Urban Citizenship in Bern: Stadtluft zum Atmen

Nr. 13 –

Was in den USA zum Teil bereits realisiert wurde, wird nun auch in einigen Schweizer Städten konkreter: eine städtische Identitätskarte für alle StadtbewohnerInnen – also auch für Sans-Papiers. Zum Beispiel in Bern.

Mari­anne Kilchenmann und Karin Jenni, Mitinitiantinnen der Berner «City Card»: Was, wenn ein städtischer Ausweis allen hier Wohnhaften den Zugang zur Gesellschaft gewährleistet?

Eine einfache, aber bestechende Formel bewegt derzeit eine ganze Reihe von Städten in der Schweiz. Sie lautet: Wer in der Stadt lebt, soll an ihr auch teilhaben dürfen. Das mag zunächst wie eine Selbstverständlichkeit klingen, birgt tatsächlich aber ein gewisses revolutionäres Potenzial. Denn dahinter steckt die Forderung, illegalisierte Menschen ein Stück weit zu entkriminalisieren. Eine städtische Identitätskarte soll dies möglich machen.

So auch in Bern. «Es gibt hier Tausende Menschen, die im Versteckten leben müssen», sagt Martina Gonzalez. Ihren richtigen Namen will die Kolumbianerin nicht preisgeben, denn seit fast zehn Jahren lebt sie ohne Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz. Einst hatte sie als Direktionsassistentin gearbeitet, heute verdient sie ihren Lebensunterhalt als Hausarbeiterin. Nur zu gut kennt sie die unzähligen kleinen Situationen, in denen Sans-Papiers vor Augen geführt wird, dass sie nicht wirklich zur Gesellschaft dazugehören: Ein Bankkonto eröffnen? Sich im Spital behandeln lassen? Einen Taschendiebstahl bei der Polizei melden? Über allem schwebt die Angst, erwischt, bestraft und abgeschoben zu werden. Schnell türmen sich vermeintliche Nebensächlichkeiten zu kaum überwindbaren Hindernissen auf.

Das wollen die InitiantInnen der Berner «City Card» ändern. Was, wenn man sich innerhalb einer Stadt darauf einigen würde, dass das Zusammenleben nicht vom jeweiligen Aufenthaltsstatus der StadtbewohnerInnen bestimmt werden soll und ein städtischer Ausweis allen hier Wohnhaften den Zugang zur Gesellschaft und zu ihren Institutionen gewährleistet? «Eine solche Karte wäre eine unglaubliche Erleichterung für uns alle», sagt Gonzalez.

Das Beispiel New York

Das Prinzip der Stadtbürgerschaft – Urban Citizenship – stammt ursprünglich aus den USA. Insbesondere das Beispiel New York liess hierzulande viele Leute aufhorchen: Seit Anfang 2015 können sich New Yorker StadtbewohnerInnen ungeachtet von Herkunft und Aufenthaltsstatus einen Ausweis ausstellen lassen, den nicht nur Schulen, Bibliotheken oder private Unternehmen anerkennen, sondern auch die kommunale Polizeibehörde (siehe WOZ Nr. 2/2017 ). Diese ID macht die Stadt dadurch zu einem physischen Raum, in dem gewisse Ausschliessungsmechanismen ausgehebelt werden, die in der staatlichen Gesetzgebung eigentlich verankert wären. Eine Idee, die mittlerweile auch in mehreren Schweizer Städten einiges ins Rollen gebracht hat: Gruppierungen und Organisationen in Zürich, Basel, Genf und Neuenburg verfolgen entsprechende Pläne.

Hauptmotor des Anliegens in Bern ist die Beratungsstelle für Sans-Papiers. «Wir hörten Anfang letzten Jahres erstmals von der New Yorker Stadt-ID», sagt Karin Jenni (35), Kommunikationsverantwortliche des kleinen Vereins. «Da dachten wir sofort: Das ist auch ein Ansatz für uns.»

Sie sitzt neben Martina Gonzalez an einem Tisch im sehr überschaubaren Büro der Beratungsstelle im dritten Stock eines Hochhauses am Eigerplatz. Auch Marianne Kilchenmann hat sich zum Gespräch gesellt. Die Sechzigjährige ist seit der Gründung des Vereins 2005 als Beraterin tätig. Immer grösser wurde seither die Zahl der Menschen, denen die Beratungsstelle in schwierigen Situationen mit Rat und Tat zur Seite steht. Mittlerweile finden pro Jahr zwischen 2000 und 2500 Beratungen statt für insgesamt etwa 700 bis 900 Personen aus dem ganzen Kanton. Eine Handvoll Angestellte sowie eine ganze Schar Freiwillige helfen den Betroffenen, wo sie können: beim Abschliessen einer Krankenversicherung, bei der Einschulung ihrer Kinder oder bei Eheschliessungen. Dinge, die gemäss Bundesverfassung eigentlich allen Menschen in der Schweiz zustehen müssten. «Trotzdem müssen wir immer einen Riesenaufwand betreiben, um solche grundlegenden Sachen zu ermöglichen», sagt Jenni.

Sie schätzt, dass sich nur gerade etwa zehn Prozent der Sans-Papiers im Kanton an die Beratungsstelle wenden. Gonzalez bestätigt diesen Eindruck: «Viele haben nicht den Mut, sich hier zu melden», sagt die 54-Jährige. «Sie fürchten, dadurch Probleme mit dem Gesetz zu bekommen.» Nach Schätzung der Beratungsstelle leben allein im Kanton Bern zwischen 7000 und 9000 Personen ohne Aufenthaltsbewilligung – die meisten von ihnen in den urbanen Zentren.

Offene Ohren in der Politik

Als sie vor einem Jahr anfingen, sich mit Urban Citizenship auseinanderzusetzen, stellte die Berner Beratungsstelle fest, dass dieselbe Idee in Zürich bereits seit einigen Monaten am Gedeihen war. Namentlich die Plattform «Wir alle sind Zürich» hatte das Thema aufs Tapet gebracht. «So luden wir im Mai jemanden aus Zürich zu uns ein, um mehr über das Projekt dort zu erfahren», sagt Jenni. Dann ging es plötzlich schnell: Interessierte Sans-Papiers wurden zu einem Treffen in die Beratungsstelle eingeladen, um sich über das Potenzial der City Card auszutauschen. Und vor allem auch, um die wichtigsten Bedürfnisse der Betroffenen zusammenzutragen. Es entstand eine lange Liste, die weit über Fragen zu Gesundheit und Bildung hinausreicht: «Wie können wir ohne Angst ein Handyabo kaufen, das Halbtax lösen, einen Arbeitsplatz finden, heiraten, eine Geburtsurkunde erstellen lassen, einen Platz in der Kita beantragen? Wie wehren wir uns gegen Ausbeutung am Arbeitsplatz?», zählt Gonzalez auf.

Nach einer solch vielfältigen Palette von Anliegen soll die City Card nun ausgerichtet werden. Das braucht Zeit. Insgesamt gehe es darum, bei den betreffenden Behörden und Institutionen einen flexibleren Ansatz im Umgang mit Sans-Papiers zu initiieren, sagt Jenni. «Dies liegt schliesslich im Interesse sämtlicher Beteiligten», ist sie überzeugt. Bei Verantwortlichen des Bereichs «Einwohnerdienste, Migration und Fremdenpolizei» in der Stadtverwaltung stiess man mit der Idee durchaus auf offene Ohren. Und auch an fehlendem politischem Rückhalt sollte das Projekt nicht scheitern: Sowohl im Gemeinde- als auch im Stadtrat darf man sich auf eine Mehrheit verlassen, die sich hinter die Idee stellen würde.

Seit Beginn der Diskussionen ist die Beratungsstelle im Austausch mit StadträtInnen unter anderem vom Grünen Bündnis, wo bereits ein möglicher Vorstoss diskutiert wurde. Vor rund drei Monaten, mitten im Wahlkampf um das Stadtpräsidium, sagte auch der mittlerweile gewählte Alec von Graffenried (Freie Grüne Liste) in die Kameras von Tele Bärn: «Ich finde das eine gute Idee.» Trotz guter Erfolgschancen verzichten die InitiantInnen aber vorläufig darauf, einen Vorstoss für ihr Projekt einzureichen. Jetzt soll nämlich nichts überstürzt werden: Es gilt, zuerst die tatsächlichen Möglichkeiten genau einzuschätzen und herauszufinden, in welcher Umsetzung die City Card überhaupt sinnvoll ist.

Und die Kantonspolizei?

Denn eine vorschnelle Lösung könnte sogar zu einem Risiko für Frauen und Männer mit fehlender Aufenthaltsbewilligung werden, etwa indem persönliche Daten an ungewünschte Stellen dringen könnten. «Für uns ist klar: Die City Card wird von einer unabhängigen Stelle ausgestellt werden müssen», sagt Jenni. Und fast genauso wichtig: «Die Karte muss für alle in der Stadt attraktiv sein, nicht nur für Sans-Papiers!» Eine Idee sei etwa, kulturelle Institutionen oder auch soziale Aspekte in die City Card einzubeziehen. Einen simplen AusländerInnenausweis mit neuem Anstrich will man schliesslich nicht lancieren.

Ausgerechnet dort, wo für Sans-Papiers die grösste Einschränkung im Alltag besteht, zeichnet sich in Bern allerdings ein Knackpunkt ab: bei der Zusammenarbeit mit der Polizei. «Das Schlimmste ist, dass man ohne Aufenthaltsbewilligung ständig darauf bedacht ist, das Risiko einer Polizeikontrolle so gering wie möglich zu halten», erklärt Gonzalez. Dies bedeutet für die Betroffenen eine massive Beschneidung der Bewegungsfreiheit.

Nun könnte ihnen die City Card einerseits plötzlich sehr viel mehr Luft zum Atmen verschaffen und andererseits ein positiveres Verhältnis zur Polizei ermöglichen. Auch diese dürfte sich davon Vorteile erhoffen, weil dadurch mehr Gesetzesverstösse zur Anzeige kommen würden, mehr ZeugInnenaussagen eingeholt werden könnten oder sich eine erhöhte Transparenz in bestimmten Gewerbestrukturen erwirken liesse. Bloss hat die Stadt Bern keine eigene Stadtpolizei, sie ist Einsatzgebiet der Kantonspolizei. Da sind Spannungen garantiert, weil für die City Card deshalb eine lokale Ausnahmeregelung gelten müsste. «Zurzeit sind wir noch nicht am Punkt, dass wir tatsächlich mit der Polizei im Gespräch stehen würden», sagt Jenni. Zähe Verhandlungen sind jedenfalls zu erwarten.

Von heute auf morgen kommt die City Card also nicht zustande. «Das läuft jetzt alles Schritt für Schritt», sagt Gonzalez. Und Jenni gibt zu bedenken: «Auch in New York dauerte es über zehn Jahre von der Idee bis zur Einführung der Stadt-ID.» Die Kapazitäten auf der Beratungsstelle für Sans-Papiers sind begrenzt, die Arbeit an der City Card erfolgt nebenbei. Aber bereits wurde das Projekt an zwei öffentlichen Veranstaltungen im Rahmen des Netzwerks «Wir alle sind Bern» diskutiert, ein drittes solches «Stadtforum» wird im Juni stattfinden. Und Kilchenmann ist zuversichtlich. Sie sei fasziniert von der Resonanz in der Stadt: «Wir sind hier bloss ein kleines Büro, aber plötzlich entsteht eine Dynamik, weil Leute zusammenkommen, die Lust haben, etwas zu tun. Und gemeinsam etwas zu denken!» Nach einer kurzen Pause fügt sie an: «Wer weiss, vielleicht ist die Karte ja doch bereits in Reichweite?»

«Wir alle sind Schweiz» : Der Wandel kommt mit der Diskussion

«Ich denke, die City Card hat in Bern eine Chance», sagt Halua Pinto de Magalhães. Schon seit sieben Jahren ist der Dreissigjährige Stadtratsmitglied für die SP und daneben ein omnipräsenter Aktivposten innerhalb der städtischen antirassistischen Bewegung. Heute werde anders über Migration geredet als noch vor etwa fünf Jahren, findet er. Und zwar nicht nur in Bern: «Die Annahme der ‹Masseneinwanderungsinitiative› war ein Kristallisationspunkt.» Damals, im Februar 2014, hätten viele Leute den Drang verspürt, etwas gegen die Ausgrenzungsrhetorik von rechts zu unternehmen. «Sie wussten zwar nicht gleich, was zu tun war, aber bald hat sich aus diesem Momentum heraus etwas Grösseres ergeben», sagt de Magalhães.

Genau ein Jahr nach der einschneidenden Initiative fand in Bern der «Kongress der Migrantinnen, Migranten und Menschen mit Migrationshintergrund» statt, aus dem schliesslich das Netzwerk «Wir alle sind Schweiz» hervorging. Bald entstanden in Anlehnung daran in mehreren Städten Plattformen mit entsprechendem Namen, zuerst «Wir alle sind Zürich» und im letzten Sommer auch «Wir alle sind Bern». Auch das City-Card-Projekt ist seither ein Teil der Plattform, die eine ganze Reihe migrationspolitischer, aktivistischer und antirassistischer Gruppen und Organisationen vereint. Die Zusammenarbeit erlaube es, nicht nur auf die rechtlichen Aspekte der Stadt-ID zu fokussieren, sagt de Magalhães: «Fast noch wichtiger ist es nun, das transformative Potenzial zu erweitern, das durch die Diskussion um die City Card innerhalb der Stadtbevölkerung freigesetzt wird.»

Raphael Albisser