Afghanistan: Im Käfig der Taliban

Nr. 9 –

Geschlossene Mädchenschulen, Studierverbot: Die frauenfeindliche Politik des militant-islamistischen Regimes hat fatale Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft.

Als Sumeje Mohammadi* erfuhr, dass sie vom nächsten Tag an die Vorlesungen ihrer Universität nicht mehr besuchen durfte, wusste sie, dass sich jenes Gerücht, das bereits wochenlang gestreut worden war, bewahrheitet hatte. Die militant-islamistischen Taliban, seit August 2021 wieder Machthaber Afghanistans, setzten im vergangenen Dezember ein landesweites Dekret durch, das allen Afghaninnen fortan den Gang zur Universität untersagt. Sumeje Mohammadi aus der nördlichen Stadt Masar-e Scharif hatte noch das letzte Semester ihres Medizinstudiums vor sich. «Ich wünschte, ich wäre nicht hier geboren worden», sagt die 23-Jährige. Für sie ist klar: Das Verbot ist dauerhaft. Die «neuen» Taliban seien weiterhin die alten, und sie pflegten abermals jene frauenfeindliche Politik, für die sie bereits in den neunziger Jahren während ihrer ersten Zeit an der Macht bekannt waren. «Ärztin zu werden, war mein Traum. Doch hier habe ich keine Zukunft mehr», meint Mohammadi.

Erhöhte Suizidrate

Ähnlich sehen das auch die Männer in ihrer Familie. Ihr Vater, ein streng praktizierender Muslim, der in den achtziger Jahren aufseiten der islamistischen Mudschaheddin gegen die sowjetische Armee kämpfte und selbst Arzt ist, ist seit dem Beschluss ausser sich: «Wir brauchen uns nicht zu wundern, dass wir ein schlechtes Image haben, wenn wir von solchen Männern regiert werden. Die Entscheidung der Taliban hat keinerlei islamische Grundlage, sondern ist lediglich misogyner und totalitärer Natur», sagt er. Auch Ahmad Mohammadi*, Sumejes Bruder, ist aufgrund der jüngsten Entscheidung der Taliban deprimiert. «Wir sind diesen Fanatikern ausgesetzt und können nichts machen», sagt der Ingenieur, «das Leben in Afghanistan ist kaum noch lebenswert.» Seit dem Abzug der Nato-Truppen und dem Fall der afghanischen Republik im Juli 2021 ist er arbeitslos.

Die Taliban selbst sehen das anders. Während eines Interviews mit dem afghanischen Staatsfernsehen, das seit der Rückkehr der Taliban von ihnen selbst geführt wird, behauptete Neda Mohammad Nadim, der gegenwärtige Minister für höhere Bildung, dass die «islamischen Grundlagen» für die Bildung von Frauen geschaffen werden müssten. So etwa werde gegenwärtig die Geschlechtertrennung nicht eingehalten, und Frauen würden sich auf dem Campus allein, sprich «ohne männliche Begleitung», bewegen. Ähnliche Gründe nannten die Taliban vor einem Jahr anlässlich der Schliessung von Mädchenschulen, die nun durch verschiedene Dekrete zusätzlich ausgeweitet wurde. Es waren Entscheidungen, die ähnlich wie die heutigen für viel Kritik sorgten. Zugleich jedoch hofften damals viele Menschen, dass es dereinst doch noch zu einer Öffnung der Schulen kommen und sich die Lage verbessern würde.

Nun jedoch fand ein weiterer Rückschritt statt: Mittlerweile ist es Afghaninnen auch untersagt, an Aufnahmeprüfungen für Universitäten teilzunehmen. «Die Zahl der Ärztinnen wird in den nächsten Jahren zurückgehen und die Kindersterblichkeitsrate steigen. Das müssten eigentlich auch die Taliban wissen», meint Sumejes Bruder Ahmad. Neben den vorhersehbaren Folgen des Regimewechsels für das Gesundheitssystem haben auch psychische Erkrankungen wie etwa Depressionen sowie die Suizidrate zugenommen.

Solidarische Professoren

Viele Afghan:innen lehnen deshalb die Entscheidungen der Taliban ab. «Die Gründe, die sie nennen, sind nur Vorwände. Sie wollen Mädchen aus dem Bildungssystem verbannen», sagt Beshan Karimi, ein Student an der Universität von Kabul. Er beschreibt, wie bewaffnete Talibankämpfer im Dezember Studentinnen den Zugang zu den Hörsälen verwehrt hätten. «In einigen Fällen wandten sie auch Gewalt gegen die Mädchen an», sagt Karimi. Die Fortführung der frauenfeindlichen Politik sei vorhersehbar gewesen. Seit ihrer Rückkehr an die Macht hätten die Taliban an Karimis Universität permanent nach Gründen gesucht, um Frauen den Besuch zu verweigern. Die Sittenpolizei der Extremisten schikanierte Studentinnen auf dem Campus und belästigte sie regelmässig. «Ihnen wurde vorgeworfen, unsittliche Kleidung zu tragen. Doch auch wir Männer werden aufgrund unserer Kleidungswahl regelmässig belästigt», erzählt Karimi. Für solche Momente hat der junge Student seine eigene kleine Protestform gefunden: «Ich stolziere mit westlichem Hemd und Jeanshose durch Kabul, obwohl ich eigentlich unsere traditionelle Kleidung vorziehe. Doch ich mache das nur, weil ich weiss, dass sie es nicht mögen.»

Aufgrund des Univerbots kam es landesweit zu grösseren Protesten. In der östlichen Provinz Nangarhar brachen Studenten demonstrativ ihre Prüfungen ab, um sich mit den ausgeschlossenen Kommilitoninnen zu solidarisieren. Ähnliche Szenen spielten sich auch in anderen Landesteilen ab. Mittlerweile sollen landesweit mindestens sechzig Lehrpersonen aus Protest den Dienst quittiert haben. Selbst unter den Taliban, die trotz ihrer strikten Hierarchie eine heterogene Gruppierung sind, gibt es Kritik. So meinte etwa Abdul Baki Hakkani, der bis vor einigen Monaten noch das Ministerium für höhere Bildung leitete, dass moderne Bildungsmöglichkeiten für alle Menschen dringend notwendig seien. Einige Beobachter:innen gehen davon aus, dass er seinen Posten verlor, weil er sich gegen das Bildungsverbot für Frauen und Mädchen ausgesprochen hatte.

Eindeutiger verhält es sich mit Scher Abbas Staniksai, der einst die Verhandlungen mit den USA im Golfemirat Katar geführt hatte und derzeit als stellvertretender Aussenminister agiert. Bereits seit dem Schulverbot für Mädchen kritisierte er die eigene Führung öffentlich. Mittlerweile, so hört man von einigen seiner Vertrauten, soll er gar toben. Für Aufsehen sorgten auch die kritischen Worte von Mobin Chan, dem Talibanpropagandisten, der gerne mit Anhängern der mittlerweile gefallenen Republik debattierte. Der ältere Mann mit Turban und Militärjacke wurde in den letzten Jahren vor allem durch seine Aussagen in den sozialen Medien bekannt. Dort meinte er unter anderem: «Ich werde der Erste sein, der seine Tochter in die Schule schicken wird.» Vor wenigen Wochen wurde Chan von seinen eigenen Leuten verhaftet und verschleppt.

Die jüngste Entscheidung macht allerdings deutlich, dass sich in der Hierarchie innerhalb der Taliban weiterhin die extremen Kräfte durchsetzen. Das betrifft vor allem die Talibanführung im südlichen Kandahar, wo auch der oberste Führer der Gruppierung, Haibatullah Achundsada, residiert. Achundsada gilt als absoluter Hardliner, der mit jenen vergleichsweise moderat wirkenden Taliban, die im August 2021 von der internationalen Presse hofiert wurden, nichts gemein hat. «Die Macht liegt bei ihm, und niemand traut sich, ihn zu hinterfragen», sagt ein Talibanoffizieller, der anonym bleiben will. Auch hochrangige Talibanmitglieder würden ihre Führer aus Angst vor einer Spaltung der Gruppierung nicht öffentlich kritisieren.

Hilfe aus Zürich

Jemand, der der Situation in Afghanistan mit Optimismus entgegentreten will, ist Maiwand Ahmadsei. Der Zürcher Arzt afghanischer Herkunft ist Initiator eines Online-Fortbildungsprogramms für Medizinstudent:innen und Ärzt:innen. «Ziel ist es, die Betroffenen in Afghanistan weiterhin zum Lernen zu motivieren. Viele von ihnen sind in die Depression gestürzt und finden keinen Ausweg aus der derzeitigen Situation», sagt Ahmadsei. In Zusammenarbeit mit Chalid Sadran, einem afghanischen Arzt aus Pakistan, plant er über hundert Vorlesungen. Für ihr Programm konnten die beiden auch zahlreiche westliche Expert:innen gewinnen. Neben 40 Mediziner:innen aus Afghanistan und Pakistan fungieren rund 200 Ärzt:innen und Student:innen aus westlichen Staaten als Dozent:innen. Selbst die Taliban haben vom Programm erfahren. «Einige Offizielle des Emirats haben uns überraschenderweise viel Erfolg gewünscht. Sie meinten, unsere Pläne nicht stören zu wollen, was deren ambivalentes Verhalten zeigt», erzählt Ahmadsei, dessen Familie Anfang der nuller Jahre nach Hamburg flüchtete. Seit einigen Jahren ist er am Unispital Zürich als Onkologe tätig. Das Wohlwollen einiger Talibanfraktionen könnte eines Tages zu jener Veränderung führen, die sich viele Afghan:innen wünschen. Doch gegenwärtig scheint diese ferner zu sein als jemals zuvor.

Als am 8. Februar nach dem Erdbeben in der Türkei und in Syrien Gerüchte über einen humanitären Flug von Kabul nach Istanbul die Runde machten, zogen zahlreiche junge Afghan:innen, ähnlich wie im August 2021, zum Flughafen der Hauptstadt, um einen Platz in der Maschine zu ergattern. Nachdem die Taliban die Situation in die Hand genommen und ihr Sprecher, Sabihullah Mudschahed, auf Twitter klargestellt hatte, dass es sich um Fake News gehandelt hatte, antworteten viele User:innen: «Ihr solltet euch lieber darüber wundern, warum jeder weg von euch will.»

* Name geändert.