Ken Loach: Auf wessen Seite stehst du?

Nr. 47 –

Mit sozialem Kapital gegen rassistische Affekte: Wird «The Old Oak» wirklich der letzte Film von Ken Loach sein? So ganz sicher ist sich der 87-Jährige nicht. Sonst redet er aber Klartext.

Filmstill aus «The Old Oak»: Gäste im nordenglischen Pub The Old Oak
«Wer zusammen isst, hält zusammen»: Das nordenglische Pub The Old Oak verkörpert im gleichnamigen Film den unerschütterlichen Glauben an das Gute auch in Krisenzeiten.  Still: Filmcoopi

An seinem Gesichtsausdruck lässt sich ungefähr ablesen, wie oft er sich den Vorwurf in sechzig Jahren Regietätigkeit bereits anhören musste. Die Antwort klingt dann auch entsprechend ungeduldig: «Es ist einfach. Schauen Sie sich die Fakten an, reden Sie mit den Leuten – man findet sie mühelos in jeder britischen Stadt. Bei der Essensausgabe, auf den Beratungsstellen, in den Selbsthilfegruppen gegen häusliche Gewalt.»

Der ungeduldige Mann ist Ken Loach. Zusammen mit seinem langjährigen Drehbuchautor Paul Laverty stellte er im August in Locarno seinen neuen und vielleicht letzten Film, «The Old Oak», vor. Der Vorwurf, den er sich hoffentlich bald nicht mehr anhören muss, ist der, dass er mit seinen Filmen gefälligen, linken Populismus betreibe, «kalkuliert und vorhersehbar», stets demselben «ideologischen Baukasten» entsprungen.

Ist das Populismus?

Dass die NZZ, der diese Formulierungen entnommen sind, Loachs neustem «altlinkem Rührstück» nicht viel abgewinnen kann, überrascht niemanden, und auf die Ironie, dass das NZZ-Feuilleton vorhersehbare ideologische Baukästen beklagt, braucht man jetzt nicht im Detail einzugehen. Der Vorwurf an den thematisch, politisch und formal durchaus beständigen Loach kommt aber vielleicht auch nicht von ungefähr: In der Regel weiss man schon recht genau, was einen in einem Film des mittlerweile 87-jährigen Briten erwartet. Und ist dann aller geglaubten Abhärtung gegen die Ungerechtigkeiten der Welt zum Trotz doch jedes Mal tief berührt von der Widerständigkeit von Loachs Protagonist:innen.

Ist das Populismus? Es liegt wohl im tränenden Auge der Betrachter:innen. Loach und Laverty weisen denn auch den Vorwurf, sie würden stets nur die erschütterndsten Schicksale aufgreifen und zu manipulativen Agitationsstücken formen, entschieden zurück: «Das ist ein Argument, das nur bei Leuten zieht, die keine Ahnung haben. Denen, die so was behaupten, sagen wir: Kommt mit, und ihr werdet sehen, dass die wahren Geschichten noch viel schlimmer sind.»

Portraitfoto von Ken Loach
Ken Loach, Regisseur

Ein anderer Vorwurf, den Loach und Laverty immer wieder hören: dass sie im Grunde Filme über Arme für Reiche machen würden. Die Standing Ovations, die Loach in Locarno regelmässig zuteilwerden, entkräften das nicht unbedingt, doch er wiegelt ab: «Den Leuten, die Filmfestivals besuchen, mag es etwas besser gehen als anderen, aber am Ende läuft es doch auf die Frage aus dem alten Gewerkschaftslied hinaus: ‹Which side are you on?› – Auf wessen Seite stehst du?» Und Filme für Reiche? Das sei schlicht eine Lüge, ergänzt Laverty. Er erzählt von den Gewerkschaftsvertreter:innen, die sie am Tag zuvor zu einer Diskussion getroffen hätten, und von den unzähligen Vorführungen in Gemeinden oder auch in Gefängnissen: «Die Leute dort kennen unsere älteren Filme und die Figuren teils besser als ich selber. Und sie sagen mir, dass das auf der Leinwand ihr eigenes Leben sei», so Laverty. «I, Daniel Blake» beispielsweise wurde nach der regulären Kinoauswertung noch bei über 600 Community-Screenings gezeigt.

Die Armenküche im Pub

Gemeinschaft ist denn auch das Hauptthema von «The Old Oak». Die Geschichte spielt 2016 in einem ehemaligen Kohlengrubendorf im Norden Englands und handelt von der Ankunft einer Gruppe von Geflüchteten aus Syrien im strukturell bereits angeschlagenen Ort, dessen Bewohner:innen unter anderem um das Überleben des letzten Pubs bangen, der «Alten Eiche». Der Film veranschaulicht relativ wertungsfrei, wie auf dem von Neoliberalismus und Privatisierungen gebeutelten Terrain rassistische Affekte leichtes Spiel haben. Loach und Laverty zeigen aber auch auf sehr berührende Weise, wie aus diesem Aufeinandertreffen neues soziales Kapital geschlagen werden kann: etwa, wenn TJ (Dave Turner), der Inhaber des Pubs, sich mit der Syrerin Yara (Ebla Mari) anfreundet und mit ihr gegen einigen Widerstand eine Armenküche einrichtet – frei nach der beim Streiken gewonnenen Minenarbeiterweisheit «Wer zusammen isst, hält zusammen».

Viel Dramatik bietet die Erzählung nicht. Wie viele von Loachs besten Werken basiert sie auf einem präzise beobachteten Milieu, authentischen Figuren und auf dem unerschütterlichen Glauben an die Möglichkeit des Guten auch in Krisenzeiten. Anders als in Loachs letzten Filmen werden hier auch nicht direkt die Auswüchse der neoliberalen Tory-Politik angeprangert – die Gig Economy in «Sorry We Missed You», die unzureichende Sozialpolitik in «I, Daniel Blake». Stattdessen entwirft «The Old Oak» ein plausibles und inspirierendes Gegenszenario zu den allzu erfolgreichen Erzählungen des Rechtspopulismus überall, wonach die Einwanderung schuld an der ganzen Misere sei.

«Was die herrschende Klasse am meisten fürchtet, ist der Verlust ihrer Macht», sagt Loach im Gespräch. «Die grösste Bedrohung geht dabei vom organisierten Widerstand aus. Was tun sie also? Sie lenken vom Thema ab.» Es ist seine Antwort auf die Frage, ob sein Film, obwohl vor dem Brexit angesiedelt, eigentlich von der Gegenwart spreche. Und es kommt einem gerade in der Schweiz sehr bekannt vor, wenn Loach nun von rechten Medien in England erzählt: «Sie schreiben darüber, dass einer Familie von Einwanderern ein Haus zugesprochen wurde, während heimische Familien ohne Haus blieben; dass da Dschihadisten kämen oder zumindest Leute, die einem die Jobs, die Sozialleistungen und die Arzttermine wegschnappen würden. Und dass die Lehrer keine Zeit mehr für die britischen Kinder hätten, weil sie den ausländischen Kindern Englisch beibringen müssten. Sie erzählen diese Geschichten immer wieder und erzeugen dadurch Rassismus. Wenn die Menschen untereinander gespalten sind, ist die herrschende Klasse sicher vor ihnen. So einfach ist es.»

Auch der Brexit sei dann bloss ein weiteres Beispiel für diese Klassentaktik gewesen, mit dem einzigen Ziel, den Reichtum und die Privilegien derer zu bewahren, die an der Macht seien. Nur wenn sich die Wut der Benachteiligten gegen jene richtet, die noch weiter unten sind, können sich jene oben in Sicherheit fühlen.

Solidarität ist nicht Wohltätigkeit

Eines der wenigen Mittel dagegen, so das Hauptargument von «The Old Oak», sei die Solidarität der Menschen untereinander. Es gilt, das rechtspopulistische Narrativ zu überwinden, wonach die Ressourcen nicht für alle ausreichen würden. Die Ressourcen sind da, bloss werden sie von einer Klasse gehortet, der es irgendwie gelungen ist, sich selbst und alle anderen davon zu überzeugen, dass dies ihr eigenes Verdienst sei und jegliche Umverteilung nach unten ein Akt der Wohltätigkeit wäre. Aber Wohltätigkeit sei kein Ersatz für vorenthaltene Gerechtigkeit, sagt Laverty. Und Loach ergänzt: «Die herrschende Klasse liebt es, wohltätig zu sein, weil sie so zeigen kann, welch gute Leute sie sind – während sie gleichzeitig alle ausnutzen, die sie nur können.»

Allem Klassenkampf zum Trotz endet «The Old Oak» mit einer für Loach und Laverty fast untypisch versöhnlichen Note. Angeblich soll es Loachs letzter Film bleiben. Über die Frage, ob es für einen politischen Filmemacher nicht besonders schwierig sei, aufzuhören, wo doch die richtigen Probleme erst gerade anzufangen scheinen, lachen beide etwas bitter. Es sei ein Privileg, dass er diese Arbeit habe machen dürfen, sagt Loach dann, aber die Jahre hätten auch ihren Tribut gefordert: «Vor dem ersten Kaffee am Morgen erscheint mir die Vorstellung, noch einen Film zu machen, schrecklich. Ein, zwei Espresso später denk ich mir dann manchmal: ‹Fuck it›, vielleicht mach ichs doch noch mal. Aber ich rechne mal nicht damit.»

«The Old Oak». Regie: Ken Loach. Grossbritannien 2023. Jetzt im Kino.