Jazz: Hier, nur hier, genau jetzt

Nr. 3 –

Lucia Cadotsch ist eine der besten Jazzsängerinnen ihrer Generation, nicht nur in Berlin. Was die Trägerin des Schweizer Musikpreises in der deutschen Hauptstadt und bei Laune hält.

Foto von Lucia Cadotsch
Was passiert als Nächstes? Lucia Cadotsch beherrscht den Effekt des Zeitanhaltens beiläufig, unterspielend. Foto: Dovile Sermokas

Von der Verleihung des Schweizer Jazzpreises im vergangenen Oktober in Bern gibt es auf Youtube ein Video, das in vier Minuten viel über ihre Kunst erzählt. Im Duo mit dem Schlagzeuger Julian Sartorius spielt Lucia Cadotsch «Bright Eye», eine blueslastige Nummer, ein Groove eher. Die Stimme: Rhythmisch trennt sie zwar entschieden, die Klangfarben aber schillern in der leicht wogenden, fast coolen Haltung. Sartorius spielt minimal, scharf, aber schafft dabei eine breite Palette an spillerigen Sounds. Cadotsch sagt: «Julian denkt das Schlagzeug orchestral. Das Duo mit ihm ist der Anfang eines neuen Projekts. Und diesen ersten Song haben wir in über sieben Stunden erarbeitet!»

Sie lacht kurz – über die nerdige Verschwendung, in Bewunderung des Kollegen. Im Video, auf der Berner Bühne, steht sie am Mikrofon im breiten Blazer, als würde sie lieber aus dem Scheinwerfer heraustreten (was nur dem Blazer an den Rändern gelingt). Das wirkt nicht unsicher, aber ungewöhnlich. Weil diese Spannung von Dastehen und Verschwinden eine so schwer zu fassende Kategorie konkreter macht: Präsenz. Sie hat sie, aber gerade, weil sie nicht ständig präsent sein möchte – als stünde sie stets ein wenig davor, sich zu entziehen.

Hoch und runter

Täuscht das Video, oder ist da verlaufenes Make-up zu erkennen? «Ich war sehr emotional an diesem Abend, habe mich verletzlich gezeigt.» Sie denkt nach. «Vielleicht, weil ich mich da zu Hause und getragen gefühlt habe.» Sagt sie, die schon lange nicht mehr neu ist in Berlin. Aber wenn sie singt, sticht in einzelnen Worten die Heimat durch das Englisch, etwa wenn das «oi» in «noisy» so geschlossen klingt wie ein «Hoi» am Zürcher Helvetiaplatz.

Zürich hat sie schon vor 21 Jahren für Berlin eingetauscht. Sie spielt im Duo, oft im Trio Speak Low, im Tentett mit Liun & The Science Fiction Orchestra, mit der Big Band des Hessischen Rundfunks. Die Preise: gross. Ein Echo in der Kategorie Jazz war 2017 dabei, der damals grösste Musikpreis in Deutschland. 2019 erhielt sie als Vokalistin auch noch den Deutschen Jazzpreis, und im vergangenen Herbst gab es dann noch einen Schweizer Musikpreis.

Lucia Cadotsch wird dieses Jahr vierzig und ist eine gefragte Sängerin und Bandleaderin. Aber wir reden über Musik, das Niedriglohnland im Niedriglohnland Kultur. «Es geht hoch und runter», sagt sie in einem Berliner Café. «Als 2021 viele Clubs noch Coronaförderung hatten, spielte ich so viele Konzerte wie noch nie. Im Jahr darauf auf einen Schlag viel weniger. Und nun geht es so langsam wieder los.»

Das Brodeln in der Szene

Cadotsch hatte Talent, Glück, gute Kontakte. Und Berlin ist mittlerweile die Jazzhauptstadt Europas. Eigentlich. «Aber hier kann man zu wenig spielen. Und von den in Berlin gezahlten Gagen erst recht nicht leben.» Auch wer wie sie oben mitspielt, muss auf Reisen gehen. Und vor Ort versuchen, die Dinge zu verändern: «Ich bin neu im Vorstand der Interessengemeinschaft IG Jazz Berlin.» Gerade wurden die Fördergelder für Jazz und improvisierte Musik um ein Viertel gekürzt. Und noch immer hat die Stadt keine feste Institution für Jazz: «So ein Ort fehlt total.» Es brodelt in der Szene, es ist aufregend, es ist anstrengend. Berlin halt.

Hier, nur hier, genau jetzt: Zur Kunst von Sänger:innen gehört, dass sie das Gefühl vermitteln, ganz im Augenblick zu stehen und die Musik im Moment neu zu gestalten. Wir hängen an ihren Lippen und fragen: Was passiert als Nächstes? Lucia Cadotsch ist so eine Sängerin. Sie beherrscht den Effekt des Zeitanhaltens beiläufig, unterspielend. Wer an virtuosen Vokaljazz denkt, hektische Improvisation, harte Brüche in Lautstärke und Tonhöhe, liegt falsch. Cadotsch ist eine leise Sängerin. Aber keine verschmuste. Man muss das so blöd sagen, weil verschmuste Frauenstimmen in den Playlists der Plattformen und der Durchschnittsradios so dominant sind.

Cadotsch spielt fast nur mit lauten Männern der ersten Berliner Liga in ihrer Altersgruppe derer, die von weit her nach Berlin gezogen sind. Bei der Frage, ob sie in ihren Bands die Männer von der virilen Lautstärke runterbringe, legt sie kurz den Kopf schräg, pausiert und sagt: «Ja, der Saxofonist Otis Sandsjö und der Bassist Petter Eldh spielen zum Beispiel beide sehr dicht. Aber vor allem hören sie sehr gut zu.»

Es ist ein bisschen wie bei der Lehrperson, die leise redet, damit die laute Klasse aufpasst. Kann klappen, muss aber nicht. Man kann so auch untergehen. Nebst der luftigen Kategorie der Präsenz muss noch etwas anderes dazukommen: Autorität? Schon wieder so ein Begriff mit zu viel Platz. Dabei ist es einfach: Jetzt geht es nicht um die Art des Bewegens auf der Bühne oder um die Ansprache des Mikrofons, sondern um eine härtere Währung, um die Musik also.

Viel Luft, kaum Vibrato

Ihre Bands wirken wie eine Patchworkfamilie mit Cadotsch am Kopf des Tisches. Manche Songs schiebt sie hin und her wie Teller. Das erste, wunderschöne Album des Trios Speak Low von 2016 wirkt im Rückblick fast konventionell, obwohl da schon so vieles als besonders zu erkennen war: Das Saxofon von Otis Sandsjö spielte mit zirkulärem Atmen und Obertönen die Harmonien wie ein präpariertes Piano, der akustische Bass des stets unter Strom stehenden Petter Eldh übernahm auch perkussive Funktionen, wie ein Schlagwerk. Und Cadotsch sang die Standards fast wie eine Skulptur – kaum Vibrato, mit viel Luft um die Linien.

«Speak Low» ist ein Album, das für Cadotsch vieles verändert hat. Es geistert auch bis heute durch ihr Repertoire und nimmt dabei neue Formen an: Es folgte eine Remixplatte, dann «Speak Low 2», auf der das Titelstück gleich noch einmal in einer abermals neuen Version auftauchte. Und seit einer Weile spielt sie in dem Trio Songs aus ihren andern grossen Bands: Liun, mit dem Saxofonisten und Produzenten Wanja Slavin, und Aki, mit dem Pianisten Kit Downes.

Damit stehen Cadotsch und ihre Kollegen wie Eldh oder Slavin in einer zeitgenössischen Kultur des «Resamplings», wie sie es nennt. Im Jazz war das aber schon immer ein Stück weit gängige Praxis: «Der Altsaxofonist Lee Konitz spielte sein Leben lang mit Vorliebe zehn Standards und fand immer wieder etwas Neues darin», sagt sie mit verschmitztem Respekt. «Meine musikalische Identität ist der rote Faden durch meine unterschiedlichen Projekte. Auch wenn einzelne Songs in mehreren Bands auftauchen, klingen sie dabei sehr verschieden.»

Bloss kein Muskeljazz

Ob die zwei Alben mit Liun, übrigens Rätoromanisch für Löwe, oder das aktuellste von Aki, auf dem der Gitarrenstar Kurt Rosenwinkel Gastauftritte hat: Ihre Musik wirkt wie ein einziges Projekt, wenn man darunter die Meisterinnenschaft versteht, komplexe Abzweigungen in der Komposition auf leichte Art zu spielen. Es bleiben: Songs. Es geht so gut wie nie um: Muskeljazz.

Bis der Feminismus in ihrem Werk einen Namen bekam, hat es etwas gedauert. Sie schrieb zum Beispiel 2019 den Song «Kiddo» als Hommage an die Rolle von Uma Thurman im Film «Kill Bill». Die Vorbilder, von denen sie damals erzählte: Nina Simone, Peaches, Billie Holiday, Audrey Hepburn. Heute sagt sie: «Lange ist mir nicht aufgefallen, dass ich meistens die einzige Frau im Raum war. Im Sommer nach dem Schweizer Frauenstreik 2019 habe ich erst gespürt, wie sehr mir Frauen* und queere Personen in meinem Umfeld fehlen.»

Was ihr in Berlin auch fehlt: Berge, tatsächlich. «Natur gibt es auch in Berlin. Aber in der Schweiz bist du in einer Stunde auf dem Berg, hier an einem Waldsee. In Bern gingen wir in den Probepausen auf der Aare floaten. Da hört man das Rieseln des Grundes!» Aber da leben, arbeiten? Wir diskutieren die Frage gar nicht. Sie ist so alt wie die Schweiz. Und ihre Spannung hat immer wieder gute Kunst inspiriert.

Konzerte in der Schweiz mit der Band Aki in: Bern, BeJazz, Vidmarhallen, Freitag, 19. Januar 2024; Basel, Tinguely Museum, Freitag, 22. März 2024.