Literarische Utopie: «Hier ist die Währung nicht Geld, sondern Empathie»

Nr. 4 –

Der Schriftsteller Tomer Dotan-Dreyfus über die alternative Realität einer jüdisch-sozialistischen Gemeinschaft, die im wahrsten Sinn hinter den Bergen lebt.

Portraitfoto von Tomer Dotan-Dreyfus
«Es wurde teilweise kritisiert, dass es in meinem Roman keinen Antisemitismus gibt. Für mich ist genau das aber faszinierend»: Tomer Dotan-Dreyfus. Foto: Shai Levy

WOZ: Tomer Dotan-Dreyfus, in «Birobidschan» geht es um einen Ort, den es wirklich gibt, wenn auch nicht so wie in Ihrem Roman. Was hat es mit dem echten Birobidschan auf sich?

Tomer Dotan-Dreyfus: Birobidschan war ein Experiment der Sowjetunion unter Stalin, der dort eine jüdisch-sozialistische Autonomie kreieren wollte, wahrscheinlich mit dem Ziel, die Juden aus Moskau und St. Petersburg loszuwerden. Es war nicht sehr durchdacht: Juden aus den Grossstädten wurden dazu überredet, nach Birobidschan zu gehen – für Stalin untypisch, dass es nicht erzwungen wurde. Dieser Ort in Sibirien ist aber extrem ländlich. Es gab da vorher praktisch nichts, nur eine Strasse und eine Station der Transsibirischen Eisenbahn, wahrscheinlich weil in der Nähe die Grenze zu China ist. Auf einmal mussten Grossstädter Landwirtschaft betreiben. Es war also schwierig, dort neu anzufangen. Das echte Birobidschan war überhaupt keine Utopie, sondern eine sehr kalte Dystopie.

Die Jüdische Autonome Oblast gibt es noch heute, oder?

De jure, ja. Und Jiddisch ist nach wie vor die Amtssprache. Es gibt noch Juden in Birobidschan, aber sie sind dort heute eine kleine Minderheit.

Hatte die Sowjetunion mit dem Experiment eine Konkurrenz zum Zionismus im Sinn?

Sicherlich hat der Zionismus Stalin gestört. Insofern vermute ich es, aber ich weiss es nicht. Man muss dazu sagen: Es gab damals viele solcher Versuche und Ideen. Vor dem Zweiten Weltkrieg war der Zionismus eine Bewegung unter vielen in der jüdischen politischen Welt, die sehr divers war. Es gibt zum Beispiel im «Birobidschan» des Romans die Jugendbewegung «Tsukunft». Die echte Tsukunft war die Jugendbewegung der Bundisten, einer starken antizionistischen Bewegung. Antizionismus vor hundert Jahren war etwas anderes als heute. Es war eine durchaus legitime Haltung hauptsächlich innerhalb der jüdischen Welt; ausserhalb davon war es vielen egal, was die Juden machten, anders als heute. Die Bundisten vertraten die Idee von «Doykheit». Doy ist «da» auf Jiddisch, und Doykheit bedeutete: Unsere Heimat ist da, wo wir sind, und Antisemitismus soll dort bekämpft werden, wo er auftaucht, und nicht dadurch, dass wir woanders hingehen. Diese Ideologie wurde durch den Zweiten Weltkrieg zerstört. Wenn ich aber an die Welt vor hundert Jahren denke, dann finde ich sie faszinierend.

Autor, Lyriker, Übersetzer

Tomer Dotan-Dreyfus wurde 1987 in Haifa geboren und lebt heute in Berlin. Er ist freier Autor, Lyriker und Übersetzer.

Sein Debütroman «Birobidschan» (siehe WOZ Nr. 17/23) war auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis.

 

Welches waren noch weitere Versuche und Ideen, jüdische Autonomiegebiete zu erschaffen?

Da gab es zum Beispiel den älteren «Ararat Plan» auf einer Insel in Upstate New York oder in den 1930er- und 1940er Jahren die Idee, in Nordwestaustralien eine jüdische Autonomie zu gründen. Also: Es gab mehrere Möglichkeiten, und Birobidschan war eine davon. Auch wenn es von Stalin nicht als Opposition zum Zionismus gedacht gewesen sein sollte, war es das faktisch.

Das «Birobidschan» in Ihrem Roman ist ein magischer, aus der Zeit gefallener Ort, an dem Dinge geschehen, die vielleicht übernatürlich sind. Aber das wohl Magischste ist, dass die Menschen dort eine kleine, funktionierende jüdisch-sozialistische Gemeinschaft leben und diese sogar erhalten können, nachdem die Sowjetunion verschwunden ist. Welche Sehnsüchte stecken in dieser alternativen Realität?

«Birobidschan» ist auch ein Labor, in dem der Erzähler vieles ausprobiert. Zum Beispiel: Wie sieht eine jüdische Gemeinschaft aus ohne Antisemitismus? Das wurde teilweise kritisiert: dass es in meinem Roman keinen Antisemitismus gibt. Für mich ist genau das aber faszinierend. Die Gemeinde im Buch ist davon nicht geprägt, und deshalb muss man sich irgendwann im Lauf des Romans fragen: Was macht diese Gemeinschaft eigentlich jüdisch?

Dazu muss man wissen, dass die Gemeinschaft aus «Birobidschan» säkular ist. Aber es gibt in der Geschichte eine Abspaltung von Birobidschaner:innen, die religiös leben wollen und daher ihr eigenes Dorf nebenan gegründet haben …

Genau. Und wenn Religion keine Rolle spielt, weil alle säkulare, sozialistische Juden sind, und es auch keinen Antisemitismus gibt, der die Gemeinschaft prägt, was macht sie dann aus? Das ist, finde ich, ein durchaus gefährliches Gedankenexperiment. Antisemitismus ist ein Teil jüdischer Identität. Wir sind davon geprägt. In der Kritik an der Abwesenheit von Antisemitismus in meinem Roman habe ich daher auch so etwas wie Angst gelesen vor dem Tag, an dem es endlich keinen Antisemitismus mehr geben wird, denn: «Was wird uns dann zu Juden machen? Was unterscheidet uns dann von der Mehrheitsgesellschaft?»

 Vielleicht gelingt es den Birobidschanern im Buch, jüdisch zu bleiben, weil sie so weit weg sind von allem und keine Minderheit in einer Mehrheitsgesellschaft; sie sind im wahrsten Sinn des Wortes hinter den Bergen, in Sibirien, und können dort eine jüdische Säkularität leben. Was auch immer das bedeutet.

Der sozialistische Charakter dieser Gemeinschaft wird etwa dadurch deutlich, dass Sie ein Geldsystem beschreiben, bei dem es eine feste Geldmenge gibt, die in «Birobidschan» kursiert. Wenn jemand aus Versehen mal mehr hat, heisst das, dass jemand anderes weniger hat. Der wird dann ausfindig gemacht und unterstützt, bis es wieder ausgeglichen ist …

Die Währung in «Birobidschan» ist nicht Geld, sondern Empathie. Das geht mit vielen Konsequenzen einher: Wenn man in einer Gesellschaft lebt, die – auch wirtschaftlich – von Empathie zusammengehalten wird, muss man viel tun, damit das Empathieniveau stets hoch bleibt. Darum gehts. In diesem Sinn ist es eine Utopie, aber vielleicht auch nicht, vielleicht ist es einfach ein Kibbuz.

Wieso haben Sie sich dafür entschieden, diese Geschichte dort, am äussersten Zipfel der Sowjetunion beziehungsweise des heutigen Russlands, spielen zu lassen?

Wegen der jiddischen Sprache. Birobidschan ist der einzige Ort auf der Welt, an dem Jiddisch die Amtssprache ist. Als ich das herausfand, war ich überrascht, dass es überhaupt so einen Ort gibt, denn Jiddisch ist eine Sprache, die jedes Territorium eigentlich ablehnt. Jiddisch wurde entwickelt, damit Menschen aus verschiedenen Ländern miteinander kommunizieren können. Es ist eine ultimativ nomadische Sprache, was man auch in der Literatur dieser Sprache merkt, in der es immer um Bewegung geht, nicht nur geografisch, sondern auch zwischen Dimensionen, dem Diesseits und dem Göttlichen. Jiddisch ist immer dazwischen, wie das diasporische Judentum, und fordert so das binäre Denken zwischen «wir» und «sie» heraus.

Ich möchte Ihren Roman nicht zu sehr auf unsere Gegenwart beziehen, aber ein wenig erscheint er mir doch wie eine Kommentierung der Gegenwart. Ist er das auch aus Ihrer Sicht?

Ich hatte das nicht im Kopf, als ich ihn schrieb. Aber ich sage Leuten auch nicht, wie sie meinen Roman lesen sollen. Grundsätzlich denke ich, dass man sich schon fragen muss, wie gelungen das Projekt des demokratischen Nationalstaats ist. Israel-Palästina ist ein Brennpunkt, wo es ganz klar herausgefordert wird. Doch ich weiss nicht, ob es überhaupt irgendwo wirklich funktioniert. In dem Sinn ist «Birobidschan» eine Opposition: zum Konzept des Nationalstaats.

Es ist aber auch eine Alternative zur Idee der «Doykheit», oder? Denn gemein ist Birobidschan und dem Zionismus ja der Grundgedanke einer geografisch gebundenen nationalen Autonomie für Jüdinnen und Juden.

Etwas gibt es in Israel, was es in «Birobidschan» nicht gibt: die – gefährliche – Behauptung, für alle Juden auf der Welt zu sprechen. Im Roman ist das anders: Die «Birobidschaner» wissen zwar, dass es Juden anderswo auf der Welt gibt; manchmal treffen sie sie auf Austauschfahrten der Jugendbewegung «Tsukunft». Aber es ist ihnen egal. Insofern ist es doch «Doykheit», weil keine Exklusivität behauptet wird.

Ich sage es mal so: Ich bin kein Antizionist in dem Sinn, dass ich nicht an das Existenzrecht Israels glaube – was Israels Regierung tut, ist noch mal eine andere Frage. In der Behauptung, Juden bräuchten einen Ort, um sicher zu sein, steckt jedoch auch die Aussage, dass etwas am diasporischen Juden nicht stimme, dass er sich nicht wehren könne, schwach und passiv sei. Das Versprechen des Zionismus dagegen ist, einen starken Juden, einen Muskeljuden sozusagen, zu erschaffen. Damit habe ich ein riesiges Problem.

Warum?

Ich möchte das Gedankengut, etwas stimme nicht mit den Juden, nicht verinnerlichen. Klar, nomadische Minderheiten innerhalb von Nationalstaaten sind verletzlich. Aber das muss nicht unbedingt negativ beladen werden. Ein Beispiel, das verdeutlicht, was ich damit meine, taucht beim US-amerikanischen Talmudforscher Daniel Boyarin auf, der zur Figur des unmännlichen jüdischen Mannes geforscht hat. Über Jahrzehnte haben Antisemiten uns so betrachtet: jüdische Männer als feminin und jüdische Frauen als maskulin. Eine Möglichkeit, damit umzugehen, ist, zu sagen: Jetzt brauchen wir einen richtig männlichen jüdischen Mann. Eine andere Möglichkeit wäre, die Behauptung zu reclaimen: Ja, vielleicht stimmt es, und vielleicht liegt es an etwas in unserer Tradition und unseren Schriften, aber hey, das ist super. Das wäre mein Ansatz.