Loft Jazz: Platznot inspiriert

Nr. 34 –

Konzerte in New Yorker Lofts erneuerten vor vierzig Jahren den Jazz. Der Drummer Andrew Cyrille war eine zentrale Figur. Am Jazzfestival in Willisau spielt er heuer das Abschlusskonzert.

Ein Veteran aus der Zeit, als Freiheit und Experiment im Jazz noch grossgeschrieben wurden: Der Schlagzeuger Andrew Cyrille.

Dixie, Swing, Bebop oder Free sind den meisten als Jazzstile gekannt. Für den Begriff «Loft Jazz» gilt das nicht. Er bezeichnet eine Unterströmung der Jazzgeschichte, die in den siebziger Jahren in New York entstand und aus der Free-Jazz-Revolution der sechziger Jahre hervorgegangen war.

Die Lofts befanden sich in ehemaligen Fabriketagen oder Stockwerken von Lagerhallen, die in Downtown Manhattan leer standen, seit die Industrie die Stadt verlassen hatte. JazzmusikerInnen zogen ein und begannen mit ihren Ensembles, dort zu proben, weil sie nicht fürchten mussten, den NachbarInnen auf die Nerven zu gehen. Bald fanden in den Lofts auch erste Konzerte statt.

Mitte der siebziger Jahre öffnete in Downtown Manhattan ein solch halbprivater Auftrittsraum nach dem anderen, sie hiessen Studio Rivbea, The Brook, Ladie’s Fort, Ali’s Alley oder Studio We. Die Entwicklung dieser Undergroundszene zeichnet das Buch von Michael C. Heller mit dem Titel «Loft Jazz. Improvising New York in the 1970s» präzise nach. Es wirft auch einen Blick auf die schwierigen sozialen Bedingungen, denen sich kreative JazzmusikerInnen damals in New York ausgesetzt sahen, woran sich bis heute wenig geändert hat.

Einer der wichtigsten Musiker des Loft Jazz war der Schlagwerker Andrew Cyrille. Mit dem Pianisten Cecil Taylor lieferte er sich in dessen Band heisse Duelle: Schlagzeug gegen Piano. Bei Solokonzerten zog der muskulöse Drummer alle Register seines Könnens und brannte ein perkussives Feuerwerk ab.

Die Oktoberrevolution des Jazz

Die Jazzlofts waren aus der Not entstanden, weil die etablierten Clubs der radikalen Improvisationsmusik keinen Platz einräumten. Die informellen Konzertlokalitäten stellten den MusikerInnen einen Ort zur Verfügung, wo sie ihre Musik jenseits von kommerziellen Zwänge der Öffentlichkeit präsentieren konnten. Die Organisation lag dabei vollständig in ihren eigenen Händen. Die Musik hatte keinen festgesetzten Spielzeiten und Pausenintervallen zu folgen, die in den Clubs dazu dienten, den Getränkeverkauf und die Gastronomie anzukurbeln.

Dass sich JazzmusikerInnen auf Selbsthilfe und Eigeninitiative besannen, hatte bereits in den sechziger Jahren begonnen. 1964 fand die «October Revolution in Jazz» statt. Dabei handelte es sich um ein kleines Festival, das in einem Kellercafé in Uptown Manhattan über die Bühne ging, organisiert von der Jazz Composers Guild. Der Erfolg des Festivals zeigte die Möglichkeiten auf, die sich eröffneten, wenn MusikerInnen ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nahmen. «Wir waren aktiv, promoteten uns selbst und erhielten ziemliche Beachtung», erinnert sich Posaunist Roswell Rudd. Allerdings liessen Unstimmigkeiten und Streitereien die Jazz Composers Guild bereits nach kurzer Zeit auseinanderbrechen.

Jay Clayton liess sich nicht beirren. Die Vokalistin hatte bereits 1967 eines der ersten Lofts in New York eröffnet: «Der Raum war ziemlich gross, hatte drei Fenster, dazwischen standen ein Klavier und eine kleine Lautsprecheranlage. Eine Heizung gab es anfangs nicht. Wir behalfen uns mit kleinen mobilen Öfen. Die Leute sassen auf Sitzkissen oder Matratzen auf dem Boden – überschaubares Publikum: vielleicht dreissig Besucher», erinnert sie sich.

Zum berühmtesten Loft avancierte Mitte der siebziger Jahre das Studio Rivbea in der Bond Street von Manhattan, das vom Saxofonisten Sam Rivers und seiner Frau Bea betrieben wurde. Bea Rivers war für die Organisation zuständig, Sam für die Programmgestaltung. Das Loft fasste 200 BesucherInnen und präsentierte in seiner Blütezeit fast jeden Abend ein Konzert – die gesamte Jazzavantgarde trat im Studio auf. Andrew Cyrille war oft mit von der Partie. Mit seinem eigenen Ensemble Maono gab er dort zahlreiche Konzerte und nahm im Mai 1976 im Studio Rivbea ein Album mit dem Titel «Junction» auf.

Geschickt und zäh hatte sich Bea Rivers um öffentliche Zuschüsse bemüht. Das zeitigte Früchte: Niemand ging nach dem Auftritt ohne Lohn nach Hause, was in den anderen Lofts nicht immer der Fall war. Dann begann der Niedergang. Stadtsanierung und Gentrifizierung liessen die Mietpreise explodieren und zwangen die meisten LoftbetreiberInnen zur Aufgabe. «Der Wendepunkt war, als das Quartier Soho seinen Namen erhielt», erzählt Jay Clayton. «Danach gingen die Mieten nach oben, und wir konnten uns das Loft nicht mehr leisten. Wir mussten in eine billigere Gegend umziehen.»

Selbsthilfe erlebt Renaissance

Obwohl die Loftära längst Geschichte ist, haben ihre Prinzipien überlebt. Viele der Jazzradikalen sind inzwischen von Downtown Manhattan nach Brooklyn umgezogen, wo die Mieten noch bezahlbar sind. Dort erleben Selbsthilfe und Eigeninitiative eine Renaissance. In Konzerträumen, die kollektiv betrieben werden, wie dem Douglass Street Music Collective, dem Ibeam oder dem Shapeshifter Lab hat der kreative Jazz eine neue Heimstatt gefunden.

In diesen Lokalitäten spielen auch regelmässig der Trompeter Peter Evans sowie die Pianistinnen Kris Davis und Angelica Sanchez, die am diesjährigen Jazzfestival in Willisau auftreten. Evans kommt mit seinem Ensemble, das die Improvisationskunst der Jazzavantgarde in elektronische Klangfarben taucht, Davis und Sanchez spielen im Duo.

Loftveteran Andrew Cyrille wird das Abschlusskonzert in Willisau mit seinem Quartett bestreiten, das bis heute den Geist des Loft Jazz atmet. Es besteht aus Synthiepionier Richard Teitelbaum, Bassist Ben Street und Gitarrist Ben Monder, der zuletzt auf David Bowies Abschiedsalbum zu hören war. Mit dieser Band erinnert er an eine Zeit, als Freiheit und Experiment im Jazz noch grossgeschrieben wurden. Nicht ohne Grund hat er seiner neusten Platte einen unmissverständlichen Titel gegeben: «The Declaration of Musical Independence».

Michael C. Heller: «Loft Jazz. Improvising New York in the 1970s». University of California Press. Oakland 2017. 257 Seiten.

Andrew Cyrille Quartet: «The Declaration of Musical Independence». ECM. 2016.

Magische Loops

Das Jazzfestival Willisau ist ein wichtiger Termin im Jahreskalender des Jazz. Was in beschaulicher Abgeschiedenheit 1966 begann, ist längst zu einem Begriff der globalen Jazzszene geworden. Von Ambient Jazz bis Future Folk reicht das Spektrum an der 52. Ausgabe vom 30. August bis 3. September 2017. Gespannt darf man auf Folksänger Sam Amidon sein, der einst bei Free-Jazz-Geiger Leroy Jenkins Violine studierte, sich dann Folkhymnen zuwandte, um nun wieder die Zusammenarbeit mit Jazzimprovisatoren wie dem Klarinettisten Ben Goldberg zu suchen.

In ein anderes Zeitmass versetzen The Necks die ZuhörerInnen. Das australische Trio spielt ihren minimalistischen Jazz in Zeitlupe. In den sich scheinbar ewig wiederholenden Loops ist eine Magie am Werk, die Töne, Klänge und Rhythmen in Schwingung versetzt, bis sie sich am Schluss dramatisch entladen. Doch auch die Schweizer Szene hat einiges zu bieten. Nach einer veritablen Blechkapelle aus New Orleans klingt Le Rex, ein Quintett aus vier Bläsern (darunter eine Tuba) und Schlagzeug. Die Band kommt so zerzaust, windschief und rustikal daher, dass man sie Tom Waits gerne als Begleitband antragen würde.