«Everything Everywhere All At Once»: Schleudergang durchs Multiversum
Mehr als wunderbar, dieser Waschsalon: Im Film «Everything Everywhere All at Once» taumelt Michelle Yeoh durch allerhand alternative Universen.
Was für ein Trip! Aber Teufel auch, wo anfangen? Dort, wo die Menschen so gummiartige Würstchen anstelle von Fingern haben, was beim Klavierspielen nicht sehr praktisch ist und auch beim Austausch von Zärtlichkeiten einige Mühe macht? Oder bei der fantastischen Szene, wo die lesbische Tochter, aufgemacht als schillernder Cosplay-Vamp, einem weissen Polizisten korrektes Englisch beibringt? Dann regnet es dort, wo gerade noch sein Kopf war, plötzlich Glitter, und einen zweiten Cop macht sie noch schnell mit zwei Riesendildos unschädlich.
Die Liste liesse sich beliebig verlängern, bis die ganze Seite vollgeschrieben ist, doch damit wäre dieser hinreissend überbordende Film nicht ansatzweise wiedergegeben. Setzen wir besser nochmals beim Erstling der Daniels an, wie sich die beiden US-Regisseure Daniel Kwan und Daniel Scheinert nennen, wenn sie zusammenarbeiten. «Swiss Army Man» (2016) hiess ihr Debüt über eine sehr spezielle Männerromanze. Notorisch geworden ist dieser wirklich ergreifende Film, weil er mit der biophysikalisch erwiesenen Tatsache spielt, dass dem Menschen für eine gewisse Zeit nach seinem Ableben immer noch Gase entweichen können. Der Plot also, in aller Kürze: Lebensmüder Einsiedler lässt von seinem geplanten Suizid ab, als vor seinen Augen eben so ein furzender Leichnam ans Ufer gespült wird – es ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, mit Daniel Radcliffe alias Harry Potter in der Rolle der flatulierenden Leiche.
Auch jetzt, in «Everything Everywhere All at Once», knüpfen die Daniels bei wissenschaftlich belastbaren Theorien an, um darauf ihren grotesken, dabei aber sehr bodenständigen Irrsinn zu entfesseln. Erst mal herrscht hier aber das alltägliche Gewusel in den Hinterzimmern eines Waschsalons. Geführt wird er von Evelyn Wang (Michelle Yeoh) und ihrem Mann Waymond (Ke Huy Quan). Mit diesem ist Evelyn einst aus China ausgewandert, als Waymond in den USA ein neues Leben aufbauen wollte. Doch die Träume von damals sind längst verblasst, Evelyns Dasein ist festgefahren in ihrem Alltag in einer trostlosen Gewerbezone im Hinterhof Kaliforniens: Stapel von Quittungen auf dem Pult, auf dem Amt wartet Jamie Lee Curtis als schikanöse Steuerbeamtin und daheim Stephanie Hsu als eigenwillige Tochter.
Und dann Waymond: Wann ist der einst so dynamische Mann an ihrer Seite bloss zu diesem immer noch liebenswerten, aber etwas vertrottelten Tropf verkümmert? Doch als Evelyn gerade nicht hinschaut, sehen wir auf dem Überwachungsmonitor, wie Waymond drüben im Waschsalon mal eben wie im Zirkus durch die Gänge turnt. Und unterwegs zum Termin beim Steueramt ist er plötzlich wie verwandelt. Im Lift redet er superwichtig auf Evelyn ein, wie ein Geheimagent aus einer anderen Dimension.
Diese Lust am Unfug
So geht es dann allmählich los mit den multiplen Welten in diesem Film. Das Multiversum als Summe aller möglichen Welten, lose abgeleitet aus der Stringtheorie, ist ja in der Popkultur zuletzt regelrecht explodiert. Im Marvel-Universum bürgt es nicht nur für potenziertes Spektakel, sondern dient vor allem auch als Alibi, um die Abenteuer von Spider-Man und Konsorten unbegrenzt wuchern zu lassen. Das Multiversum als Zauberformel gegen die sinkende Profitrate des Kinos: Wenn jede fiktionale Welt letztlich doch endlich ist, muss man eben anderweitig expandieren, um die kommerzielle Überbietungsmaschine am Laufen zu halten. Oder wie liess sich der vorletzte «Spider-Man» noch toppen? Genau, indem im neusten «Spider-Man» dann auch die früheren Inkarnationen des Superhelden samt ihren jeweiligen Gegenspielern zusammen auftraten.
Die Daniels kapern nun dieses Viele-Welten-Modell aus dem Blockbusterkino, um es statt in einem Comicuniversum im realistischen Milieu dieser migrantischen Familie anzusiedeln. Dass sich der ganze Multiversum-Mindfuck in einem Kontext entspinnt, wo man ihn nicht erwarten würde: Das ist der vordergründige Clou hier, und die Daniels spielen das mit einer Lust am Unfug durch, die man nur wahnwitzig nennen kann. (Kein Spoiler, wenn wir hier verraten: Schosshündchen. Ratatouille. Steinwüste.)
Manche Kampfszenen sind der helle Wahnsinn, aber Ke Huy Quan als Waymond zeigt auch, dass es nicht mal aufwendige Artistik oder digitale Effekte braucht, um zwischen den Welten zu springen: Ein kurzes, ruckartiges Nicken, schon hat er sich in sein alternatives Ich verwandelt. Der Fünfzigjährige ist neben Michelle Yeoh hier ohnehin der heimliche Star. Das war er schon einmal, als Kinderstar neben Harrison Ford in «Indiana Jones and the Temple of Doom» (1984). Als er erwachsen wurde, gab er die Schauspielerei notgedrungen auf, weil es in Hollywood kaum Rollen für Asian Americans wie ihn gab. Stattdessen arbeitete er als Stuntchoreograf oder als Regieassistent von Wong Kar-wai. Und jetzt, in «Everything Everywhere All at Once», ist sein komödiantisches Timing so perfekt, als wäre er nie weg gewesen.
Scharade im Leerlauf?
Klar kann man diese Ideenrevue der Daniels nun auch als zynisches Hipsterfest durchwinken, als fahrige Scharade im Leerlauf, quasi Postmoderne vom Wühltisch: Wenn irgendwie alles geht, steht nichts mehr auf dem Spiel. Aber das greift nur dann, wenn man die zentrale Wette dieses Films ignoriert. Der Einsatz besteht darin, dass sich das Multiversum, wenn man es mal vom ganzen Marvel-Zirkus abkoppelt, verblüffend gut als Erzählmodell eignet, um die Verzweigungen migrantischer Biografien zu reflektieren.
Zunächst einmal ist die Sache mit den vielen Welten einfach ein kapitales Verdrängungsmanöver der Hauptfigur. Der Ehemann, der mit den Scheidungspapieren wedelt, die Tochter, die sich vom Elternhaus abnabeln will, das Steueramt, das ihr im Nacken sitzt: Kein Wunder, dass Evelyn plötzlich Anweisungen aus alternativen Universen empfängt. Das Multiversum erscheint so als Eskapismus in Reinkultur: tausend Fluchtwege aus den existenziellen Sackgassen des Alltags.
Im Schaum der Existenz
Die Theorie dann, dass jede noch so kleine Entscheidung angeblich ein weiteres Universum im kosmischen Schaum der Existenz erschafft: Auf die konkrete Lebenswelt von Evelyn und ihren Waschsalon übertragen, ist das ja pure Ideologie. Denn es suggeriert einerseits, dass Evelyn in jedem Moment ihrer Biografie unzählige Abzweigungen in ein aufregenderes Leben hätte nehmen können – und beteuert andererseits, dass alle diese aufregenderen Versionen ihrer selbst, die sie nie verwirklicht hat, in parallelen Universen existieren.
Ihre individuelle Handlungsmacht wird also zugleich überschätzt und für nichtig erklärt: Du könntest ein viel besseres Leben führen, wenn du dich da und dort anders entschieden hättest – spielt aber gar keine Rolle, denn alle diese besseren Leben führst du bereits, im Multiversum. In einer anderen Dimension bist du vielleicht ein gefeierter Bühnenstar? Egal, dort sehnst du dich doch danach, mit deinem Waymond Wäsche zu waschen und die Steuern zu erledigen.
So wird das am Ende vielleicht allzu sauber in familiäre Bahnen zurückgeführt, à la Kalenderspruch: Allein sind wir alle nutzlos, aber wer festhalten will, muss auch loslassen können. Ist das nur etwas sentimental oder schon reaktionär? «Everything Everywhere All at Once» ist viel zu chaotisch, als dass man irgendeine billige Moral aus diesem Film mitnehmen könnte, auch keine Predigt fürs einfache Glück im eigenen, limitierten Dasein. Und dass wir unser individuelles Potenzial in dieser Welt angeblich nicht voll ausschöpfen: Das ist ja auch nur ideologisches Gewäsch von Leuten, die uns irgendein Heilsversprechen andrehen wollen.
Ab 16. Juni 2022 im Kino.
Everything Everywhere All at Once. Regie und Drehbuch: Daniel Kwan und Regie und Drehbuch: Daniel Scheinert. USA 2022