Atommüll: Wider Erdbeben und Verblödung

Nr. 22 –

In Annette Hugs neuem Roman «Tiefenlager» zerstreuen sich die GründerInnen eines Ordens über Zeit und Raum, um das Wissen um die Gefahr radioaktiven Abfalls für künftige Generationen zu sichern.

Wer bewahrt das Wissen um Atommüll, wenn die augenfälligen Hinweise weg sind? Foto: Alamy

Bei der Atomsemiotik handelt es sich um eine Forschungsrichtung, die seit Anfang der achtziger Jahre die Frage diskutiert, mit welchen Zeichen und Hinweisen über lange historische Zeiträume auf die Gefährlichkeit radioaktiven Abfalls hingewiesen werden kann. Dahinter steht das Problem, dass kernphysikalische Zerfallsprozesse viel längere Zeithorizonte eröffnen als menschliches Leben und Kulturen. Niemand weiss, ob unsere NachkommInnen in 5000 Jahren noch in der Lage sein werden, mit Atommülllagern umzugehen oder auch nur zu verstehen, was es mit dem Abfall auf sich hat. Wie lässt sich zukünftigen Generationen also auch nach einem denkbaren Zusammenbruch von Zivilisationen vermitteln, dass sie sich von Lagerstätten fernhalten müssen?

Diese Frage nimmt Annette Hug, die auch als WOZ-Kolumnistin tätig ist, zum Ausgangspunkt ihres neuen Romans «Tiefenlager». Fünf Personen aus unterschiedlichen Ländern finden sich zusammen und gründen einen Orden, der die Weitergabe von Informationen garantieren soll. Ihre These lautet: «Ein Kloster ist die zuverlässigste bisher bekannte Methode, Wissen zu sichern und von Generation zu Generation zu übermitteln.» Die Aufgabe des Ordens sehen sie darin, «gegen die Gefahren zu warnen, die einem Endlager blühen: Erdbeben und Verblödung, Bandenkrieg oder Meteoriteneinschlag, Korrosion.»

Erzählt wird die Geschichte anhand der OrdensgründerInnen: Die Filipina Betty Wang arbeitet in Hongkong als Krankenpflegerin, ihre Schweizer Freundin Petra ist als Finanzcontrollerin für nichtstaatliche Organisationen im Einsatz, Kurt und Anatol waren in Atomkraftwerken beschäftigt, Céline ist Linguistin, aber macht mittlerweile vor allem Musik.

Violette Fliegen, Mönche mit Flügeln

Ähnlich wie schon in ihrem viel beachteten Roman «Wilhelm Tell in Manila» knüpft Hug auch in «Tiefenlager» ein welt- und zeitumspannendes Netz aus Geschichten. Sie erzählt von der Kindheit Betty Wangs in Manila, vom Zusammenbruch der Sowjetunion, vom Ende des Kalten Kriegs im Westen. Und weil Hug ihre ProtagonistInnen auch immer wieder die Zukunft des Ordens durchspielen lässt, ist «Tiefenlager» zumindest passagenweise auch Science-Fiction: «Zu Hunderten knien wir im Saal und in den Fluren – Kostüme bauschen – Eine Gasse öffnet sich für Rosse – Violette Fliegen surren um ihre Nüstern, die Rosse tragen einen weissen Bart und Gold, oranges Leder und Glanzstücke, Mönche spreizen ihre Flügel, zeigen die Krummsäbel und bleiche Wange – Wir blärren.»

«Tiefenlager» ist ein literarisch versiertes Buch, das ganz unterschiedliche Tonlagen anzustimmen versteht. Die Sätze, die Hug in ihrem letzten Roman «Wilhelm Tell in Manila» über den philippinischen Nationaldichter José Rizal notierte, treffen auch auf ihr eigenes Erzählen zu: Hug begeistert sich für Zeitsprünge und Ortswechsel, ihre Beschreibungen haben einen doppelten Boden und Passagen eine Falltür, durch die man unvermittelt in eine andere Erinnerungsebene wechselt. Das ist dicht und gekonnt gewoben, führt indes dazu, dass kein wirklicher Handlungsbogen entsteht. Hug spielt scheinbar zufällig mit unterschiedlichen Erzählstilen und führt die ProtagonistInnen zwar ein, grenzt sie aber nicht klar voneinander ab. Stattdessen spannt sie ein Beziehungsgeflecht von Freundschaft, erotischer Annäherung, Distanzierung und dann auch gegenseitigem Misstrauen auf, in dem die Dynamik der persönlichen Konflikte unscharf bleibt.

Zerfallsprozesse abbilden

So stellt sich bei der Lektüre immer wieder die Frage, was eigentlich den Kern des Romans ausmacht. Das Science-Fiction-Motiv und die in die Zukunft weisende Fragestellung, durch welche Institutionen das Auseinanderfallen von kulturellen und physikalischen Zeithorizonten bearbeitet werden kann, spielen eine eher untergeordnete Rolle. Wenn «Tiefenlager» hingegen als Roman über die neu entstehende Ordensgemeinschaft gemeint ist, dann würde man als LeserIn gern erfahren, wie sich die Konflikte zwischen den ProtagonistInnen weiterspinnen. Zwar wird so etwas wie eine dramatische Zuspitzung angedeutet: Der Ordensgemeinschaft wird übel mitgespielt von einem Konsortium, das für die Endlagerung von Atommüll zuständig ist. Doch auch diese Eskalation verharrt im Ungefähren: «Die Wut, die sich in allen Mägen ballte, während die Worte der elektronischen Nachricht langsam einsanken und verständlich wurden, richtete sich nicht auf Petra, sondern auf ihren alten Bekannten, den Zuständigen, auf den unbekannten Herrn, der die Nachricht unterschrieben hatte, und auf alle Konsortien, die sich um ihn schlangen. Immer wieder verliessen Einzelne den Raum, um irgendwo laut auszupusten, zu fluchen oder seit langem zum ersten Mal eine Zigarette zu rauchen. Niemand weinte. Dafür schien alles noch zu unwirklich.»

Was episodenhaft und ein wenig konturlos wirken mag, ist vielleicht ganz einfach die geeignetste erzählerische Form für den verhandelten Zeithorizont. Immerhin kann eine Ordensgemeinschaft, die dem Zerfallsprozess von Uranium entsprechen will, gar nicht anders, als auf lange Sicht zu mäandern.

Annette Hug liest am Mi, 9. Juni 2021, ab 19 Uhr im Kino Cameo in Winterthur aus «Tiefenlager». Tickets über info@buchamplatz.ch.

Annette Hug: Tiefenlager. Roman. Verlag Das Wunderhorn. Heidelberg 2021. 220 Seiten. 37 Franken