Zur Lage in der Südukraine: «Ohne Waffen und Munition können wir nicht überleben»

Nr. 45 –

Durch seine Videos wurde Witalii Kim zum Symbol des Widerstands. Mit der WOZ spricht der Gouverneur von Mykolajiw über die ukrainische Gegenoffensive, den bevorstehenden Winter und den Umgang mit Kollaborateur:innen.

Witalii Kim
«Im Ausland zählt man den Krieg oder die Gegenoffensive in Tagen oder Territorien. Wir zählen in Menschenleben»: Witalii Kim. 

Witalii Kim ist seit 2020 Gouverneur der Region Mykolajiw, die im Süden der Ukraine zwischen Odesa und Cherson liegt. Teile davon wurden im Frühjahr 2022 von russischen Truppen eingenommen, doch wenige Monate darauf startete die Ukraine ihre Gegenoffensive. Seit Kriegsbeginn leitet Kim auch die regionale Militärverwaltung. Davor war er als Unternehmer in der Landwirtschaft, im Baugewerbe und in der Gastronomie tätig.

Zum Interview trägt der 42-Jährige Militärgrün, so wie die meisten Politiker in der Ukraine seit Kriegsbeginn. In der Hand hält er eine E-Zigarette. Das Gespräch findet in der Nähe des Gebäudes der Regionalverwaltung statt, das im März 2022 von einem russischen Marschflugkörper getroffen wurde. Mindestens 38 Menschen starben dabei, Dutzende wurden verletzt. Kim hatte an jenem Morgen Glück, er hatte verschlafen. Er zeigt auf das dritte Stockwerk, wo sich sein Büro befand und wo nun ein riesiges Loch im mehrstöckigen Bau klafft. «Ich sehe das als meine zweite Chance», sagt er, «wie ein Bonusleben im Videospiel.» Das Gebäude erinnere ihn tagtäglich an die Opfer, die die Menschen in seinem Land brächten. «Es erinnert mich daran, dass wir weitermachen müssen.» Während des Krieges erlangte Kim durch seine Videos in den sozialen Medien Popularität. Sie wurden zu einem Symbol für den ukrainischen Widerstand.

WOZ: Witalii Kim, vor einem Jahr konnte die ukrainische Armee beinahe den gesamten Oblast Mykolajiw und einen Teil von Cherson zurückerobern. Wie steht es um die derzeitige Gegenoffensive?

Witalii Kim: Solche Informationen fallen unter die Geheimhaltung. Nur so viel: Im Ausland zählt man den Krieg oder die Gegenoffensive in Tagen oder Territorien. Wir zählen in Menschenleben. Die Gegenoffensive könnte schneller verlaufen, aber es könnte auch mehr Opfer geben.

Erwarten Sie eine Pause für den Winter, oder wird die Gegenoffensive die ganze Zeit über weitergehen?

Das hängt nicht nur von uns ab, sondern auch von der Unterstützung durch die Europäische Union, die Nato und die USA. Wir haben bereits den Fluss Dnipro überquert, Winteroperationen sind also möglich.

Die EU hat wiederholt erklärt, weiter an der Seite der Ukraine zu stehen. Aber bald jährt sich der Kriegsbeginn zum zweiten Mal. Befürchten Sie, dass die Unterstützung mit der Zeit abnehmen könnte?

Ich denke nicht, weil wir in der Ukraine für uns alle kämpfen. Ich weiss, dass alle des Krieges müde sind, aber die EU ist ein Beispiel für Demokratie. Ich kann mir daher nicht vorstellen, dass ihre politische Unterstützung zu einem Ende kommen wird. Die humanitäre und die militärische Hilfe sind von grosser Bedeutung. Ohne sie hätten wir letztes Jahr wohl fallen können. Ohne Waffen und Munition können wir nicht überleben.

Wie steht es heute um Mykolajiws Wirtschaft?

Sie ist am Boden. Die Logistik ist zusammengebrochen, die Arbeitslosenquote liegt bei über zwanzig Prozent. Zugleich suchen alle nach Arbeitskräften für die Landwirtschaft. Das Problem ist, dass wir ein Defizit an Männern haben, weil viele in der Armee kämpfen. Hinzu kommt, dass 342 Firmen in andere Regionen abgewandert sind. 165 Unternehmen haben geschlossen. Der Arbeitsmarkt hat auch grossen Einfluss auf die Demografie. Viele Leute werden nicht zurückkommen, wenn sie hier keine Arbeit finden. Langfristig gesehen ist die Situation sehr schlecht. Dabei haben wir Rohstoffe und gute Leute. Wir waren einmal die Stadt der Schiffbauer, und es gibt viele Universitäten. Wir haben ein riesiges Potenzial, aber die militärische Situation erlaubt es uns nicht, es zu nutzen.

Was ist Ihre grösste Angst, wenn Sie an den Winter und das kommende Jahr denken?

Die grösste Angst ist, dass wir den Krieg verlieren werden. Das wärs dann. Vor etwas anderem brauchen wir uns nicht zu fürchten. Wir müssen auf unseren Sieg hinarbeiten. Alles andere spielt keine Rolle. Der Präsident hat gesagt, dass wir unser ganzes Land von den Besatzern befreien werden. Das ist unsere Hauptaufgabe, damit wir später eine stärkere Verhandlungsposition haben. Aber der Winter und die Frage, wie wir ihn überstehen, wird, denke ich, ausschlaggebend für den weiteren Kriegsverlauf sein.

Machen Sie sich Sorgen, dass die Ukraine für die USA wegen des Krieges zwischen Israel und der Hamas derzeit keine Priorität hat?

Ja, aber das übersteigt meine Position. Ich kümmere mich nicht um Dinge, auf die ich keinen Einfluss habe. Ich habe meine Aufgabe: die Sicherheit in meiner Region zu gewährleisten. Und das tue ich mit den Mitteln, die mir zur Verfügung stehen. Aber ja, ich mache mir Sorgen darüber. Diese Unterstützung ist für uns überlebensnotwendig.

Was benötigen Sie derzeit am meisten von Europa und den USA?

Waffen. Und dass ihr an uns glaubt. Ja, früher war die Ukraine ein korruptes Land, und die Mentalität vieler Leute hier stammt noch aus der Vergangenheit. Wir haben auch viele Feinde innerhalb unseres Landes. Aber wir versuchen, unser Land zu verändern.

Überall in der Ukraine gab es Fälle von Personen, die mit den Russ:innen kollaboriert haben. Was soll mit diesen Menschen passieren?

Ich schätze, dass in Mykolajiw früher vierzig Prozent der Leute nicht Russland, aber die Sowjetunion verherrlicht haben, weil wir damals alle jung waren und in der Erinnerung glücklich. Aber das hat sich geändert. Generell muss man einen Unterschied machen zwischen Unterstützern, Kollaborateuren und Verrätern. Solange die Leute den ukrainischen Streitkräften keinen Schaden zufügen, können sie in der Küche reden, worüber sie wollen. Aber Verräter, deren Taten Opfer zur Folge haben, landen im Gefängnis.

Und wie soll die Ukraine in Zukunft mit Unterstützer:innen Russlands umgehen?

Wir brauchen ein demokratisches Land, in dem alle die gleichen Rechte haben. Aber das Problem wird zwischen diesen Gruppen und jenen entstehen, die von der Front zurückkehren oder Freunde, Familie und Eigentum im Krieg verloren haben und das alles so schnell nicht vergessen werden. Diese Herausforderung wird die nächsten Generationen begleiten. Eine weitere Hürde wird sein, die Menschen, die seit über acht Jahren in den besetzten Gebieten leben, in Donezk, Luhansk, auf der Krim, gedanklich wieder zurück in die Ukraine zu holen und etwas gegen die russische Propaganda zu unternehmen. Wir müssen sie dazu bringen, die Dinge zu analysieren, einen anderen Blickwinkel einzunehmen.

Viele Leute in der Ukraine, die Russisch als Muttersprache haben, sprechen seit Kriegsbeginn nur mehr Ukrainisch. Welche Rolle spielt die Sprache für Sie?

Eine gemeinsame Sprache zu finden, kann die Nation einen. Aber es kann auch als Waffe eingesetzt werden, um die Menschen zu spalten. Jeder muss die Sprache des Landes kennen, in dem er lebt. Wie man innerhalb der Familie kommuniziert, ist eine andere Sache.

Vor kurzem war Präsident Wolodimir Selenski hier. Was haben Sie mit ihm besprochen?

Wir haben über die kritische Infrastruktur hier geredet, über die Wasserversorgung und die Versorgung mit Elektrizität – Projekte, die für die Region von grundlegender Bedeutung sind. Und darüber, dass der Staatshaushalt im nächsten Jahr viel kleiner sein wird und die Prioritäten auf der Herstellung von Waffen und Munition liegen. Aber das ist in Ordnung.

Zuletzt war immer wieder die Frage Thema, ob die Ukraine im kommenden Jahr Wahlen durchführen könnte. Was finden Sie?

Ich glaube wirklich, dass wir uns auf unseren Sieg konzentrieren müssen.

Sie halten es also für keine gute Idee, während des Krieges Wahlen abzuhalten?

Nein. Aber ich sollte das nicht weiter kommentieren.