Rückkehr in die Ukraine : Der einzige Weg

Nr. 50 –

Aus den von Russland besetzten Gebieten führt nur ein humanitärer K0rridor zurück in die Ukraine. Tausende sind über diese Route geflüchtet, nun stehen sie vor dem Nichts – wie Familie Jewdokienko.

Portraitfoto von Daria Jewdokienko
«Wir haben bis zuletzt darauf gewartet, dass unsere Armee uns befreit»: Daria Jewdokienko.

«Es gab keine asphaltierte Strasse, nur Steine, die im Weg lagen und das Weiterkommen erschwerten», erzählt Daria Jewdokienko. Links und rechts habe sie im Licht ihres Smartphones die Umrisse zurückgelassener Gegenstände erkannt, Kleidungsstücke, Koffer, Taschen. «Wie auf einer Müllhalde», sagt die Siebzehnjährige, der die Müdigkeit noch immer ins Gesicht geschrieben steht. Seit dem Fussmarsch vom russischen Grenzort Kolotilowka in den ukrainischen Oblast Sumy im Nordosten des Landes sind erst wenige Stunden vergangen.

«Wir rannten, weinten, gingen weiter, schleppten, weinten, bis wir nichts mehr gespürt haben»: Die Worte sprudeln nur so aus ihr heraus. Abwechselnd habe sie den Rollstuhl der Grossmutter und die Koffer weitergezogen, während ihre Mutter die schweren Reisetaschen hievte, erzählt Jewdokienko. «Über uns flogen die Drohnen, und wir hörten Schüsse.» 100 Meter, vielleicht 200 sei sie jeweils vorangekommen, dann lief sie wieder zurück und holte den Rest. Fünf Stunden hat die dreiköpfige Familie für die zwei Kilometer lange Strecke benötigt. «Aber irgendwann haben wir die ukrainischen Stimmen unserer Soldaten gehört.»

Am Tag nach ihrer Ankunft steht die junge Frau im hell beleuchteten Wartesaal der Notunterkunft in der Regionalhauptstadt Sumy. Etwas abseits, neben der gläsernen Eingangstür, spricht ihre Mutter mit einem Pfleger über die vielen Papiere, die sie für den Krankentransport nach Kyjiw ausfüllen muss. Die Grossmutter, die an Diabetes leidet und vor dem Krieg einen Schlaganfall erlitten hat, sitzt still in einer Ecke. Ihr Blick ist starr, sie spricht kaum. «Ich merke, dass sie langsam wieder ruhig atmet», sagt Daria Jewdokienko. «Aber ganz hat sie noch nicht verstanden, dass sie endlich in Sicherheit ist.»

Von Swatowe nach Kyjiw

Karte zur Situation in der Ostukraine
Karte: WOZ

Jewdokienko trägt die Kapuze über dem Kopf, die Hände stecken in den Jackentaschen. Sie wirkt blass, aber gefasst für jemanden, der erst vor knapp zwei Tagen seine Heimat im russisch besetzten Oblast Luhansk hinter sich gelassen und den derzeit einzigen offenen Landweg zwischen Russland und der Ukraine zurückgelegt hat. Obwohl die Strecke als humanitärer Korridor gilt, finden dort noch immer Kampfhandlungen statt.

Viele Monate hat die Familie unter russischer Besetzung gelebt. Irgendwann sei der Moment gekommen, an dem sie und ihre Mutter begriffen hätten, wie viel Zeit seit der russischen Invasion eigentlich vergangen sei, erzählt die junge Frau. Bald zwei Jahre ohne Ausbildung, ohne Perspektive auf eine bessere Zukunft «Wir haben es nicht mehr ausgehalten.» Während Jewdokienko spricht, begleiten Helfer:innen andere geflüchtete Frauen zu den Schlafquartieren im hinteren Bereich des Flüchtlingszentrums. Die meisten, die sich in Sumy eingefunden haben, mussten alles zurücklassen, stehen nach der Flucht vor dem Nichts. Oder wie Daria Jewdokienko mit fest entschlossener Stimme sagt: vor einem Neuanfang.

Stilles Abkommen mit dem Feind

In Krasnopillja, etwa eine Autostunde von Sumy entfernt, liegen Blumen auf den Strassen, die die Bewohner:innen nach der Trauerfeier für einen gefallenen Soldaten zurückgelassen haben. In der Ortschaft, in der vor dem Krieg über 8000 Menschen lebten, kommen die Flüchtenden an – Dutzende sind es an diesem Novembernachmittag, die meisten davon Frauen. Während im Hintergrund wieder einmal eine Sirene aufheult, klettern sie aus dem Bus, der am ukrainischen Kontrollposten an der rund zehn Kilometer Luftlinie entfernten Grenze bereitgestanden hatte.

Ein Mann in Camouflage weist ihnen den Weg vom Parkplatz zum zweistöckigen Gebäude. An den Wänden im Eingangsbereich hängen Informationsblätter über Transportmöglichkeiten nach Sumy, von dort weiter nach Kyjiw, Odesa oder Charkiw. Unter den Ankommenden macht sich unsicheres Schweigen breit. Dann beginnt ein Soldat, mit lauter Stimme das Prozedere zu erklären: «Hier werden Ihre Daten registriert. Im Raum links werden die Taschen kontrolliert. Bitte halten Sie Ihre Dokumente und die Mobiltelefone bereit. Die alten SIM-Karten werden entfernt.»

Mehr als 16 000 ukrainische Zivilist:innen sollen in den vergangenen Monaten die Grenze zu Fuss überquert haben – und das, obwohl die ukrainische Regierung nach dem russischen Einmarsch am 24. Februar 2022 angekündigt hat, alle ehemaligen Grenzposten zum Nachbarland zu schliessen. Seit Monaten scheint zwischen den kriegführenden Ländern ein stilles Abkommen über einen humanitären Korridor zu herrschen, den beide Seiten in der Vergangenheit auch für den Austausch von Kriegsgefangenen und die Leichen gefallener Soldaten genutzt haben. Warum die Russen die Zivilist:innen passieren lassen, ist unklar – mit Journalist:innen wollen die wenigsten Geflüchteten in Krasnopillja sprechen. Viele sagen, sie hätten noch immer Freund:innen und Verwandte in den besetzten Gebieten.

In ihrem Büro im ersten Stock des Erstaufnahmezentrums von Krasnopillja zieht Katerina Arisoy einen Blecheimer unter dem Tisch hervor und zeigt abschätzig auf den Inhalt: Rubelmünzen und -scheine, die die Geflüchteten abgegeben haben. «Ich will das Geld selbst nicht anfassen. Ich glaube, dass es Unglück bringt», sagt die 36-Jährige und schiebt den Eimer mit dem Fuss zurück unter den Tisch. In der Vergangenheit habe man die Scheine meistens verbrannt. Was mit all den Münzen passieren solle, sei unklar.

Arisoy, eine gross gewachsene Frau mit langen, glatten Haaren, die während des Gesprächs im Minutentakt Anrufe und Nachrichten auf ihrem Smart­phone erhält, leitet das Zentrum. Sie stammt aus Bachmut im Donbas, das nach heftigen Kämpfen zu grossen Teilen in Schutt und Asche liegt. Wie die meisten, denen sie zu helfen versucht, hat auch sie ihr Zuhause verloren. «Manchmal spreche ich mit Freunden über unser früheres Leben. Dann schaue ich mir Fotos von uns an, wie wir jung waren und glücklich», sagt sie. «Viele von uns sind gestorben. Manche erkenne ich nicht wieder, weil sie mittlerweile so anders aussehen. Manchmal frage ich mich, ob wir jemals wieder glücklich sein werden.»

Zu russischen Pässen gezwungen

Freiwillige Helfer:innen wie Arisoy standen seit Kriegsausbruch unermüdlich im Einsatz – oft ohne Bezahlung oder Pause. Mit der von ihr gegründeten humanitären Organisation Pluriton versorgt Arisoy seit Monaten Soldat:innen und Zivilist:innen an der Front mit Lebensmitteln und Ausrüstung. Dass sie in der Region Sumy gelandet ist, hat einen Grund: Im vergangenen Jahr nahmen russische Truppen Mitglieder ihres Teams in der mittlerweile besetzten Stadt Lyssytschansk im Oblast Luhansk gefangen. «Nach drei Monaten in einem russischen Gefängnis liess man sie in den besetzten Gebieten frei – ohne Dokumente. Sie konnten also nicht einfach nach Europa reisen», so Arisoy. Zu dem Zeitpunkt habe sie zum ersten Mal vom Grenzübergang Kolotilowka-Pokrowka gehört.

«Wir kamen nach Sumy und warteten tagelang auf unsere Freunde. Dabei fanden wir heraus, dass viele über den Korridor in die Ukraine zurückkehren», erzählt sie. Meistens seien es ältere Frauen und Kinder gewesen. Damals, im vergangenen Winter, habe es in der Gegend keine Infrastruktur für die Geflüchteten gegeben: keine Unterkunft, nicht einmal ein Café oder einen Busbahnhof, wo man hätte übernachten können, sagt Arisoy. «Nachdem wir unsere Freunde mitgenommen hatten, kehrten wir zurück und erhielten von den Behörden in Krasnopillja die Erlaubnis, das Zentrum zu eröffnen.»

Der Weg durch den russischen Oblast Belgorod nach Sumy ist zurzeit der schnellste Weg aus Russland oder den besetzten Gebieten zurück in die Ukraine. Als sicher würde ihn wohl niemand der Geflüchteten beschreiben. Die Orte entlang der Grenze sind mittlerweile kaum noch von Zivilist:innen bewohnt: Die Drohnen- und Raketenangriffe stellen eine kontinuierliche Gefahr dar.

In den ersten Monaten des Jahres seien hier vor allem Menschen aus dem besetzten Donbas oder von der Krim angekommen, sagt Arisoy. Doch seit einem halben Jahr kämen immer mehr aus den Regionen Cherson und Saporischschja im Süden der Ukraine. «Auch dort sind die Menschen mittlerweile gezwungen, russische Pässe anzunehmen. Ansonsten können sie nicht arbeiten gehen oder werden regelmässig verhört.» Und dann gibt es noch jene, die von der Zerstörung des Kachowka-Staudamms im Juni betroffen waren. «Manche berichten, dass ihnen die Pässe weggenommen wurden, andere haben sie bei den Angriffen oder in der Flut verloren», erklärt Arisoy. Das sei einer der Hauptgründe, warum die Leute nicht über Europa in die Ukraine fliehen würden. «Wer seine Staatsangehörigkeit beweisen kann, dem erlaubt die Ukraine auch ohne Dokumente die Einreise.»

Fragen an den Checkpoints

Ende November am Stadtrand von Kyjiw. Eine Woche nach ihrer Ankunft zeigt Daria Jewdokienko die Flüchtlingseinrichtung, in der sie mit ihrer Familie zwischenzeitlich untergekommen ist. Die drei Frauen teilen sich ein Schlafzimmer: Daria schläft im Stockbett oben, ihre Mutter Olena unten, Raisa Demjanenko, die 69-jährige Grossmutter, hat ihr eigenes Bett. Auf dem Schreibtisch im Zimmer liegt jeder Gegenstand in dreifacher Ausführung: Teller, Glas, Gabel, Messer. In der Ecke stehen zwei grosse Koffer, vier Reisetaschen, einige Plastiktüten. Das ist alles, was der Familie geblieben ist. «Es ist das erste Mal, dass wir in der Hauptstadt sind», erzählt die 48-jährige Mutter. «Aber ehrlich gesagt sind wir bisher nur zur Apotheke gegangen, als wir krank waren, und in einen Laden, um Brot zu kaufen. Sonst sind wir nirgendwo hin.»

Die drei haben ihr ganzes bisheriges Leben im Dorf Kowaliwka im Oblast Luhansk verbracht. Unweit von dort brachen schon 2014 Kämpfe aus. «Damals hat uns der Krieg aber nicht erreicht», erinnert sich Olena Jewdokienko. Am 24. Februar 2022 hingegen sei sie gegen fünf Uhr morgens von Explosionen geweckt worden. «Ich bin sofort online gegangen und habe gesehen, dass der Krieg angefangen hat.» Schnell habe sie einige Sachen gepackt – aber dann doch beschlossen zu bleiben: Sie habe sich in einem Schockzustand befunden. Noch weniger als den Beginn der Invasion habe sie aber die Reaktionen ihrer Nachbar:innen glauben können.

Viele im Dorf hatten schon immer Verwandte in Russland, waren für den Einkauf, auf Besuch oder für die Arbeit ins Nachbarland gefahren. Die meisten sprachen eine Mischung aus Russisch und Ukrainisch, hätten russisches Fernsehen geschaut, sagt Jewdokienko. Sie selbst habe bei der Präsidentschaftswahl 2019 Wolodimir Selenski gewählt: «Ich habe ihn mein ganzes Leben lang im Fernsehen gesehen. Er war sehr talentiert, und ich mochte ihn einfach als Person.»

Familie Jewdokienko in einer Flüchtlingsunterkunft in Kyjiw
«Bisher sind wir nur zur Apotheke gegangen und in einen Laden, um Brot zu kaufen. Sonst sind wir nirgendwohin»: Familie Jewdokienko in einer Flüchtlingsunterkunft in Kyjiw.

Im Nachhinein fühle es sich an, als habe sie die anderen in Kowaliwka nie richtig gekannt. Die ersten russischen Truppen hätten die Ortschaft bereits Anfang März – wenige Tage nach Kriegsbeginn – erreicht. «Ich würde sagen, dass sich 99 Prozent in unserem Dorf darüber gefreut haben. Einige begrüssten die Soldaten, schickten ihre Kinder raus, um ihnen Süssigkeiten zu geben», erzählt Jewdokienko. Unabhängig belegen lassen sich die Schilderungen nicht. Bis auf einige wenige Aufnahmen mussten die drei aus Sicherheitsgründen alle Fotos und Nachrichten auf ihren Handys löschen, die an den russischen Checkpoints zu noch mehr Fragen hätten führen können.

«Ende März wurde das Internet abgeschaltet», sagt Jewdokienko, die in der Dorfschule Ukrainisch unterrichtete, weshalb sie von Anfang an als «ukrainischer Nazi» galt. Einige der anderen Lehrer:innen hätten mit den Russen kooperiert. Im Mai 2022 wurde die Schule ins russische Bildungssystem eingegliedert. Weil sie sich geweigert habe, die neuen Vorgaben zu befolgen, hätten die Besatzer sie geschlagen, erzählt Jewdokienko.

Einige Monate später habe sie einen Job als Verkäuferin in einem kleinen Supermarkt in der nahe gelegenen Kleinstadt Swatowe gefunden – als Lehrerin wollte und konnte sie unter der Besetzung nicht mehr arbeiten. Jewdokienko zeigt auf ihrem Smartphone Fotos, die sie hinter der Ladentheke zeigen. Auf den Infotafeln sind die Preise für die Waren in Rubel angegeben. Im Zuge der Gegenoffensive hat die ukrainische Armee im September diverse Orte in der angrenzenden Region Charkiw zurückerobert. «Auch wir haben bis zuletzt darauf gewartet, dass unsere Armee uns befreit», sagt Tochter Daria Jewdokienko.

Doch die Befreiung kam nicht. Die mit Spannung erwartete und vom Westen mit Waffen und Ausbildung unterstützte Gegenoffensive habe nicht den erwarteten Durchbruch gebracht, räumte Präsident Selenski Anfang Dezember in einem Interview mit der Nachrichtenagentur AP ein. Mittlerweile befinde man sich in einer neuen Phase des Krieges – der Winterphase mit neuen Herausforderungen. Armeechef Waleri Saluschni sprach vor einigen Wochen hingegen von einer Pattsituation an der Front.

«Schweigen, nicken, lügen»

Die Zeit unter der russischen Besetzung beschreiben die drei Frauen als eine ohne Recht, Ordnung oder Gesetze. «Alles hängt von der Willkür der Soldaten ab», sagt Daria Jewdokienko. Bald nach Kriegsbeginn hätten sie angefangen, verlassene Häuser zu plündern oder dort einzuziehen. Jewdokienko berichtet von einem grossen Gefühl der Unsicherheit, das sie als junge Frau verspürte, von den Anmachsprüchen betrunkener Soldaten und einem Übergriff, dem sie knapp entkam. «Ich begann, mich in einer Wohnung in Swatowe zu verstecken, so wie viele andere meiner Freundinnen auch», sagt sie. Während sie erzählt, bricht die Grossmutter in Tränen aus.

Nach und nach begannen die von den Besatzern kontrollierten Behörden, den Bewohner:innen neue Reisepässe auszustellen. «Die meisten haben ihre ukrainischen Pässe freiwillig eingetauscht», sagt Mutter Olena. Der Druck auf die Familie stieg. «Ich bin zornig wegen allem, was wir durchgemacht haben. Weil Nachbarn, mit denen wir unser ganzes Leben verbracht haben, uns für Geld denunziert und verraten haben.» Hoffnung gab ihr in der schwierigen Zeit das Radio, über das die drei heimlich den ukrainischen öffentlich-rechtlichen Sender Suspilne empfingen. Und die kleinen Papiere mit den proukrainischen Botschaften – «Slawa Ukrajini» oder «Nein zum Krieg» –, die sie hin und wieder auf dem Gehweg fand, auf den Boden hingeworfen wie Müll. «Für mich hat das alles bedeutet, mir die Kraft gegeben, weiterzumachen», so Jewdokienko. Wie viele Menschen derzeit unter russischer Besetzung leben, darüber gibt es keine offiziellen Zahlen.

In den vergangenen Monaten tauchten an den Strassenlaternen von Kowaliwka weitere Zettel auf: Flyer mit Infos zu Transportmöglichkeiten «nach Russland und Europa, in die Ukraine». Sie habe eine der Nummern angerufen, berichtet Olena Jewdokienko. Der Mann am anderen Ende der Leitung erklärte, er könne sie und ihre Familie mit dem Auto abholen und bis nach Kolotilowka fahren, von wo aus sie zu Fuss über den humanitären Korridor zurück in die Ukraine könnten. «Wir wussten nicht, wie gefährlich die Reise wirklich sein würde, nur, dass es die schnellste und billigste Möglichkeit war mit der Grossmutter im Rollstuhl.»

Eine Woche später hielt der Fahrer vor ihrem Haus, er nahm 16 000 Rubel (rund 150 Franken) pro Kopf. Fast einen ganzen Tag dauerte die Fahrt. Am Checkpoint an der Grenze von Luhansk zu Russland seien Mutter und Tochter drei Stunden lang verhört worden. «Man wird wütend. Aber man muss einfach schweigen, nicken, lügen und den Soldaten sagen: ‹Ja, ja, so wie Sie es sagen, ist es. Sie haben recht›», sagt Daria Jewdokienko. An der Grenze zur Ukraine seien kaum Fragen gestellt worden.

In Krasnopillja seien nach den Jewdokienkos Hunderte weitere Menschen aus den besetzten Gebieten angekommen, sagt Katerina Arisoy vom Freiwilligenzentrum. Sie mache sich Sorgen, weil die Aufmerksamkeit und die Spendenbereitschaft im Ausland abgenommen hätten, während man auch in Kyjiw immer öfter höre, der Krieg werde wohl noch lange dauern, sei so schnell nicht zu gewinnen. «Viele meiner Freunde sind mittlerweile gestorben, wir alle sind erschöpft», meint Arisoy, «aber ich beschwere mich nicht. Solange wir kämpfen, sind wir am Leben.» Die Frage, ob sie noch immer an einen Sieg glaube, nach zehn Jahren Krieg, bejaht sie. «Aber selbst wenn wir gewinnen, wird das nicht grosse Freude bedeuten. Dafür sind zu viele Menschen gestorben.»

Im Flüchtlingsheim in Kyjiw erzählen Daria und Olena Jewdokienko, sie müssten nun ihre Dokumente erneuern. Daria will endlich ihr Informatikstudium beginnen, derzeit nutzt sie dafür noch ihr Smartphone, weil sie keinen Laptop hat. Die Mutter will einen Job suchen. «Sie haben sich noch nicht erholt», sagt Julia Sidorenko, die Leiterin des Flüchtlingsheims, das von der Organisation Save Ukraine betrieben wird. «Sie sind verzweifelt, weil sie nicht wissen, was als Nächstes passieren wird.» Jede Familie, die zu ihr komme, erhalte einen individuellen Plan für die Zeit, die sie in der Unterkunft verbringe. Aber über die Zukunft zu sprechen – dafür sei es noch zu früh.

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