Die Dreizimmerwohnung: Die Gussform
Die Wohnungsfrage umfasst mehr als Mietpreise und gemeinnützige Bauprojekte. Sie im 21. Jahrhundert zu stellen, heisst auch zu fragen: Wieso wohnen so viele von uns in Dreizimmerwohnungen?

Die Wohnung, auf die Sie sich bewerben, für deren Besichtigung Sie sich im Treppenhaus anstellen und die Sie trotzdem nicht kriegen werden, ist vermutlich eine Dreizimmerwohnung. Zumindest wenn Sie in Zürich wohnen wollen.
Sie suchen eigentlich eine grössere Wohnung? Eine, die sich für Familien, für Wohngemeinschaften – für kollektive Wohnformen ausserhalb des atomisierten Einzelhaushalts – eignen würde? Gut ein Drittel aller Wohnungen Zürichs hat drei Zimmer; je rund ein Fünftel haben zwei oder vier. Nur rund sechs Prozent zählen fünf Zimmer; zwei Prozent deren sechs oder mehr. Oder anders: Für Sie ist diese Stadt nicht gebaut. Aber für wen dann?
Die Dreizimmerwohnung ist ein Erfolgsmodell. Als «Longseller» bezeichnete sie etwa die Schweizer Architektin und ETH-Professorin Elli Mosayebi unlängst in einer Kurseinführung. Die Dreizimmerwohnung ist weder ein neues noch ein überholtes Konzept.
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Die Fotos zu diesem Text stammen vom deutschen Künstler Menno Aden. Er hat – meist menschenleere – Wohnräume, aber auch Ateliers, Geschäfte, Schulzimmer, Lifte und U-Bahnen von oben fotografiert. Die intimen Einblicke haben etwas Voyeuristisches, könnten aber auch von Überwachungskameras stammen.
Die historischen Entwicklungen im Wohnungsbau unterscheiden sich von Stadt zu Stadt. Mit Ausnahme von St. Gallen machen die Wohnungen mit drei Zimmern in allen grösseren Städten der Schweiz den grössten Teil aus. Im Folgenden wird es der Einfachheit halber nur noch um Zürich gehen. Hier war die Dreizimmerwohnung 1980 genauso der häufigste Typ unter den neu fertiggestellten Wohnungen wie schon 1960 und 1930. In den fünfziger Jahren hatte bisweilen fast die Hälfte aller Zürcher Wohnungen drei Zimmer. Und auch noch 2023 wurde kein Wohnungstyp häufiger gebaut als dieser.
Gespräche über bessere Velowege, steigende Mieten und Verdrängung – die gebaute Stadt überdauert die diskursiven Gezeiten weitgehend ungerührt. Muss sie auch: Zürich abzureissen, erscheint zwar bisweilen als attraktive Perspektive, ist aber keine valable Option; die gebaute Stadt als politischen Gegenstand zu verstehen, ist trotzdem unabdingbar.
Was macht es mit einer Stadt, wenn ihre Architektur den Kleinhaushalt als Norm vorgibt? Woher rührt der Erfolg der Dreizimmerwohnung? Und wie konnte er sich über einen Zeitraum hinweg halten, in dem sich die Lebensumstände ihrer Bewohner:innen so grundsätzlich verändert haben?
Die Dreizimmerwohnung war nicht schon immer ein verstaubtes Relikt, einst war sie Gegenstand avantgardistischer architektonischer Experimente. Entwickelt wurden diese zum Beispiel an den Internationalen Kongressen moderner Architektur (Congrès Internationaux d’Architecture Moderne, Ciam), die unter anderem von Le Corbusier mitgeprägt wurden. Architekten aus dem Umfeld der Ciam entwickelten auch die avantgardistische Wohnsiedlung Neubühl in Zürich. Die 1932 fertiggestellten Reihenhäuser für den Mittelstand brechen radikal mit den üblichen Blockrandbebauungen und werden zum Vorzeigeobjekt des Neuen Bauens.
Im Zuge der Industrialisierung setzt sich die Idee der Maschine in den Köpfen fest: Massenproduktion, technische Lösungsansätze für allerlei Herausforderungen. Hoch über Zürich in einem labyrinthischen Gebäude der ETH Hönggerberg sitzt Laurent Stalder, Professor für Architekturtheorie, in seinem Büro und erzählt davon, wie Le Corbusier das Wohnhaus einst als eine «machine à habiter» beschrieb – als Wohnmaschine. «Ab dem 18. Jahrhundert meint die Gesellschaft, dass die Architektur eine operative Dimension hat, dass sie produktiv ist», sagt er. Das Spital als Gesundheitsmaschine, das Fenster als Sehmaschine.
Der zweite von insgesamt elf Ciam-Kongressen fand 1929 unter dem Titel «Wohnung für das Existenzminimum» statt. Die Architekten entwickelten die Idee einer Kleinstwohnung auf bloss rund vierzig Quadratmetern Fläche, die auch für die Unterschicht zahlbar sein sollte. Die meisten entsprechenden Entwürfe, die sie ausarbeiteten, sahen Dreizimmerwohnungen vor. Funktionale Architektur: die replizierbare Wohnung als Lösung eines sozialen Problems.

In Zürich präsentierte das Kunstgewerbemuseum die Idee 1930 im Rahmen einer Ausstellung einer breiten Öffentlichkeit. Gezeigt wurde unter anderem das Modell einer Kleinwohnung für Familien mit drei Zimmern. Die Ausstellung sei «in allen Kreisen» auf grosses Interesse gestossen, schrieb der berühmte Schweizer Architekt Werner Moser in einem Beitrag für die Architekturzeitschrift «Das Werk».
Wobei das Interesse hauptsächlich den ab Beginn des Ersten Weltkriegs stark gestiegenen Wohnkosten geschuldet sei, vermutet Moser. Und er rechnet vor, dass die Lebenshaltungskosten für eine vierköpfige Familie pro Jahr etwa 3000 Franken betrügen, eine Dreizimmerwohnung jährlich etwa 1600 Franken Miete koste und damit mit dem üblichen Jahreslohn eines Arbeiters von 3500 Franken unbezahlbar sei. Das müsse der «Allgemeinheit Anlass geben, darüber nachzudenken, mit welchen Mitteln eine Verbilligung der Mietzinse herbeigeführt werden könnte».
Die radikalen Konzepte der Moderne stossen nicht nur auf Zustimmung. Moser diskutiert in seinem Artikel etwa die Frage, ob solche Kleinwohnungen nicht das Familienleben zerstören würden, weil sich der Vater dann nicht mehr wohlfühlen und «seine freien Abendstunden lieber ausserhalb der Familie» verbringen könnte. «Mit Vorliebe wird auch erwähnt, dass man es nicht verantworten könne, die Arbeiter in solch kleine Wohnungen zu stopfen», schreibt er ferner; wendet aber ein, dass eine solche Dreizimmerwohnung für viele Familien nicht unbedingt eine Verkleinerung mit sich bringe. In vielen grösseren Wohnungen, etwa mit vier Zimmern, werde schliesslich ein Zimmer noch untervermietet. Dass es auch Arbeiter:innen möglich wurde, in einer eigenen Wohnung zu leben, war eine vergleichsweise neue Entwicklung.
Man müsse die Debatten vor dem Hintergrund eines tiefen Traumas verstehen, sagt der Architekt Andreas Hofer: der Schäden, die die fürchterlichen Lebensumstände des 19. Jahrhunderts hinterlassen hätten. «Das ist der Ausgangspunkt dieser Experimente in der Moderne: Kellerlöcher, Feuchtigkeit, sinkende Lebenserwartung, Dreck und Lärm in den Städten.» Die kleine Familienwohnung für das Existenzminimum soll eine humane Antwort auf die Bedürfnisse der Arbeiter:innenschicht bieten: nicht viel, aber doch eine eigene kleine Wohnung. Wobei der Aufstieg des Nationalsozialismus die Phase der avantgardistischen Experimente schliesslich beendet habe.
Hofer, der als Architekt das Konzept der Clusterwohnungen in der Zürcher Genossenschaft Kraftwerk mitentwickelte, ist heute Intendant der Internationalen Bauausstellung IBA 27 in Stuttgart. Sie wird 2027, hundert Jahre nach der Fertigstellung der Stuttgarter Weissenhofsiedlung, stattfinden. Dort verwirklichten siebzehn Architekten (alles Männer) im Rahmen der Ausstellung «Die Wohnung» ihre Ideen für eine moderne, funktionale Architektur. Ihre Wohnbauexperimente konnten sich nicht durchsetzen, haben aber zur Standardisierung der Kleinwohnung für die Familie beigetragen. Nur wenige Jahre nach Eröffnung der Weissenhofsiedlung liessen die Nationalsozialisten viele der Häuser abreissen.
Spätestens nach Ende des Zweiten Weltkriegs habe sich die Dreizimmerwohnung aber etablieren können, sagt Hofer. «In vielen westeuropäischen Ländern hat sich dann die Ansicht durchgesetzt, dieser Wohnungstyp sei das Minimalangebot für Familien.» Nicht mehr so kompakt, wie es einst die «Wohnung für das Existenzminimum» war, sondern in der Regel rund sechzig Quadratmeter gross. Später sei öfter auch noch ein viertes Zimmer hinzugekommen, schrieb Hofer 2011 in einem Fachbeitrag, die Wohnungen seien mit zunehmendem Wohlstand grösser geworden, grundsätzlich sei die typologische Entwicklung des Wohnungsbaus mit der Dreizimmerwohnung nach dem Zweiten Weltkrieg aber abgeschlossen gewesen.
Viele Jahrzehnte später sitzt Martina Dvoraček in einer Kantine und redet mit ihren Arbeitskolleg:innen darüber, dass es zunehmend zum Problem werde, wie viele Dreizimmerwohnungen es in Aarau gebe. Die Geografin arbeitet für die Stadt als Projektleiterin Mobilität und ist Mitglied im Verein Lares, der sich für gendergerechte Stadtplanung einsetzt. «Es gibt zu wenig Platz für grössere Familien und alternative Wohnformen», sagt Dvoraček. Sie stützt sich dabei auf das Stadtmonitoring von Aarau ab, dessen Ergebnisse 2021 veröffentlicht wurden. Demnach wünschen sich mehr als die Hälfte der Befragten mehr Wohnungen, die diese Lebensentwürfe ermöglichen.
Das Problem rührt nicht nur von der Architekturgeschichte; Le Corbusier ist nicht (allein) schuld an der Vereinzelung der Stadtbewohner:innen. Dvoraček erklärt es so: Nur weil grössere Wohnungen ein Bedürfnis befriedigen würden, heisse das noch lange nicht, dass sie auch gebaut würden. «Investor:innen haben wenig Gründe, darauf auch einzugehen.» Wer in den urbanen Zentren der Schweiz Wohnraum baut, muss nicht fürchten, diesen nicht vermieten zu können. In Zürich, wo sich die Wohnungsnot seit Jahren zuspitzt, ist das Problem besonders gross. Sich an Bedürfnissen der Mieter:innen zu orientieren, ist für die Investor:innen weitgehend fakultativ.
«Aktuelle Wohnbauprojekte repetieren die kleinbürgerliche Grundrissdisposition der Dreizimmerwohnung unkritisch, obschon die Kleinfamilie längst nicht mehr das vorherrschende Haushaltsmodell darstellt», schreibt dazu Elli Mosayebi. Ist es vielleicht schlicht Gewohnheit, die dafür sorgt, dass die Immobilienentwickler:innen weiterhin wie schon vor siebzig Jahren Dreizimmerwohnungen bauen? «Die Immobilienentwickler behaupten immer, sie würden bauen, was der Markt verlangt», sagt auch Andreas Hofer. «Aber wirklich danach gefragt, was sich die Leute wünschen, werden diese eigentlich nie.»
Professor Laurent Stalder spricht von Zeitlichkeit der Architektur. «Die Zeit der Architektur ist nicht dieselbe Zeit wie jene der Ökonomie und die Zeit des menschlichen Lebens», sagt er. Die Lebensdauer einer Stadt oder auch eines einzelnen Hauses ist eine ganz andere als die seiner Bewohner:innen. Die Zeitrechnung der Ökonomie orientiert sich dagegen an Renditeprojektionen; daran, wie lange es dauert, bis eine Investition amortisiert ist. «Zurzeit folgt die Architektur der Zeit der Ökonomie», sagt Stalder.
Für Utopien bleibt in dieser Stadt wenig Platz. Zürich als Maschine produziert keine Lebensräume, sondern viele kleine Konsument:innen. Wohnraum, Boden – alles nur mehr Waren mit schwindelerregenden Renditeaussichten. Und es kommt einem bisweilen vor, als würden auch die Gegenbeispiele – experimentelle Genossenschaftsbauten wie die Kalkbreite oder das Kraftwerk – vor allem bestehen dürfen, weil sie dem Image der Stadt als eines innovativen Wirtschaftsstandorts dienen.
Würden nun alle Zürcher:innen kollektiv wohnen, wenn sie auf dem Wohnungsmarkt nur Grosswohnungen vorfinden würden? Wie viele Jungeltern würden sich eigentlich wünschen, die Kinderbetreuung mit Mitbewohnerinnen oder Nachbarn zu teilen? Eine Stadt wird nicht nur nach den Bedürfnissen ihrer Bewohner:innen geformt, sie ist diesen in vielerlei Hinsicht auch vorgelagert. Man kann sich die Stadt auch als Gussform vorstellen. Wir verteilen uns auf die Wohnungen, die eben da sind. Stammen diese nun aus den dreissiger, den sechziger oder den nuller Jahren: In Zürich geben sie überwiegend kleine Haushaltseinheiten vor. Es sind Wohnungen, die sich nach heutigen Ansprüchen für maximal zwei Personen eignen.
Zwischen 1991 und 1995 verliessen im Schnitt tausend Familien pro Jahr Zürich. Eine von der Stadt in Auftrag gegebene Studie erkannte den Hauptgrund darin, dass die Familien keine Wohnungen mehr fanden, die ihnen genug Platz und Zimmer boten. 1998 lancierte Zürich deshalb das Programm «10 000 Wohnungen in zehn Jahren». Im zugehörigen Konzept erklärte der Stadtrat: «War eine 3½-Zimmerwohnung früher eine Familienwohnung, wird sie heute von Kleinhaushalten (Singles, kinderlose Paare oder Alleinerziehende) gesucht und bewohnt.»
Grössere Wohnungen sollten her: Nach der Jahrtausendwende wurden mehr Vier- als Dreizimmerwohnungen gebaut. Viele der neuen, grösseren Wohnungen wurden laut Andreas Hofer aber trotzdem nicht von Familien bewohnt – zu teuer. Und die nuller Jahre blieben eine Ausnahme: das einzige Jahrzehnt in der Geschichte der Stadt, in dem nicht die Dreizimmerwohnung der häufigste fertiggestellte Wohnungstyp war. Just 2010 war damit wieder Schluss.

Parallel zur Entwicklung, dass Familien höhere Ansprüche stellen und sich zu einem grossen Teil nicht mehr mit drei Zimmern zufriedengeben, hat sich aber auch deren Zahl in den letzten Jahrzehnten reduziert. Im Gegensatz zu den Ein- und Zweipersonenhaushalten, die den frei werdenden Wohnungsbestand beanspruchten. Heute sind in Zürich etwas weniger als ein Fünftel aller Haushalte klassische Kleinfamilien, bestehend aus Eltern und mindestens einem Kind. Weniger als die Hälfte aller Haushalte bestehen noch aus mehr als zwei Personen.
Das ist auch einer der Hauptgründe für den Anstieg des Flächenkonsums in den letzten siebzig Jahren. Beanspruchte ein:e Bewohner:in der Stadt Zürich 1970 im Schnitt noch 30 Quadratmeter, sind es heute rund 41. Allerdings ist dieser Wert seit mehr als dreissig Jahren stabil. Und die klassische Familie mit zwei Eltern und zwei Kindern bewohnt auch heute noch weniger als 30 Quadratmeter pro Person. Die Dreizimmerwohnungen werden zu einem Drittel von Einzelpersonen bewohnt – sicherlich auch, weil diesen gar nicht genug kleinere Wohnungen zur Auswahl stehen. Dass die Stadt aus allen Nähten zu platzen scheint, obwohl heute nur geringfügig mehr Leute in ihr wohnen als in den sechziger Jahren, ist nicht nur eine Frage des gestiegenen Anspruchs, sondern auch des Wohnungsbestands.
In einem wegweisenden Artikel stellte die Stadthistorikerin Dolores Hayden 1981 Überlegungen zur Frage an, wie «eine nicht-sexistische Stadt» aussehen könnte. Ihr Beitrag wird bis heute rezipiert. Die Disziplin der feministischen Städteplanung ist noch jung, und sie beschäftigt sich überwiegend mit Fragen der Mobilität, des öffentlichen Raums und der Sicherheit. Dank Beiträgen wie jenem von Hayden ist die Erkenntnis, dass Frauen in Fragen der Städteplanung nie berücksichtigt wurden, heute eine Binsenweisheit. Das betrifft auch den Wohnraum.
Hayden untersucht in ihrem Beitrag den US-amerikanischen Kontext, ihre Analysen sind aber auch für das Verständnis von Schweizer Städten relevant. Im vereinzelten Privathaushalt erkennt sie eine Struktur, die darauf ausgelegt ist, von einer einzelnen Person bewohnt und gepflegt zu werden. Wohnraum sei heute fast immer gleich organisiert und aufgeteilt, schreibt Hayden. «Diese Räume verlangen, sofern Kinder und Erwachsene darin wohnen, die Anwesenheit von jemandem, der kocht, putzt, wäscht und die Kinder versorgt.» Die kleinen, abgetrennten Wohneinheiten machen andere Formen, die Fürsorgearbeit zu organisieren, unmöglich.
Dabei gab es schon vor hundert Jahren progressivere Modelle. Hayden verweist etwa auf Experimente in Kopenhagen von 1903, in sogenannten «Kollektivhäusern» die Fürsorgearbeit zu entprivatisieren – Ansätze, die später in der Sowjetunion systematisch erprobt werden sollten. Im Westen dominierte demgegenüber von Beginn des industriellen Wohnungsbaus an ein anderes Dogma: «Gute Wohnungen machen zufriedene Arbeiter», zitiert Hayden den Slogan US-amerikanischer Wohnbaugesellschaften von 1919. Glückliche Arbeiter brächten bessere Profite, unzufriedene Arbeiter seien eine schlechte Investition.