Ein Traum der Welt: Gute Energie
Annette Hug trifft lesende Elektriker

Eine schöne Störung geht so: Der Zug kommt zwar in Zürich an, aber ein Tram fährt keins, weil eine Demo den Weg versperrt. Das heisst: Zu Fuss gehen, und weils eine gewerkschaftliche Demo ist, geht man einfach mit, nimmt dann nicht den Weg nach Hause, weil in der Demo Leute sind, die man kennt, also bummelt man mit denen in die falsche Richtung. Das war so an einer Bauarbeiter:innendemo vor einigen Jahren. Schön war, dass ich da Jakob Hauri traf, der von diesem und jenem erzählte und irgendwann auch auf einen Roman von mir zu sprechen kam. Er habe ihn an «Perry Rhodan» erinnert, so Science-Fiction-Hefte, die man als Jugendlicher am Bahnhof gekauft habe.
Wir sprachen dann nicht über den Atommüll, um den es in dem Roman auch geht, sondern über die Frage, ob sich wirklich Leute finden würden, die den Rest ihres Lebens der Aufgabe widmen, das Wissen um die Gefährlichkeit des Atommülls zu sichern und weiterzugeben. Die dafür sogar ein Gelübde ablegen. Es gibt Unverwüstliche, waren wir uns einig. Und Leute, die irgendwie einen eigenen Motor haben. Denen muss niemand sagen, wofür und wann und wie sie sich einsetzen sollen.
Ich erinnerte mich an grauenhaft mühsame Konflikte zwischen eigentlich befreundeten Gewerkschaften. Die Art stupider Konflikte um Zuständigkeiten, die einem das Engagement für immer verleiden könnten. Und fragte mich: Was für ein seltsames Gelübde haben Leute abgelegt, die das aushalten, vermitteln, irgendwie zwischen den Fronten stehen und im richtigen Moment in Erinnerung rufen: Das Letzte, was ein Gewerkschaftsmitglied interessiert, sind Konflikte zwischen Funktionär:innen. Jakob Hauri war und ist so einer. Jedes Mal, wenn ich ihn treffe, kommt mir Bertolt Brecht in den Sinn. Als Präsident der VPOD-Branchenkommission Wartung und Reinigung gab Jakob den Auftrag, jedem Sitzungsprotokoll das Gedicht «Fragen eines lesenden Arbeiters» voranzustellen. «Wer baute das siebentorige Theben? / In den Büchern stehen die Namen von Königen. / Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?»
Und Jakob ist auch der Mensch, der am besten und einfachsten erklären kann, warum Diskriminierung für alle eine Katastrophe ist: weil billige Löhne für die einen immer die Löhne von allen nach unten ziehen. Er hat ursprünglich Elektriker gelernt, wurde dann Hauswart und hat dazu beigetragen, dass das heute ein anerkannter Beruf ist mit einer eidgenössischen Berufsprüfung. Und immer, wenn wieder jemand einen riesigen Graben behauptet zwischen Handwerker:innen und Intellektuellen, dann denke ich an Jakob.
Auch wenn ich wieder einen lesenden Elektriker treffe wie kürzlich an einem Festival in den Vogesen. Da wollte einer sicherstellen, dass ich keine hysterischen Ideen «von Atom» habe. (Ja, mir ist klar, dass eine Mammografie stärker verstrahlt als zehn Jahre Arbeit in einem AKW.) Man müsse daran erinnern, sagte der Leser, dass ein AKW auch revidiert werden müsse. Und dass dafür immer nur Zeitarbeiter:innen angestellt würden. Wandernde Trupps von Leuten, die mehr Strahlung abbekommen, aber nicht einmal richtig angestellt sind, deshalb habe er den Job nie gemacht. Und wenn jetzt wieder gesagt werde, man könnte doch neue Meiler bauen, möchte er schon wissen: Wer kriegt dann den Dreck ab?
Annette Hug ist Autorin, unter anderem von «Tiefenlager» (2021).