Machtmissbrauch im Spital: Was im OP passiert, bleibt im OP
Sexismus und Diskriminierung sind in Schweizer Spitälern Alltag. Während in der Westschweiz Massnahmen getroffen werden, hinkt die Deutschschweiz hinterher. Student:innen wollen das ändern.
Um die Struktur der ärztlichen Belegschaft in einem Spital zu verstehen, reicht ein simples Bild. Ein grosses Haus mit mehreren Stockwerken. Zuoberst residieren die Mächtigen, Chef-, Ober- und Kaderärzt:innen, oft selbstbewusst und redegewandt.
«In der Chirurgie ist es wie beim Sex: Auf das Tempo kommt es an.»
«Schauen Sie, dass die Kleine auch bei der Operation dabei ist.»
«Gehen Sie doch in die Gynäkologie, da sind Sie als Frau am besten aufgehoben.»
«Falls du noch einen Sugardaddy brauchst, melde dich bei mir.»
Dann kommen die Assistenzärzt:innen. Auf dem Weg nach oben, ehrgeizig, resigniert oder betriebsblind, manchmal auch alles zusammen.
«Was im OP-Saal passiert, bleibt im OP-Saal.»
«Es ist wie eine Taufe. Wenn du da unten durch bist, hast dus geschafft.»
«Der ist spitalweit berüchtigt, halt dich einfach von ihm fern.»
Ganz unten befinden sich die Unterassistent:innen. Sie werden Uhus genannt, was für «Unterhund» steht. Es sind angehende Mediziner:innen, die sich im fünften Jahr ihres Studiums, dem sogenannten Wahlstudienjahr, befinden. Sie arbeiten mindestens neun Monate in wechselnden Spitälern in den Bereichen Chirurgie, Innere Medizin und in klinischen Fachgebieten ihrer Wahl. Sie werden von Assistenzärzt:innen betreut, die für sie verantwortlich sind und später auch einen Bericht über den Einsatz schreiben. Die Verträge sind befristet, die Student:innen bleiben nicht länger als vier Monate. Sie unterstehen dem Arbeitsgesetz, ihre gesetzlich zulässige Höchstarbeitszeit liegt bei 50 Wochenstunden. Doch wie die ausgelernten Kolleg:innen arbeiten auch sie meist 55, 60 oder mehr Stunden pro Woche, ohne Möglichkeit zur zeitlichen oder finanziellen Kompensation.
Vorbild Lausanne
All diese Faktoren können zur Verletzung der persönlichen Integrität von Mitarbeiter:innen in Schweizer Spitälern führen: Ein Problem, das in Anbetracht des Fachkräftemangels viel zu wenig Aufmerksamkeit bekommt, das schwierig zu fassen ist, weil es einer organisch gewachsenen Struktur entspringt. Es hat mit einer etablierten älteren Generation zu tun, die sich schwertut, Grenzüberschreitungen bei sich und anderen zu erkennen. Und mit einer neuen Generation von Medizinstudent:innen, für die nicht mehr tragbar ist, was im Spitalkontext höchstens als unangemessen gilt.
An einem regnerischen Tag im Spätherbst sitzen in einem Café in Zürich fünf Menschen, die den Status quo von innen infrage stellen wollen. Sie sind Teil des Vereins Clash Zürich und haben sich darauf geeinigt, ihre Namen nicht in der Zeitung preiszugeben. Die eingangs zitierten Aussagen haben sie selbst so gehört oder von Kolleg:innen erzählt bekommen.
Clash steht für Collectif de lutte contre les attitudes sexistes en milieu hospitalier. Es nahm seinen Anfang 2018 in Lausanne. Damals kam eine Studie unter Medizinstudent:innen zum Schluss, dass 60 Prozent der Lausanner Ärzt:innen anzügliche Handlungen oder Bemerkungen mitbekommen und 36 Prozent solche erfahren hatten. Die Urheber waren in 57 Prozent der Fälle Kader- oder Oberärzte.
Seither ist in der Westschweiz viel passiert. Es gibt eine Hotline, wo entsprechende Vorfälle anonym gemeldet werden können. Clash Lausanne steht in engem Kontakt mit der Universität und dem Universitätsspital. Jedes Jahr bereitet der Verein Erfahrungsberichte statistisch auf und legt sie den Personalabteilungen des Unispitals Lausanne vor, die ihrerseits interne Untersuchungen einleiten können. Zudem besuchen die Medizinstudent:innen an den Universitäten Lausanne und Fribourg im dritten Studienjahr einen obligatorischen Kurs zu Belästigung im medizinischen Umfeld.
Clash Lausanne sei das Vorbild, sagen die Mitglieder von Clash Zürich, auf eine solche Organisation arbeite man hin. Allerdings laufe es in der Deutschschweiz um einiges harziger. «Wir sind fachlich zwar top ausgebildet, aber das Zwischenmenschliche und was es bedeutet, in so ein hierarchisches System zu kommen, wird im Pflichtstudium null thematisiert», sagt ein Mitglied aus dem sechsten Jahr. Einen ernsthaften Diskurs über strukturelle Herausforderungen suche man im Studium vergebens. Unterassistent:innen hätten oft keine Ahnung, was sie im Wahlstudienjahr erwarte.
Dasselbe berichten auch die Mitglieder von Clash Bern. Zwar habe die Innerfakultäre Kommission für Gleichstellung (IFKG) erwirkt, dass es zwei Pflichtvorlesungen zu sexueller Belästigung gebe. Dort werde anhand von Situationen erklärt, was Grenzüberschreitungen seien und dass man sich wehren solle. Ausserdem würden die Anlaufstellen vorgestellt. «Das ist ein wichtiger erster Schritt», sagt Lena Woodtli von Clash Bern. «Aber die Machtstrukturen werden in dieser Vorlesung leider nicht erklärt. Es wird dir gesagt, was du als Betroffene für Möglichkeiten hast. Nicht, wie es zu solchen Situationen kommt.»
Eine Anlaufstelle reicht nicht
Was sagen die Universitäten selbst dazu? Das Studiendekanat der Medizinischen Fakultät der Universität Bern stelle bei Bedarf eine Liste mit Kontaktpersonen in den einzelnen Partnerspitälern zur Verfügung, heisst es auf Anfrage. An sie könne man sich bei Problemen und insbesondere sexueller Belästigung wenden. Die Uni Zürich verweist auf Veranstaltungen für Studierende: Diese widmen sich unter anderem den Rechten und dem Status von Unterassistent:innen, dem Umgang mit Fehlern und Unsicherheit oder dem «persönlichen Ressourcenmanagement». Ausserdem gebe es nach dem Wahlstudienjahr einen Workshop, wo erlebte schwierige oder belastende Situationen aus dem Wahlstudienjahr in Kleingruppen aufgearbeitet würden. Hinzu komme die Anlaufstelle der Universität für sexuelle Belästigung.
Für die Clash-Vereine greift das zu kurz. Die wenigsten Unterassistent:innen würden sich nach unangenehmen Erfahrungen bei Kontaktpersonen oder gar dem Dekanat melden, sagt Clash Zürich. «Klar fühle ich mich komisch, wenn ein Vorgesetzter von mir als ‹die Kleine› redet», sagt ein Mitglied des Kollektivs. «Aber würde ich deshalb zu einer Anlaufstelle wegen sexueller Belästigung gehen?» Oft wisse man nicht, ob man seinem Gefühl trauen könne, insbesondere wenn unangebrachtes Verhalten von anderen Vorgesetzten bagatellisiert werde.
«Mir als Mann wird suggeriert, dass ich bei solchen Sprüchen mitlachen muss. Wenn ich das nicht tue, werde ich als unkollegial abgestempelt», sagt ein Mitglied von Clash Zürich. Der Umgang sei oft ruppig und ungeduldig, der Druck spürbar. «Wir können das in gewisser Weise ja auch verstehen. Viele Ärzt:innen leiden unter den Arbeitsbedingungen. Aber wir sind nicht diejenigen, an denen sie ihren Stress auslassen dürfen.»
Mirjam Tanner sitzt im Leitungsausschuss von Remed, dem Unterstützungsnetzwerk für praktizierende Ärztinnen und Ärzte. Sie kennt den Druck, von dem die Studierenden reden. «Für Ärzte und Ärztinnen ist es unglaublich schwierig, sich Hilfe zu holen, die Hemmschwelle ist riesig.» Grund dafür sei das Selbstverständnis, das viele Ärzt:innen in sich trügen: Wir sind die, die anderen helfen. Nicht umgekehrt. Es herrsche ein Anspruch an sich selbst, keine Probleme zu haben. Das mache es schwierig, sich zu melden, wenn man selbst von Belästigung betroffen sei.
Dass die Unterassistent:innen besonders anfällig sind, kann Tanner nachvollziehen. «Es ist ein System, in dem eine strenge Hierarchie herrscht. Als Unterassistent oder -assistentin, aber vor allem später auch als Assistenzärztin oder -arzt hängen dein Arbeitsplatz, deine Weiterbildung und damit deine Zukunft direkt vom Vorgesetzten ab.» Diese Abhängigkeit führe dazu, dass Unterassistentinnen und Assistenzärzte Grenzüberschreitungen nicht melden würden. Hinzu kommen die befristeten Arbeitsverträge: «Wenn du weisst, dass dein Einsatz nach ein paar Monaten wieder vorbei ist, kämpfst du dich vielleicht eher durch, ohne etwas zu sagen.»
Um bei Student:innen solchen Situationen vorzubeugen, führt Clash Zürich regelmässig ein «Forumtheater» durch, in dem heikle Situationen aus dem Spitalalltag nachgespielt und diskutiert werden. Studierende sollen lernen, wie vielfältig Belästigung, Sexismus und Rassismus im Spitalalltag aussehen können und wie sie darauf reagieren können. «Es geht auch darum zu wissen, dass man nicht allein ist und dass die eigene Wahrnehmung etwas zählt», sagt Tanner. Dabei wird der Verein Remed von der Chancengleichheitskommission der Medizinischen Fakultät unterstützt. Runde Tische mit Vertreter:innen verschiedener Parteien wie Spital oder Universität seien bisher jedoch eher zäh verlaufen.
Burn-out durch Mobbing
Im Diskurs um den Fachkräftemangel geht es vorwiegend um die Arbeitsbedingungen und den fehlenden Umgang mit mentaler Gesundheit. Vorherrschende Strukturen und die daraus resultierende Anfälligkeit für Grenzüberschreitungen sind selten ein Thema. Dabei hängen sie direkt zusammen. Eine Studie der Universität Lausanne stellte 2023 eine Verbindung zwischen sexueller Belästigung oder Mobbing und mentaler Gesundheit bei Medizinstudent:innen her. «Medizinstudierende, die von Belästigung betroffen sind», heisst es da, «haben ein grösseres Risiko, an einem Burn-out zu erkranken, leiden vermehrt an Angst- und Schlafstörungen und greifen häufiger zu Suchtmitteln, was sie anfälliger für medizinische Fehler macht.» Zur Bekämpfung brauche es in erster Linie eine Qualitätsverbesserung in der Ausbildung von angehenden Ärzt:innen – aber auch bei Dozierenden und bereits praktizierenden Mediziner:innen.
Für Letzteres spielt das Schweizerische Institut für ärztliche Weiter- und Fortbildung eine zentrale Rolle. Es macht die inhaltlichen Vorgaben darüber, worin Ärzt:innen weitergebildet werden. Grundlage dafür ist ein Lernzielkatalog, der zurzeit in einer umfassenden Revision ist. Ein neu prioritäres Thema sei «Gesundheit von Ärztinnen und Ärzten», heisst es auf Anfrage. Dazu gehören Dinge wie Burn-out-Prophylaxe, Mental Health oder Leadership.
Das Bewusstmachen der strukturellen Zusammenhänge von Machtmissbrauch wird nicht genannt. Dabei spricht der Fachkräftemangel dafür, sich allumfassend einer Sensibilisierung zu widmen. Rund 2500 Stellen für Mediziner:innen sind in der Schweiz derzeit unbesetzt. In einer aktuellen Studie des Berufsverbands der Schweizer Ärztinnen und Ärzte sagten 22 Prozent der Assistenzärzt:innen, dass sie einen Ausstieg in Betracht ziehen. In einer unter 2300 Student:innen durchgeführten Befragung der Vereinigung der Medizinstudierenden gaben 34 Prozent an, sie würden sich nach den ersten Praxiserfahrungen ernsthaft überlegen, ihren Berufswunsch aufzugeben.
2016 hat der Bund hundert Millionen Franken für eine Ausbildungsoffensive gesprochen. Ziel: Die Zahl der Abschlüsse soll bis im Jahr 2025 auf 1300 pro Jahr steigen. 2022 wurden 1200 Abschlüsse verzeichnet. Das Haus mit den Stockwerken erhält weiter Zuzug. An seiner Struktur verändert sich damit wenig.