Traum von der Rückkehr: Keine Heimat, nirgends
Hunderttausende Palästinenser:innen leben seit Jahrzehnten prekär im Libanon. Verfeindete Gruppen bekämpfen sich in den Lagern, und nun reisst der Krieg in Israel und Gaza bei vielen alte Wunden auf.
Es ist eine schwüle Nacht Ende Juli vergangenen Jahres im palästinensischen Flüchtlingslager Ain al-Hilweh, das mitten in der Stadt Sidon liegt, rund vierzig Kilometer von Beirut entfernt. Nadia al-Ali war bei ihrem Sohn, als sie ein paar Strassen weiter Schüsse hörte. Ihr zweijähriger Enkel sei vor Schreck ganz weiss geworden, erzählt sie am Telefon. Auch seine dreijährige Schwester sei in Panik geraten: «Die Kleine hatte Angst, dass ihr Vater bei der Schiesserei getötet würde.»
Es war jedoch der General der palästinensischen Fatah-Partei, Abu Aschraf al-Armuschi, der in jener Nacht in einen Hinterhalt geriet und erschossen wurde. Der Mord löste die seit langem schwersten Kämpfe in Ain al-Hilweh aus. Unmittelbar nach dem Tod des Generals flohen die 57-jährige Ali und ihre Familie aus dem Camp. Die Situation trat für die Bewohner:innen nicht unerwartet ein: Seit jeher ist die Sicherheitslage in Ain al-Hilweh volatil, regelmässig eskalieren Rivalitäten in Schusswechsel. Die libanesische Armee kontrolliert nur die Eingänge des Lagers. Im Inneren teilen sich palästinensische Gruppen die Kontrolle.
Hier dominiert die Palästinensische Befreiungsorganisation und mit ihr die Fatah-Partei, doch auch die Hamas und zahlreiche weitere islamistische Milizen sind präsent. Im Juli war es der schwelende Konflikt zwischen Fatah-Anhänger:innen und Islamisten, der die Kämpfe ausgelöst hatte. Während der wochenlangen Gefechte wurden über 30 Menschen getötet, mindestens 4000 Bewohner:innen mussten fliehen. Erst Mitte September konnte ein Waffenstillstand ausgehandelt werden, an den sich seither beide Seiten halten.
Ein Trauma, das nicht heilt
Wenig später wurden die Geschehnisse in Ain al-Hilweh von etwas viel Grösserem überschattet. Am 7. Oktober drang die Hamas aus dem Gazastreifen in Israel ein, ermordete rund 1200 Menschen und entführte 240 Personen in den Gazastreifen. Als Reaktion bombardiert die israelische Armee seither den Gazastreifen und tötete laut der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde bisher über 22 000 Palästinenser:innen. Durch die fast vollständige Blockade gelangen kaum noch Hilfslieferungen und Treibstoff in den Gazastreifen. In der Folge, so warnte die Uno Ende Dezember, sei inzwischen eine halbe Million Menschen in Gaza akut vom Hungertod bedroht.
Der Krieg in Gaza traumatisiert viele Menschen im Libanon, weil er Erinnerungen an die Kriege mit Israel weckt, die die Bewohner:innen im Libanon überlebt haben. «Wir haben selbst viel erlebt», sagt Ali. «Aber so etwas wie jetzt in Gaza gab es noch nie.» Gleichzeitig erzählt die Situation, in der sich die Palästinenser:innen im Libanon befinden, viel darüber, warum der historische Konflikt mit Israel bis heute andauert. «Es gibt eine wichtige Gemeinsamkeit zwischen den Palästinenser:innen im Libanon und jenen in Gaza», sagt Anis Mohsen vom Institute for Palestine Studies in Beirut. «Beide sind mehrheitlich Flüchtlinge.» Die Frage der Vertriebenen gehört zu den kompliziertesten Fragen im israelisch-palästinensischen Konflikt.
Rund 250 000 Palästinenser:innen leben laut Angaben der Uno im Libanon, mindestens 60 000 davon in Ain al-Hilweh. Für die meisten palästinensischen Flüchtlinge im Zedernstaat ist ihr Recht auf Rückkehr in das Gebiet des historischen Palästinas, aus dem sie oder ihre Vorfahr:innen vertrieben wurden, eine Bedingung für eine politische Lösung. Israel hat sich einer Rückkehr der Flüchtlinge stets widersetzt, weil es ein Ende der jüdischen Bevölkerungsmehrheit bedeuten würde. Alis Eltern waren 1948 als Kinder aus einem Dorf nahe Dschenin in den Libanon geflohen. Sie selbst kam in Beirut zur Welt, als junge Frau zog sie nach Ain al-Hilweh. Nach dem Ende der Kämpfe vergangenen Sommer kehrte sie ins Lager zurück. Ihr blieb nichts anderes übrig: Die Bäckerei, die sie dort betreibt, sei während ihrer Abwesenheit geschlossen geblieben. «Doch wenn sie zu ist, verdiene ich nichts», sagt Ali. Der Konflikt in Ain al-Hilweh sei zwar nicht gelöst, die Kämpfe könnten jederzeit wieder ausbrechen. «Im Moment halten alle still, wegen des Krieges in Gaza.»
Kein Unterricht mehr im Lager
Mitte Dezember, der Hof in der Deir-al-Kasi-Schule, ein paar Hundert Meter vom Hintereingang des Lagers entfernt, ist wie leer gefegt. Es ist Mittagszeit, die Lehrkräfte haben eine Stunde Pause zwischen den zwei Schichten Unterricht, die hier seit Wochen jeden Tag stattfinden. In ihrem Büro berichtet die Schulleiterin, was es bedeute, mehr als doppelt so viele Schüler:innen als sonst zu unterrichten. In Deir al-Kasi lernt derzeit ein Teil jener 6000 Schüler:innen, die in Ain al-Hilweh leben und dort zur Schule gehen. Doch alle acht Schulhäuser, die das Uno-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge (UNRWA) im Camp betreibt, wurden während der Gefechte von Kämpfern besetzt und schwer beschädigt. Ende September warnte die Organisation, dass 11 000 Schüler:innen – jene aus Ain al-Hilweh sowie jene, die normalerweise die umliegenden UNRWA-Schulen in Sidon besuchen – nicht in der Lage sein würden, das Schuljahr wie geplant Anfang Oktober zu beginnen. Einen Monat später konnten die palästinensischen Schüler:innen doch mit dem Unterricht starten. Die Kinder aus dem Lager waren auf die Schulen in Sidon verteilt worden.
Von der Schule in Deir al-Kasi führt eine steile Strasse hinunter. In einer Kurve biegt eine Strasse nach Ain al-Hilweh ab. Im Winter, wenn der Regen wie eine Sintflut vom Himmel stürzt, wird die Strasse zwischen dem Lager und der Schule zu einem Bach, durch den die Kinder waten müssen. «Wenn sie bei Regen von der Schule nach Hause kommen, sind sie klitschnass», sagt Ali. Für die Kinder wie auch deren Eltern und die Lehrer:innen bedeutet der Unterricht ausserhalb des Lagers viel zusätzliche Mühe. Doch es habe keine anderen Möglichkeiten gegeben, sagt Ibrahim al-Chatib, der UNRWA-Verantwortliche für die Region Sidon, in seinem Büro. «Das Schuljahr ausfallen zu lassen, war keine Option.» Ende Februar, so hofft Chatib, würden hoffentlich vier der acht Schulen im Lager wieder geöffnet werden. Ende August hatte die UNRWA einen Spendenaufruf für 15,5 Millionen US-Dollar gestartet, unter anderem, um den Unterricht für jene rund 6000 Kinder sicherzustellen, deren Schulen beschädigt wurden. Doch bis heute seien nur 3 Millionen zusammengekommen, sagt Chatib.
Dass sie diese Soforthilfe heute nur zu einem Bruchteil finanziert bekommt, ist Ausdruck der Krise, in der sich das Hilfswerk schon länger befindet. Weil eine politische Lösung zwischen Israel und Palästina immer weiter in die Ferne gerückt sei, seien die westlichen Staaten, die zu den wichtigsten Geldgebern der UNRWA gehörten, immer weniger bereit, sie zu finanzieren, schrieb die NGO International Crisis Group im September in einem Bericht. Dafür kann Chatib kein Verständnis aufbringen: «Die internationale Staatengemeinschaft hat das Problem der palästinensischen Flüchtlinge geschaffen», sagt er. «Wenn sie die UNRWA nicht mehr unterstützen will, muss sie eine politische Lösung finden.»
In den vergangenen Jahren nahm der politische Druck auf die UNRWA zu. 2018 hatte der damalige US-Präsident Donald Trump ihr sämtliche Unterstützungsgelder gestrichen. Er warf der Organisation Reformunfähigkeit vor. Das Werk belasse die Palästinenser:innen in einer Situation der Abhängigkeit und sei anfällig für Korruption. Im selben Jahr fragte der Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis in einem Interview, ob die UNRWA inzwischen mehr «Teil des Problems statt Teil der Lösung» geworden sei. Und während Chatib im Dezember von den Schwierigkeiten seines Arbeitgebers erzählt, wird bekannt, dass der Schweizer Nationalrat beschlossen hat, der UNRWA die Gelder zu streichen. Der Entscheid wurde später vom Ständerat allerdings wieder rückgängig gemacht.
Ohne Staatsbürgerschaft
Doch die Tendenz sei beängstigend, sagt Chatib. Das Hilfswerk, das 1949 als Reaktion auf die Nakba, die massenhafte Vertreibung der Palästinenser:innen im Zuge der Staatsgründung Israels, geschaffen wurde, stellt jene elementaren Dienstleistungen für die Flüchtlinge zur Verfügung, für die eigentlich der Staat zuständig wäre. So betreibt das Hilfswerk Schulen und Spitäler im Libanon, in Syrien, Jordanien, dem Westjordanland und im Gazastreifen. «Die UNRWA ist die einzige Institution, die hier für Stabilität sorgt», sagt Chatib. «Wenn es uns nicht mehr gibt, wenden sich die Menschen anderen Gruppen zu.» Er spricht es nicht aus, aber es ist klar, wen er meint: bewaffnete Milizen wie die Hamas oder jene, die kürzlich in Ain al-Hilweh an den Kämpfen beteiligt waren. Denn die Lage der Palästinenser:innen im Libanon ist dramatisch, und das nicht erst, seitdem eine Finanzkrise das Land 2019 in den wirtschaftlichen Kollaps gestossen hat. Sie sind vom gesellschaftlichen Leben im Libanon weitgehend ausgeschlossen: Sie besitzen keine Staatsbürgerschaft, dürfen zahlreiche Berufe nicht ausüben und ausserhalb der Lager keine Häuser kaufen.
Die Gründe dafür, dass die Palästinenser:innen im Libanon noch weniger Rechte haben als etwa in Syrien oder Jordanien, sind vielschichtig. Ein wesentlicher ist die Demografie: Wegen der rechtlich verbrieften Machtteilung zwischen den verschiedenen Konfessionen wollen christliche Politiker:innen im Libanon verhindern, dass der Aufenthalt der mehrheitlich muslimischen Palästinenser:innen dauerhaft ist und sich damit die Verhältnisse zuungunsten der Christ:innen ändern.
Das Grundproblem jedoch liegt laut Chatib vor allem darin, dass es nie eine Lösung für die palästinensischen Flüchtlinge gegeben habe. «Stattdessen sagt man ihnen: Geht nicht! Bleibt in den Lagern! Es ist euch verboten, etwas zu sagen!», so Chatib. Wer heute in Ain al-Hilweh lebe, habe ähnliche Lebensbedingungen wie jene Palästinenser:innen, die in den Flüchtlingslagern in Gaza lebten. Was die Hamas am 7. Oktober getan habe, sei falsch. «Aber man muss sich doch fragen: Warum ist es passiert?»
Zwei Wochen zuvor, ein paar Dutzend Kilometer nördlich, im Zentrum von Beirut, stehen mehrere Hundert Demonstrant:innen auf einem Platz, darunter viele Frauen, Kinder, ältere Menschen. Auf einem der Schilder steht: «Es hat alles am 7. Oktober angefangen» – wobei «7. Oktober» durchgestrichen ist und stattdessen steht: «1948». Mehrere Frauenrechtsvereinigungen haben die Demonstration organisiert – zeitgleich findet auch eine Demonstration in Ramallah statt. Zwei Tage später sitzt Laila al-Ali, die Geschäftsführerin der Organisation Najdeh, die die Demonstration mitorganisiert hat, in ihrem Büro. Ihre Stimme klingt erschöpft, doch ihre Worte sind bestimmt. «Der Krieg gegen Gaza gilt nicht einfach der Hamas», sagt sie. «Das Ziel sind alle Palästinenser:innen, das palästinensische Nationalprojekt und ihre Rechte.»
Sie sagt damit, was die meisten Palästinenser:innen hier empfinden: dass sich der Krieg auch gegen sie richtet. «Was in Gaza passiert, betrifft auch uns», sagt sie. Gleichzeitig sieht sie diesen Moment trotz allem als Chance. Die Demonstration in Beirut etwa fand zeitgleich mit einer in Ramallah statt. Die beiden Kundgebungen wurden von zivilgesellschaftlichen Organisationen im Libanon gemeinsam organisiert. «Wir müssen uns vereinen und Druck aufbauen, um eine wirkliche Lösung zu finden. 75 Jahre sind genug, oder?»