Ein Traum der Welt: Paralleluniversum

Nr. 25 –

Annette Hug ersehnt sich den Beistand einer alten Meisterin

Es ist Zeit, eine Hymne auf Michelle Yeoh anzustimmen. Was hat sie nicht alles durcheinandergebracht. Jedes westliche Klischee von asiatischen Frauen, vom Bond-Girl zur Geisha, hat sie einmal verkörpert. Eine abenteuerliche Ausbildung zwischen Malaysia, England und Hongkong, zwischen Ballettschule, (gewonnenem) Schönheitswettbewerb und Kung-Fu-Training machte sie zur Begründerin eines Genres: «Mädchen mit Knarre» hiess das in den achtziger Jahren, da sorgten plötzlich Polizistinnen im Duo für Sicherheit auf Hongkongs Strassen.

Aber ihre eigentliche Grösse erreichte Michelle Yeoh im fortgeschrittenen Alter. Da prägte sie die Rolle der Meisterin, die in den 1990er Jahren regelmässig in Kampfsportfilmen auftauchte. Sie verband strenge Eleganz mit überraschend einbrechender Fürsorge für eine Schülerin, vielleicht auch mit unbändiger Wut – Meisterinnen kommen seither im Plural, sie sind auf allen Seiten eines vertrackten Geschehens zu finden. Wenn alle Pflichten erfüllt sind, lassen sie einen alten Liebhaber vor, den sie jahrzehntelang abgewiesen haben.

Eine mögliche Variante spielt Michelle Yeoh besonders überzeugend: Die Meisterin macht abnehmende Körperkraft mit innerer Stärke wett und profitiert davon, dass im daoistischen Universum Weisheit in magische Fähigkeiten umschlägt. Bösewichte beiderlei Geschlechts fallen davor flach. Aber eigentlich ist die Meisterin des Kämpfens müde, es graut ihr vor dem Blut, das an ihrem Schwert klebt. Und gerade dadurch, dass sie den Ausgang sucht aus dem endlosen Wechsel von Verbrechen und Rache, wächst sie im entscheidenden Duell über sich hinaus.

Es ist Zeit, diese Hymne anzustimmen, weil ich eine Sorte Nachrichten nicht ertragen kann. Unter dem Stichwort «Asian Hate» wird in meiner philippinischen Bubble regelmässig von hasserfüllten Attacken auf Menschen berichtet, die als asiatisch gesehen werden. Besonders in New York und Los Angeles haben körperliche Attacken zugenommen. Als am 16. März dieses Jahres ein junger Mann in einem Wellnesszentrum in Atlanta acht Menschen erschoss, sechs davon Frauen asiatischer Herkunft, demonstrierten Tausende gegen diese Tat und die neue Welle der Gewalt. Besonders unerträglich sind Videos von Anschlägen auf ältere und sehr alte Frauen. Ein ganz unheimliches Muster scheint sich da zu etablieren. Fiese Attacken vor Supermärkten, auf offener Strasse, mit tatenlosen GafferInnen als Kulisse.

Auch in Deutschland haben sich Initiativen formiert, die besseren Schutz und Solidarität fordern. Dem Hashtag #ichbinkeinvirus sind starke Szenen der west-östlichen Filmgeschichte beizufügen, Michelle Yeoh in ihren besten Momenten. Könnten doch alte Meisterinnen ins wirkliche Unheil einbrechen und die Strassen von New York, Los Angeles oder Dresden sicher machen. Nichts scheint unmöglich in einer Karriere, die inzwischen auch Philippa Georgiou hervorgebracht hat: die einzige Figur in der «Star Trek»-Serie «Discovery», die sich jeder Gruppenseligkeit im Kommandoraum ihres Raumschiffs entzieht, die keine Regel einhält und immer durchblicken lässt, dass sie in einem Paralleluniversum Tyrannin war. Und doch weiss die um einiges jüngere Michael Burnham, wenn sie die Leitung des Raumschiffs übernimmt, dass sie sich auf Philippa im Ernstfall absolut verlassen kann.

Annette Hug ist Autorin und kann nicht mal einen Kinnhaken.