Sans-Papiers: Ein kollektives Mammutprojekt
Über achtzig Autor:innen ergänzen mit dem Buch «Von der Kraft des Durchhaltens» den schweizerischen Migrations- und Sans-Papiers-Diskurs um eine dringend nötige Perspektive: die der Sans-Papiers selbst.
Sie sind gezwungen, im Unsichtbaren zu bleiben. Schätzungsweise 100 000 Menschen leben als Sans-Papiers in der Schweiz, in Basel sind es etwa 4000. Eine Aufenthaltsbewilligung ist ihnen verwehrt, und viel zu selten werden ihre Positionen und Stimmen in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Das soll sich mit dem 350-seitigen Buchprojekt «Von der Kraft des Durchhaltens» ändern.
Als Darlene Monteiro Anfang 2020 von der Idee für eine Publikation von Sans-Papiers über Sans-Papiers erfährt, ist für sie sofort klar, dass sie mitwirken möchte. Zu diesem Zeitpunkt ist es noch nicht lange her, dass ihr ein Freund die Anlaufstelle für Sans-Papiers Basel empfohlen hat. Zuerst sei sie skeptisch gewesen: «Ich hatte Angst, dass mich die Polizei auch dort kontrollieren könnte. Dass auch die Anlaufstelle kein sicherer Ort für mich ist», erzählt die Vierzigjährige. Heute empfindet sie es aber anders: «Sie ist für mich zu einer Art Basis geworden. Oder mehr noch: Die Anlaufstelle fühlt sich an wie Familie.»
Vielfältige Textformen
Über die Anlaufstelle lernte sie auch die fünf selbstorganisierten Sans-Papiers-Kollektive von Basel kennen. Monteiro, die mit einem Tourist:innenvisum aus Brasilien in die Schweiz eingereist ist und jetzt ohne Aufenthaltsbewilligung in Basel leben muss, wird zur Koordinationsperson des «Colectivo Brasil». Und sie beginnt als Teil der Redaktionsgruppe mit achtzig weiteren Autor:innen in gemeinsamen Schreibprozessen Texte zu erarbeiten, zu diskutieren und zu überarbeiten. Drei Jahre wird der intensive Entstehungsprozess der Publikation dauern.
Das Buch, das die Sans-Papiers-Kollektive Basel in Zusammenarbeit mit der Basler Anlaufstelle und der Berner Anny-Klawa-Morf-Stiftung im Mai dieses Jahres herausgegeben haben, ist eine Art politisches Manifest. Es überzeugt mit einer Vielfalt an verschiedenen Texten, Bildcollagen und einer Fotostrecke. Die Publikation gibt Einblick in den prekären Alltag von Menschen, die mehrfacher Diskriminierung ausgesetzt sind, und enthält aufgezeichnete Lebenswege oder biografisch-lyrische Texte. Aber auch politische Reflexionen zu rassistischen Polizeikontrollen, Forderungen nach Sichtbarkeit, Anerkennung und Bewilligungen sowie konkrete Handlungsideen für Leser:innen mit geregeltem Aufenthaltsstatus reihen sich in den Kapiteln «Sans-Papiers sein», «Alltag als Sans-Papiers», «Beziehungen ohne Bewilligungen», «Die Organisation der Sans-Papiers-Kollektive Basel», «Kritik an Kapitalismus und Rassismus» und «Unser Kampf um Regularisierung» aneinander.
Im Vordergrund stand der Anspruch, das erste Buch über Sans-Papiers zu veröffentlichen, das auch von Sans-Papiers geschrieben wird. «Aber natürlich gab es gewisse Dinge, die auch wir von der Anlaufstelle oder andere Unterstützer:innen beigetragen haben», sagt Katharina Boerlin, Koleiterin der Anlaufstelle für Sans-Papiers Basel. Dabei sei es vor allem darum gegangen, den Beteiligten Gefässe oder Räume für den Schreibprozess zur Verfügung zu stellen. Aber auch um die Tatsache, dass für so ein Projekt ein Verlag gefunden werden und auch Geld gesucht werden muss. «Das sind Aufgaben, die uns leichter fallen oder teilweise für Sans-Papiers nicht machbar sind: Sei es, weil die Anschrift fehlt oder kein Bankkonto vorhanden ist, und weil wir gewohnt sind, in diesem System zu funktionieren», sagt Boerlin.
Eine Person wie alle anderen
Darlene Monteiro ist überzeugt: «In zwanzig oder dreissig Jahren wird man zurückschauen und ‹Von der Kraft des Durchhaltens› als historischen Meilenstein bezeichnen. Und ich bin stolz, ein Teil davon zu sein.» Zu Beginn des Projekts habe sie sich noch nicht lange in der Schweiz aufgehalten: «Meine persönliche Geschichte kam mir damals zu wenig wichtig vor. Es gab viele andere Sans-Papiers, die schon viel mehr erlebt und auch mehr zu erzählen hatten», sagt sie. Im Laufe der letzten Jahre habe sie gelernt, dass der Status als Sans-Papiers sie nicht definiere: «Ich bin eine Person wie alle anderen.»
Trotzdem, sagt sie, finde sie sich in den Alltagsschilderungen im Buch wieder. Vieles von dem, was die Autor:innen beschreiben, habe sie selbst unterdessen genauso erlebt. Es komme ihr ein wenig so vor, als erzählten die individuellen Geschichten zugleich eine gemeinsame Geschichte.
«Wir bringen einen Koffer voller Erwartungen und Hoffnungen mit, wenn wir in die Schweiz einreisen», sagt Monteiro, «und dieser Koffer wiegt schwer. Wir können eigentlich nur enttäuscht werden.» Es sei nicht einfach, sich in der Schweiz wohlzufühlen. Diese Schwere habe in ihren Augen das Buch geprägt. Aber das Projekt zeichne sich auch durch viel Stärke aus.
Der Titel der Publikation stammt denn auch von ihr: «‹Durchhalten›: Das ist ein wichtiges Wort für uns. Wir kämpfen alle gemeinsam für die Regularisierung unseres Aufenthaltsstatus», so Monteiro. Und das sei längst nicht die einzige, aber eine der wichtigsten Forderungen: «Dieses Ziel vor Augen zu haben, lässt uns nicht aufgeben.»
Ein ermüdender Kampf
Am Projekt mitgewirkt hat auch Alieu Ceesay, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. «Ich wünsche mir, irgendwann nicht mehr über die Schulter schauen zu müssen aus Furcht vor einer Polizeikontrolle, die im schlimmsten Fall meine Abschiebung bedeutet», sagt er. Ceesay ist Koordinationsperson des englischsprachigen Kollektivs. Und er hat in «Von der Kraft des Durchhaltens» auch seine persönliche Lebensgeschichte preisgegeben. Was ihm nicht leicht fiel: «Ich machte mir am Anfang Sorgen – wie viele der Beteiligten –, dass die Polizei herausfinden könnte, welche Identitäten hinter den jeweiligen Geschichten stecken.» Dann aber habe der Drang überwogen, trotzdem mitwirken zu wollen. «Sonst wird sich nichts verändern», ist er überzeugt.
Seine persönliche Geschichte ist die eines ermüdenden Kampfes, der bis heute anhält. Sie beginnt in Gambia und führt über Italien in die Schweiz. In seiner Heimat hatte sich Alieu Ceesay zu zwölf Jahren in der Kommunikationseinheit der Armee verpflichtet, bis es 2006 unter dem damaligen Verteidigungschef zu einem Militärputsch kam. Ceesay beschreibt im Buch, wie er während des versuchten Staatsstreichs unter Todesandrohung gezwungen wurde, die Kommunikationskanäle im Land zu unterbrechen. Als der Putsch scheiterte, habe er sich wiederum vonseiten der Regierung dem Vorwurf des Hochverrats ausgesetzt gesehen. «Ich hatte keine andere Wahl, als alles zurückzulassen und aus dem Land zu fliehen, denn mein Leben war in Gefahr», schreibt er im Buch. Nach seiner Flucht in die Schweiz musste Ceesay immer wieder Beweise liefern, dass er in Gambia im Militär gedient hatte, doch das Staatssekretariat für Migration war irgendwann nicht mehr bereit, seinen Fall weiter zu prüfen.
Seit der Erscheinung des Buchs habe sich zwar an seiner persönlichen Situation nicht viel verändert, sagt Ceesay. Aber seine Lebensgeschichte, die er schon so oft erzählen musste und die ihm so oft nicht geglaubt wurde, veröffentlicht zu wissen, gebe ihm ein Stück Selbstbestimmung zurück: die Deutungshoheit über die eigene Wirklichkeit.