Ein Traum der Welt: Rächerin der Witwen
Annette Hug ruft nach Michelle Yeoh
Im Juni 2021 schrieb ich hier von schönen alten Damen, die sich in Spielfilmen als unschlagbare Kämpferinnen entpuppen. Michelle Yeoh hat solche Damen dargestellt und sollte als solche in die Realität springen, um eine Welle von rassistischen Attacken gegen asiatische Seniorinnen zu stoppen. Inzwischen hat sie an symbolischem Gewicht zugelegt. Von Kung-Fu- und Superheldenfilmen hat sie auf die höchste Bühne gewechselt: Dieses Jahr brachte ihr einen Oscar für die Hauptrolle in «Everything Everywhere All at Once» (Alles überall gleichzeitig).
Höchste Zeit, Michelle Yeoh auf die Autor:innen der nächsten AHV-Revision loszulassen. Die machen aus einer Umgestaltung der Witwen- und Witwerrente eine Sparübung. Dabei berufen sie sich auf «gesellschaftliche Realitäten». Frauen seien heute genauso erwerbstätig wie Männer, also könne man 880 Millionen Franken einsparen. Wer Jahrgang 1960 oder höher hat, ist davon betroffen.
Dass Frauen mit der Zeit gehen müssten, hörte ich schon 2010 bei der Sanierung einer kantonalen Pensionskasse. Es war eine Männerrunde, die mir damals gegenübersass. Auch die anderen Personalvertreter fanden, ältere Frauen, die ökonomisch immer noch von ihren Männern abhängig seien, müssten nicht besonders unterstützt werden, die seien eigentlich selber schuld. Das sagten so ältere Herren im Anzug, die nicht aussahen, als hätten sie sich je für die gerechte Aufteilung von Familienarbeit eingesetzt. Ihre Gesichter schalten sich jetzt immer ein, wenn ich «Witwenrente» lese. Sie zwingen zum Zeitsprung.
Evelyn, Michelle Yeohs Rolle im oscardekorierten Film, ergeht es noch ärger. Sie ist am Rand: Das Steueramt droht mit Pfändung ihres Waschsalons, der Ehemann will sich scheiden lassen, und ihr Vater ist aus China in die USA eingeflogen, um den Misserfolg der Auswandererfamilie mit kaltem Blick zu begutachten. Doch nicht genug: In allen Paralleluniversen hat sich ihre Tochter in ein nihilistisches Kindsmonster verwandelt, das alles in einem tödlichen Bagel-Loch verschwinden lassen will. Evelyn muss nicht nur in der Zeit springen, sondern durch Parallelwelten, von einer kalifornischen Gala in die Postapokalypse und zurück in den Waschsalon.
Michelle Yeoh zeigt sich diesem Wirbel gewachsen, sie könnte sich auch verlogene Rentenpolitiker:innen vorknöpfen und ihre Reden mit Explosionen und Klamaukattacken unterbrechen. 2010 gelobten sie noch: «Laufende Renten zu streichen, ist tabu!» Aber was kümmern sie heute die ehernen Grundsätze von damals. Den Witwen unter 55 geben sie zwei Jahre Übergangsfrist, dann sollen sie selber schauen. Und überhaupt: Man könne ja Ergänzungsleistungen beantragen im Alter! Stimmt halt nur für Leute, die in der Schweiz wohnen und wohnen bleiben. Für alle anderen gibts nichts mehr.
Evelyn explodiert tatsächlich der Kopf, wie sie es immer befürchtet hat. Aber sie geht daran nicht zugrunde, sie schleudert durchs Multiversum, um ihre Tochter und dann auch noch die Ehe zu retten. Das reicht in Hollywood zum Happy End. Aber die multiplen Optionen sind nun mal losgetreten. Es könnte noch anders kommen, das Blitzgewitter der zerstiebenden Momente könnte in einer Umwälzung enden, im Umsturz aller Ämter und Paragrafen, die Evelyn den letzten Nerv und die letzte Sicherheit rauben.
Annette Hug ist Autorin in Zürich und setzt darauf, dass die Kampagne für eine 13. AHV-Rente im Januar richtig Fahrt aufnimmt.