurt. «Ich kaufe nicht das Nötigste, sondern Köstlichkeiten, die sich die Leute heute nicht mehr leisten können», sagt sie und nimmt zwei Packungen bunte Nudeln in die Hand. «Ein bisschen Farbe muss auf den Teller.» Sie bezahlt knapp sechzig Franken, der Einkauf ist für zwei geflüchtete Familien, die sie noch in der Nacht besuchen will. «Diese Menschen brauchen die Unterstützung jetzt», sagt sie. Ihre Zweizimmerwohnung hat sie drei Familien, insgesamt zwölf Personen, seit drei Wochen kostenlos zur Verfügung gestellt. Sie selbst schläft bei ihrem Freund. Mehrmals wöchentlich kauft sie von ihrem Gehalt Lebensmittel, Bettwäsche und Geschirr für Geflüchtete.

Marat Nasibyan öffnet die Tür und ruft die Familie. «Unsere Sonne ist da!» Araks Manucharyan küsst jede:n der vierköpfigen Familie auf die Wange. Es ist erst ein paar Tage her, dass die Nasibyans mithilfe von Manucharyan ein neues Zuhause gefunden haben.

Jede geflüchtete Person erhält einmalig umgerechnet rund 240 Franken von der Regierung – und seit Oktober unabhängig vom Alter monatlich etwa 115 Franken für den Lebensunterhalt. Diese finanzielle Unterstützung ist zunächst für sechs Monate vorgesehen. Die EU hat bereits 5,2 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Vor zwei Wochen kündigte Brüssel an, diese Unterstützung zu verdoppeln.

Déjà-vu nach dreissig Jahren

Die Wohnung, die Nasibyan gemietet hat, kostet 460 Franken, exakt so viel wie die gesamte monatliche Unterstützung für die vierköpfige Familie. Es bleibt nichts übrig. Eine bezahlbare Wohnung in Eriwan zu finden, ist schwierig, wenn nicht unmöglich geworden. Der Wohnungsmarkt ist hart umkämpft, insbesondere seit mehrere Zehntausend Russ:innen wegen des Überfalls ihrer Regierung auf die Ukraine nach Armenien geflohen sind – viele von ihnen, um der Einberufung zum Wehrdienst zu entgehen.

Marat Nasibyan ist 39 Jahre alt und arbeitete als Stadtbusfahrer in Stepanakert, der Hauptstadt von Bergkarabach. Zweimal hat er den Latschin-Korridor durchquert, um Menschen aus Bergkarabach in die Republik Armenien zu bringen. Beim dritten Mal steigt seine Familie in den Bus. Nach dieser Fahrt bleibt Nasibyan in Armenien. Für immer? Das will er noch nicht wirklich wahrhaben.

Während der Perestroika unter Michail Gorbatschow und nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 erklärte die Karabachbewegung die Region für unabhängig. Als Aserbaidschan Ende 1991 dann versuchte, Bergkarabach durch einen völkerrechtswidrigen Angriff wieder unter seine Kontrolle zu bringen, kam es zu einem blutigen Krieg. «Um mein Leben zu retten, sind meine Eltern damals mit mir nach Armenien geflohen», sagt Nasibyan.

Sopranistin Araks Manucharyan
Sopranistin Araks Manucharyan.

Nachdem die armenischen Streitkräfte Bergkarabach unter ihre Kontrolle gebracht hatten und es 1994 zu einem Waffenstillstand gekommen war, kehrte Marat Nasibyan mit seiner Familie nach Stepanakert zurück. Da die postsowjetische Republik Armenien es nie wagte, Bergkarabach ans Mutterland anzuschliessen, wurde die De-facto-Minirepublik Arzach ausgerufen, die aber selbst von der Republik Armenien nicht anerkannt wurde.

Nach über dreissig Jahren erlebt Nasibyan ein Déjà-vu. Noch einmal macht er, heute mit seiner Frau und den beiden Töchtern, den gleichen Weg wie damals. «Wir haben auch dieses Mal überlebt», sagt er und lacht. Die Stresssituation bringt in diesen Tagen viele Geflüchtete in einen Zustand, in dem der Übergang von Lachen zu Weinen nur einen Augenblick dauert. «Wenn nicht in einem Jahr, dann in einem Jahrhundert werden wir oder meine Enkel in unsere Heimat zurückkehren», sagt er und streichelt den Kopf seiner kleinen Tochter, die neben ihm auf dem Sofa Platz nimmt. Sie ist an diesem Tag zum ersten Mal zur Schule gegangen und trägt eine Bluse mit Weihnachtsmännern – ein gespendetes Kleidungsstück. Ihre ältere Schwester ist am Esstisch neben ihrer Mutter damit beschäftigt, ihre Hand auf ein weisses Blatt Papier zu zeichnen und die Finger bunt auszumalen – ein Geschenk für Manucharyan.

Während Marat Nasibyan spricht, schüttelt seine Frau den Kopf. Die 39-jährige Liana Nasibyan ist beunruhigt, als sie im Fernsehen die Nachrichten über die Absicht Aserbaidschans hört, nun selbst das Territorium Armeniens anzugreifen. Doch ihr bleibt kaum Zeit, länger darüber nachzudenken. Da die Familie ihr ganzes Geld für die Miete aufwenden muss, geht Liana Nasibyan jeweils zu einer Tafel, wo Nahrungsmittel an die Geflüchteten verteilt werden. Oft aber kommt sie mit leeren Händen zurück: «Da war so eine lange Schlange, und ich habe mich geschämt, dort zu warten», erzählt sie. «Es gibt Menschen, die das Essen mehr brauchen als wir. Wir haben wenigstens ein Dach über dem Kopf gefunden, und ich kann eine Suppe auf dem Herd kochen.»

Ihr Mann hat sich derweil beim Rathaus als Busfahrer für den öffentlichen Verkehr in Eriwan registrieren lassen und wartet nun auf eine Antwort. «Man hat mir gesagt, ich soll eine kurze Probefahrt machen, dann habe ich den Job.» Aber noch sei der Anruf nicht gekommen, er wartet jeden Tag darauf. «Sie haben es mir versprochen, warum sollte ich ihnen nicht glauben?», sagt er. Seine unruhigen Augen treffen Manucharyans Blick. «Das wird schon», sagt sie. Sie ruft ein Taxi herbei, umarmt alle zum Abschied. Sie hat eine halbstündige Fahrt vor sich, da die nächste Familie, die sie besuchen will, am anderen Ende der Stadt wohnt.

Keine Sekunde Ruhe

Kurz vor zwei Uhr nachts. Die Familie Babayan ist noch wach. Mit Tausenden Fragen, auf die es keine Antworten gibt: Warum hat die armenische Regierung nicht die Armee nach Bergkarabach in den Kampf gegen Aserbaidschan geschickt? Wäre das eine Lösung gewesen? Hätte es dann nicht noch mehr Tote gegeben? Hat Russland Armenien verraten? Oder, im Gegenteil, das Leben der Bergkarabach-Armenier:innen gerettet? Wenn russische Friedenstruppen vor Ort waren, warum haben sie die neunmonatige Blockade zugelassen? Warum schaut die Welt weg, wenn Armenier:innen getötet und vertrieben werden? Über Fragen wie diese wird die Familie Babayan noch mehrere Nächte diskutieren und streiten. «Wir waren auf der Flucht und durften uns keine Sekunde ausruhen», sagt Angela Babayan. «Als ich den Mietvertrag unterschrieben und die Wohnungstür mit meinem Schlüssel geöffnet habe, fiel alles von mir ab. Das wars. Alles vorbei.» Ihre Tränen fliessen.

Die 61-Jährige teilt sich eine Dreizimmerwohnung mit ihrem Mann, ihrem Sohn, ihrer Schwiegertochter und den drei Enkelkindern, die vom mitgebrachten Kuchen und Obst naschen. «Wir hatten grosse Angst, dass die aserbaidschanischen Soldaten am Checkpoint im Latschin-Korridor auch meinen Sohn festnehmen würden», sagt sie und wischt ihre Tränen mit der Hand ab.

Baku hat eine internationale Fahndung nach 300 Armeniern angekündigt, die in verantwortlichen Positionen im Militär und in der Verwaltung Bergkarabachs waren. Bis jetzt sind mehrere Personen verhaftet worden, darunter der ehemalige Staatsminister Ruben Vardanyan. Die Aserbaidschaner hätten am Checkpoint registriert, wie viele Kinder, Frauen und Männer in jedem Fahrzeug sassen, erzählen die Babayans. Aber nur die Ausweise der Männer seien überprüft, nur sie seien befragt worden – warum sie nicht geblieben, ob sie beim Militär gewesen seien, was sie sonst noch zu gestehen hätten. «Wir bissen die Zähne zusammen», sagt der Sohn der Babayans. Auf alle Fragen hätten sie nur eine Antwort gegeben: «Wir wollen weg.» Die Familie weigerte sich, in die Provinz zu gehen, weil die meisten Regionen entweder an die Türkei oder an Aserbaidschan grenzen. Die Angst führte die Familie in die Hauptstadt.

Nun müssen auch sie ihr ganzes Geld, das sie vom Staat erhalten, für die Miete ausgeben. Es wäre aber auch nicht einfacher gewesen, wenn sie in die Provinzen aufs Land gezogen wären. Die Bedingungen dort sind oft unzureichend, die Menschen werden in alten Wohnwagen in Feriengebieten untergebracht, in verlassenen Höfen, die über keine sanitären Installationen verfügen. Viele Dörfer haben Wasserprobleme. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Das Rote Kreuz versucht, den Menschen zu helfen und ihre Sorgen zu mindern. Angela Babayan bekommt für sich und ihren Mann Hygieneartikel von der Organisation, Handtücher, Seife, Zahnpasta, Waschpulver. Für den Rest der Familie kauft Manucharyan ein.

«Du musst jetzt endlich schlafen gehen, mein armes Kind», sagt Angela Babayan zu Manucharyan. Morgen früh wird sie wieder unterwegs sein. Sie wird Essen in der Region verteilen und abends zur Chorprobe gehen. Bevor sie ihren Chef um eine weitere Woche Urlaub bittet, liest sie im Treppenhaus eine Nachricht von ihm: Er habe ihr «ein Dankeschön für dein Herz und ein Guthaben für dein Konto» geschickt.

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