Wohnungsnot in Lissabon: Die teuersten Zimmer Europas

Nr. 44 –

Gentrifizierung, horrende Mieten, niedrige Löhne – in Portugals Hauptstadt ist die Wohnungssuche für viele hoffnungslos. Die Regierung verspricht Massnahmen, aber die wirken kaum oder nur langsam.

Stadtteil Mouraria in Lissabon
Über Jahrhunderte war der Stadtteil Mouraria das Viertel der Eingewanderten, heute ist er ein touristischer Hotspot, in den viel Geld investiert wird. Foto: Horacio Villalobos, Getty

Als im vergangenen Dezember ein Investor das Haus in der Lissabonner Rua Morais Soares kaufte, ging für Farhana Akter alles ganz schnell. Ihre Miete stieg sprunghaft an, sie musste ausziehen. «Die Situation in Lissabon ist völlig ausser Kontrolle», sagt sie. Mietpreise schiessen in die Höhe, Wohnraum wird rar, Menschen verlieren ihr Zuhause. Migrant:innen bekommen das besonders zu spüren.

Akter, vierzig Jahre alt, zurückgebundenes Haar, Seidenkleid, kommt aus Bangladesch. Seit knapp vier Jahren erst lebt sie in Lissabon. An diesem Septembernachmittag sitzt sie in der Altstadt im Gebäude von Renovar a Mouraria, einer NGO, die Sprachunterricht und Rechtsberatung für Migrant:innen anbietet – und in letzter Zeit vor allem Unterstützung bei Wohnungsfragen. Akter arbeitet dort als Integrationshelferin. Die NGO liegt im Herzen des Multikultistadtteils Mouraria, was übersetzt Maurenviertel heisst.

Nach der christlichen Eroberung im 11. Jahrhundert wurden die muslimischen Maur:innen in Portugal in abgeschottete Viertel, die sogenannten Mourarias, gedrängt. Über die Jahrhunderte erlebte das Viertel der portugiesischen Hauptstadt verschiedene Wellen der Zuwanderung. Bis heute leben hier Menschen zahlreicher Kulturen. In den labyrinthischen Gassen reihen sich pakistanische Coiffeursalons an Afroshops und chinesische Imbisse. An einer Strassenecke lümmeln junge Männer in Sportkleidung herum. «Ey, willst du was zu rauchen haben?», fragt einer.

Da Mouraria in der Altstadt liegt, ist es in den vergangenen Jahren immer stärker in den Fokus von Investor:innen geraten. Baugerüste klammern sich an brüchige Fassaden, Maschinenlärm ist zu hören, Tourist:innen ziehen ihre Rollkoffer über die Pflastersteine. Etliche Bewohner:innen mussten den Stadtteil bereits Richtung Vorstadt verlassen.

«Goldene Visa» für Immobilienkäufe

Die Wohnungsnot in Lissabon ist zu grossen Teilen hausgemacht. Im Jahr 2012 hob das von der Finanzkrise gebeutelte Portugal auf Druck von EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Währungsfonds die Mietpreisbremse auf. Vermieter:innen konnten fortan die Preise so festlegen, wie sie wollten. Zeitgleich versuchte das Land, mit «Goldenen Visa» Investor:innen anzulocken: Für Immobilienkäufe ab 500 000 Euro gab es ein Visum für unbeschränkten Aufenthalt in Portugal – und damit auch in der EU. Mehr als 12 000 solcher Visa wurden ausgestellt, vor allem reichen Chines:innen und Brasilianer:innen. Ein weiteres Programm gewährte Ausländer:innen, die sich die Hälfte des Jahres im Land aufhalten, grosszügige Steuererleichterungen. Die Massnahmen hätten geholfen, den schlimmsten Auswirkungen der Finanzkrise entgegenzuwirken, beteuern Regierungsmitglieder und Immobilienverbände unisono. Sie setzten aber zugleich Prozesse in Gang, die sich jetzt nur mehr schwer zurückdrehen lassen.

Heute, wo der Markt für Ferienwohnungen bereits gesättigt ist, stecken viele Investor:innen ihr Geld in teure Mietwohnungen. Die Folge: Die Mieten steigen rasant an, während die Löhne nur zaghaft nach oben gehen. Laut einer Statistik der Plattform Housing Anywhere weist Lissabon für 2023 die höchsten Mietpreise für Einzimmerwohnungen in ganz Europa auf. Farhana Akter wohnt mittlerweile in einer anderen, völlig überteuerten Wohnung zur Zwischenmiete, ohne Mietvertrag. Anderen geht es noch schlechter.

Portraitfoto von Farhana Akter
Farhana Akter, Zwischenmieterin. Foto: Niklas Franzen

Einige machen in Lissabon auch den Tourismus für die sich verschärfende Wohnungsnot verantwortlich. Dieser habe den Ansturm auf Wohnungen in der Stadt erst so richtig losgetreten, so der Vorwurf. Tatsächlich wird Lissabon wie kaum eine andere Stadt Europas von Besucher:innen überrannt. «Es ist verhältnismässig günstig hier, das Klima ist fantastisch, und in einer halben Stunde erreicht man Traumstrände zum Surfen», sagt Paula Oliveira (60), Chefin des städtischen Tourismusbüros. Seinen Anfang nahm der Hype um Lissabon Mitte der nuller Jahre, als Billigfluggesellschaften wie Easyjet begannen, die Stadt anzufliegen. Während und nach der Coronapandemie liessen sich dann immer mehr digitale Nomad:innen für Wochen oder auch Monate hier nieder – was weiter zum Andrang beitrug. 5,4 Millionen Tourist:innen kamen 2022 in die eine halbe Million Einwohner:innen zählende Stadt. Laut Oliveira könnte 2023 ein neues Rekordjahr werden.

Sie selbst findet es falsch, den Tourismus für die angespannte Situation auf dem Wohnungsmarkt verantwortlich zu machen. Die Stadt profitiere vielmehr von den Besucher:innen. Die Reisenden spülen viel Geld in die klammen Kassen, mit diesem konnte die marode Altstadt in rasendem Tempo renoviert werden. Der Tourismus macht mehr als fünfzehn Prozent des portugiesischen Bruttoinlandprodukts aus.

Einzige Option: Notunterkunft

Oliveira sagt, sie könne die Sorgen der Bewohner:innen verstehen. Doch noch vor wenigen Jahren habe so gut wie niemand in der Altstadt wohnen wollen, zu ausgestorben, zu dreckig, zu unsicher. «In den zentralen Stadtteilen gab es kaum Wohnraum.» Erst nach der Wirtschaftskrise entstanden dort viele kleine Hotels und Ferienwohnungen. Auch Farhana Akter kann dem Tourismus positive Seiten abgewinnen. Migrant:innen böte er Arbeitsmöglichkeiten: Sie würden Rikschas fahren, Hotelzimmer putzen, Wein servieren, sagt sie.

Ein Mann betritt das Büro der NGO Renovar a Mouraria und spricht kurz mit Akter. Er trägt einen Koffer bei sich, hat glasige Augen und wirkt nervös. Ahmad Hussain ist 42, er kommt aus Ägypten und heisst eigentlich anders, aber seinen richtigen Namen will er nicht veröffentlicht wissen. Vor vier Jahren kam er nach Lissabon. Erst wohnte er in Hostels, als ihm das Geld ausging in Notunterkünften. Heute lebt er auf der Strasse.

Geschichten wie die von Hussain hört Akter jeden Tag. Selbst mit Arbeit sei es für Migrant:innen schwer, ein Zimmer zu finden, von einer Wohnung ganz zu schweigen. Neben den hohen Mieten sind Bürgschaften sowie schwindelerregend hohe Kautionen weitere Hindernisse. Viele Migrant:innen landen daher in Massenunterkünften. Wenn man durch Mouraria geht, sieht man hinter Fenstern dunkle Räume, oft nur mit ein paar Hochbetten ausgestattet. Nicht selten hausen acht, neun Personen in einem Zimmer. Es gibt auch sogenannte warme Betten, in denen Migrant:innen in Schicht schlafen. Im Januar brach in einer Unterkunft in Mouraria Feuer aus. Zwei Migranten aus Indien starben in den Flammen. «Es war eines der härtesten Dinge, die ich hier mitbekommen habe», sagt Akter.

2000 Euro für eine kleine Wohnung

Nicht nur in der Altstadt ist der Wandel Lissabons zu spüren. Im etwas ausserhalb gelegenen Viertel Cova da Moura, das noch zur Metropolregion gehört, läuft Flávio Almada eine schmale Gasse entlang. Er nickt einer Gruppe von Frauen in bunten Gewändern zu. «Tudo fixe?» (Alles gut?), fragt er. Ihn kennen hier fast alle. Almada ist vierzig und gross gewachsen, den Schädel hat er kahl rasiert. Er ist in Cova da Moura aufgewachsen und engagiert sich für seinen Stadtteil. Dieser liegt im Grossraum von Lissabon auf einem Hügel. Etwa 5000 Menschen sollen hier leben. Die genaue Anzahl kennt wohl niemand.

Stadtweit bekannt ist Cova da Moura für seine Graffitis: Von den Mauern blicken zahlreiche Gesichter mit dunklen Augen – Rapstars, Politiker:innen, Schwarze Idole. Bekannt ist das Viertel auch als sozialer Brennpunkt, als «letzte Favela Europas». Doch Cova da Moura ist noch mehr: ein Ort des Widerstands und der afrodiasporischen Kultur. Zwei Drittel der Bewohner:innen stammen aus der ehemaligen portugiesischen Kolonie Kap Verde, scherzhaft nennen sie das Viertel die elfte kapverdische Insel. Auch Flávio Almada kam als Kind mit seiner Familie von dort.

Portraitfoto von Flávio Almada
Flávio Almada, 
Graffitikünstler.
Foto: Niklas Franzen

An einer Strassenecke dampft ein alter Grill, die Stromkabel verlaufen oberirdisch, viele Häuser sind baufällig. Doch auch hier, sagt Almada, machten sich die Auswirkungen der Immobilienspekulation bemerkbar. Was er auf seinen Runden durch die Nachbarschaft zu hören bekomme: Die Mieten stiegen, alles werde teurer. «Lissabon ist längst eine Stadt für die Reichen.»

Almada betritt eine dunkle Bar. Mehrere Männer schlürfen Bier am Tresen, auf einem Schild steht: «Hier ist es verboten, schlecht über [den Fussballklub] Benfica zu sprechen.» Im Fernseher läuft ein Bericht über die Mietentwicklung. Almada schnalzt mit der Zunge, schüttelt den Kopf. «Heute sind 2000 Euro Miete für eine kleine Wohnung völlig normal», sagt er. Unbezahlbar für viele. Der Mindestlohn in Portugal liegt bei 760 Euro, ein Drittel der Beschäftigten im Land verdient nicht mehr.

Krisenprogramm soll helfen

Das Thema Wohnen ist in ganz Portugal omnipräsent, denn selbst die Mittelschicht trifft die Krise mit voller Härte. Es gab Proteste, verzweifelte Familien besetzten sogar leer stehende Wohnungen. Die sozialistische Regierung musste handeln: «Da ich keinen Zauberstab habe, der morgen einen Stein in ein bewohnbares Haus verwandeln kann, müssen wir Massnahmen ergreifen», erklärte Premierminister António Costa im vergangenen Frühjahr. Seine Regierung stellte ein Krisenprogramm mit dem Namen «Mais Habitação» (Mehr Wohnraum) vor. Ende September wurde es vom Parlament verabschiedet.

Neben Steuerentlastungen für Mieter:innen und Subventionen für den Bau von bezahlbaren Wohnungen werden die Mieten bei alten Verträgen dauerhaft eingefroren. In den touristischen Regionen werden keine Lizenzen für neue Ferienwohnungen mehr vergeben, und auch die «Goldenen Visa» sind Geschichte. Wohnungen können nun sogar zwangsvermietet werden, wenn sie zuvor länger als zwei Jahre unbewohnt waren. Anfang Oktober verkündete Costa auch, die bisher geltenden Steuervorteile für Ausländer:innen abschaffen zu wollen. Flávio Almada ist trotzdem skeptisch. Zu viel sei in den letzten Jahren versprochen worden, zu wenig tatsächlich geschehen.

Was ihm zudem Sorgen bereitet: In Cova da Moura sind die Besitzverhältnisse vielerorts ungeklärt, das Viertel entstand einst als irreguläre Siedlung. In den letzten Jahren verhinderten die Bewohner:innen durch Proteste mehrfach Räumungen. Trotz seines schlechten Rufes ist Cova da Moura in den Augen vieler Investor:innen und Stadtplaner:innen ein urbanes Filetstück: mit der S-Bahn gut angebunden, der internationale Flughafen ganz in der Nähe. «Und wir haben eine schöne Aussicht», sagt Almada und lacht kurz auf. Für ihn ist klar: Wenn für die Immobilienfirmen in der Altstadt nichts mehr zu holen sei, würden sie weiterziehen. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis sie auch in sein Viertel kämen. Wenn es so weit ist, will er sich ihnen entgegenstellen.