Schweiz–EU: Der giftgrüne Pfeil

Nr. 46 –

Die Schweiz will erneut mit der EU verhandeln. Die Eisenbahngewerkschaft SEV befürchtet, dass der Bundesrat bereit sein könnte, das hiesige Bahnsystem dem Markt zu opfern.

Seit letztem Sommer fährt Flixtrain auch ab Schweizer Boden. Vom Badischen Bahnhof in Basel aus, also der Schnittstelle zwischen dem deutschen und dem hiesigen Schienennetz, können Zugreisende mehrmals wöchentlich durch Deutschland reisen. Befördert vom Privatunternehmen Flix, das mit grellgrünen Cars bereits Europas grösstes Fernbusnetz aufgebaut und damit den Eisenbahnunternehmen die Kundschaft streitig gemacht hat. Mittlerweile breitet es sich auch auf Europas Geleisen aus. Die Ticketpreise sind kaum zu unterbieten, dafür ist der Komfort gering.

Flixtrain ist auf aggressivem Expansionskurs. Und ginge es nach der EU-Kommission, wäre am Badischen Bahnhof nicht länger Endstation. Als sie Anfang Jahr zehn «Pilotprojekte» vorstellte, um «neue Schienenangebote zu etablieren», fand sich darunter auch eine neue Flixtrain-Linie zwischen München und Zürich. Deren Realisierung würde einen Paradigmenwechsel im schweizerischen Bahnsystem bedeuten: Wer auf hiesigen Schienen Personen transportieren will, muss dies heute in Kooperation mit den SBB tun – und nicht in Konkurrenz. So ist es auch im Landverkehrsabkommen mit der EU von 1999 geregelt.

Für Kritiker:innen ist der Flixtrain deshalb auch Vorbote einer gefährlichen Entwicklung. Ein giftgrüner Pfeil, der immer weiter landeinwärts geschossen kommen könnte. Und mit ihm viele neue Probleme.

Desaströse Szenarien

Mittlerweile zeichnet sich nämlich ab, dass auch das Dossier Schienenverkehr zum Paket gehört, das die Schweiz an den Verhandlungstisch mit der EU tragen will. Nachdem der Bundesrat im Mai 2021 die Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen einseitig fallen liess, probiert er es nun mit einem «Paketansatz»: Er will nicht ein einzelnes Abkommen aushandeln, das alle institutionellen Fragen (etwa Rechtsübernahme, Überwachung oder Streitbeilegung) regelt, sondern in einer ganzen Reihe von Themengebieten konkrete Abkommen erzielen. Damit wolle man «einen breiten Interessenausgleich» ermöglichen. Nach abgeschlossenen Sondierungsgesprächen informierte der Bundesrat letzte Woche darüber, dass das Aussendepartement von Ignazio Cassis noch in diesem Jahr ein Verhandlungsmandat ausarbeiten soll.

Schon im Juni läuteten beim SEV, der schweizerischen Gewerkschaft des Verkehrspersonals, die Alarmglocken. Damals berichtete der Bundesrat, dass er seine «Eckwerte für ein Verhandlungsmandat mit der EU» verabschiedet habe. Diese blieben zwar geheim, doch würden die wichtigsten Interessengruppen in eine «inländische Konsultationsstruktur» einbezogen. Ein Treffen mit dem Bundesamt für Verkehr (BAV) im Juni machte deutlich, dass auch über den Schienenverkehr verhandelt werden soll. SEV-Präsident Matthias Hartwich kritisiert, dass die Konsultation viel später als in anderen thematischen Bereichen stattgefunden hat. «Unsere Sorge ist, dass bei den Sondierungsgesprächen mit der EU schon Tatsachen geschaffen worden sein könnten, bevor man mit uns als Sozialpartner überhaupt gesprochen hat», so Hartwich.

Nun fürchten er und seine Gewerkschaft, dass die Schweiz bereitwillig einer weitreichenden Liberalisierung des Bahnverkehrs zustimmen könnte. Viele Sorgen sind mit der Aussicht auf wachsenden Wettbewerb verbunden: Dieser könnte zu akut verschlechterten Arbeitsbedingungen für das Bahnpersonal und zum Verlust von Errungenschaften wie Taktfahrplan und Generalabonnement führen. «Anscheinend ist der Bundesrat bereit, ein funktionierendes System aufs Spiel zu setzen, um das man uns in ganz Europa beneidet», sagt Hartwich.

Negativbeispiel Deutschland

Seine Warnung weiss er zu begründen. Es reiche ein Blick nach Deutschland, wo er selbst herkomme, so Hartwich: Dort wurde in den neunziger Jahren entschieden, dass die Deutsche Bahn an die Börse gehen und Gewinne erwirtschaften soll, und zwar in Konkurrenz mit Hunderten anderen Anbietern, die seither aufs Schienennetz drängen. «Bald wurde kaum mehr ins Rollmaterial investiert, die Infrastruktur zerfiel, unprofitable Strecken wurden stillgelegt – und viel Verkehr wich wieder auf die Strasse aus», so seine Kurzzusammenfassung.

Denn ein Bahnangebot, das nicht auf einem Service-public-Gedanken, sondern auf den Regeln des freien Markts beruht, entwickelt sich nach einer simplen Logik: Auf intensiv genutzten Strecken – wie sie etwa auch Flixtrain bedient – liefern sich die Marktteilnehmer einen Wettbewerb. Wo hingegen keine Gewinne winken, verkümmert das Angebot. Auch ein staatsnahes Unternehmen wie die SBB kann das nur schwer kompensieren, wenn ihm die Konkurrenz auf den Paradestrecken die Einnahmen abgräbt.

Damit zusammenhängend sorgt sich Hartwich auch um die Beihilfevorschriften der EU, die von der Schweiz teils übernommen werden sollen. «Im Fall des Schienenverkehrs könnte das bedeuten, dass der Bund manche Bereiche, wie zum Beispiel den Güterverkehr, nicht länger subventionieren darf», sagt Hartwich. Damit drohe eine Rückverlagerung von Güter- und Personenverkehr von der Schiene auf die Strasse.

Liberalisierungsturbo Füglistaler

Aber wer in der Schweiz könnte überhaupt eine Liberalisierung wollen? Die SBB jedenfalls nicht. Deren Pressestelle verweist auf eine Stellungnahme von 2019, wonach sich der öffentliche Verkehr bei einer Marktöffnung auch durch «die besten flankierenden Massnahmen» nicht ausreichend würde schützen lassen. Auch vonseiten des Parlaments gibt es keinen Liberalisierungsdruck: Vor fünf Jahren hat es die damaligen Marktöffnungsbestrebungen des Bundesrats ausgebremst. In einem Bericht hielt dieser dann 2021 fest, dass die geltende Marktordnung weitergeführt werden solle.

Wer sich zu Liberalisierungsschritten positiv äussert, ist BAV-Direktor Peter Füglistaler. «Mit etwas gutem Willen liesse sich Flixtrain problemlos ins Schweizer Netz eingliedern», sagte er im August gegenüber CH Media. Etwas mehr Wettbewerb würde dem öffentlichen Verkehr in der Schweiz guttun, schrieb er zudem vor einigen Monaten auf Linkedin. «Wir wollen ja, dass das Geld den ÖV-Kundinnen und -Kunden zugute kommt – und nicht den Monopolisten und den Gewerkschaften.» Eine Gesprächsanfrage der WOZ beantwortet das Bundesamt negativ und verweist an das Aussendepartement EDA. «Im Moment wird noch gar nicht verhandelt», heisst es von dort ausweichend. Insofern sei es falsch, beim Schienenverkehr von «Verhandlungsmasse» zu sprechen.

Klar ist: Europas Bahngewerkschaften kämpfen schon lange gegen einen beständigen Liberalisierungsdruck im internationalen Zugverkehr. Die Marktöffnung ist europaweit eigentlich seit 2010 vorgesehen, aber die meisten Mitgliedstaaten haben sie noch nicht oder nicht vollständig implementiert. Weiterhin dominieren Kooperationsmodelle zwischen einzelnen Ländern. «Wo die Marktideologie aber durchgesetzt wurde, hat sich die Situation praktisch überall verschlechtert», sagt Olivia Janisch, stellvertretende Vorsitzende der österreichischen Verkehrsgewerkschaft Vida: bei den Arbeitsbedingungen, der Bahnqualität, teils auch den Preisen – und speziell bei der Sicherheit.

Österreich ist das Land, in dem die Menschen jedes Jahr europaweit am zweitmeisten Eisenbahnkilometer zurücklegen – hinter der Schweiz. Geht es ums hiesige Bahnnetz, kommt Janisch ins Schwärmen. «Ein Leuchtturm» sei dieses, das beste Eisenbahnsystem Europas. «Deshalb müsst ihr in der Schweiz jetzt unbedingt hart bleiben», sagt Janisch. «Es wäre politisch grob fahrlässig, das einfach so aufzugeben.» Sie möchte allerdings präzisieren: Nicht die EU an sich sei das Problem, sondern die EU-Kommission, deren Exekutivorgan. «Diese verfolgt einen völlig ideologiegetriebenen Liberalisierungskurs», so Janisch. Und indem sie immer wieder forsch voranschreite, missachte die Kommission nicht selten den Willen des EU-Parlaments – also des europäischen Gesetzgebers.

«Wir sind nicht gegen eine Öffnung, wir sind für Europa», betont SEV-Präsident Hartwich. Seine Gewerkschaft wolle deshalb für konstruktive Gespräche Hand bieten. Ein bisschen Zeit bleibt dafür noch: Bis Ende Jahr will der Bundesrat über den Entwurf für ein Verhandlungsmandat entscheiden.

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Kommentare

Kommentar von Philipp Horn

Do., 16.11.2023 - 18:22

Liebe Schweizer,macht nicht die selben Fehler, wie wir und runiet Euren vorbildlich Bahnverkehr nicht .

Kommentar von Claude Racine

So., 19.11.2023 - 17:02

Salut WOZ
Bitte unbedingt an diesem Thema dran bleiben. Merci