Literatur: Halluzinieren und lieben in der Flüsternis
Einst siedelte die Sowjetunion Jüdinnen und Juden in der ostsibirischen Taiga in einer autonomen Provinz an. In seinem Roman «Birobidschan» imaginiert Tomer Dotan-Dreyfus dort ein Judentum in der Zeitkapsel.
Während seines Studiums belegte Tomer Dotan-Dreyfus einen Sommersprachkurs: Jiddisch. Als ihn im Unterricht Langeweile plagte, zückte er unter dem Tisch sein Handy und tippte: «Wo ist Jiddisch Amtssprache?» Er war sich sicher, die Antwort zu kennen: nirgends. Die Suchmaschine überraschte ihn. In Birobidschan, antwortete sie, der jüdisch-autonomen Republik Ostsibiriens (siehe WOZ Nr. 50/16).
Jiddisch war die Muttersprache seiner Grosseltern, die den Holocaust überlebt hatten, doch von Birobidschan hatte Dotan-Dreyfus noch nie gehört. Jenes Schtetl zwischen den Flüssen Bira und Bidschan im entlegensten Winkel Russlands liess ihn nicht mehr los. Acht Jahre später ist sein Debütroman «Birobidschan» erschienen, eine Gesellschaftsstudie, erzählt in der jiddischen Tradition des magischen Realismus.
Schlecht gedanktes Geschenk
Nahe der chinesischen Grenze, acht Flug- und vier Zugstunden von Moskau und 10 000 Kilometer von Kyjiw entfernt, hatte die Sowjetregierung nach der Revolution 1917 die Jüdische Autonome Provinz (JAP) errichtet. Jüdinnen und Juden sollten in einer geschlossenen sibirischen Siedlung, die zu drei Vierteln aus Taiga, Sumpf und Überschwemmungsgebiet bestand, zu «nützlichen Gliedern» der Gesellschaft gemacht werden.
Ende der 1920er Jahre trafen die ersten 624 Menschen in Birobidschan ein, im Glauben, dass Hunderttausende aus der ganzen Sowjetunion nachkommen würden. Aber das «bemerkenswerte Geschenk» der Sowjetregierung, beklagte der spätere Präsident Nikita Chruschtschow, sei von den Juden schlecht gedankt worden. Der Umsiedlungsversuch scheiterte. Fast die Hälfte der Neusiedler:innen kehrte aufgrund der unerträglichen klimatischen Bedingungen zurück. Wer kein Geld für die Rückreise hatte, blieb.
Im sowjetisch-antisemitischen Sprachgebrauch schimpfte man, Jüdinnen und Juden sollten nach Birobidschan. Heute sind weniger als ein Prozent der Bevölkerung von Birobidschan jüdisch. Anders als der reale Ort lebt und gedeiht das idyllische Birobidschan von Dotan-Dreyfus. In einer alternativen Realität, die mehrere Generationen und teils verwirrende zeitliche Sprünge umfasst, entwirft der deutsch-israelische und antizionistische Autor ein Judentum ohne Antisemitismus, ohne Israel als Bezugspunkt, ohne Nationalismus.
Die Birobidschaner:innen bei Dotan-Dreyfus halluzinieren, philosophieren, demonstrieren, betrügen, lieben sich und sterben in der sibirischen «Flüsternis» in grossartiger diasporischer Selbstverständlichkeit. Sie leben isoliert, wissen aber, dass sie «nicht geistig von der Welt abgekoppelt sind, bloss geografisch». Jede kennt jeden, und der wortlose Postbote Herr Kaminski bringt mit zwei Wochen Verspätung die Zeitung aus Moskau. Sie ist die einzige Quelle, aus der sie vom Zweiten Weltkrieg erfahren. Der Zerfall der Sowjetunion bleibt gar jahrelang unentdeckt, bis jemand nach Moskau reist und die Botschaft zurück in die Heimat trägt.
Der Autor nennt seinen Roman ein «Experiment mit der Zeit» und springt unvermittelt in die Gegenwart. Hier bemalen Rachel, Alex, Joel und die anderen Jugendlichen im Ort ihre Gesichter mit den Farben des Regenbogens und demonstrieren gegen Homophobie und Kapitalismus. Kurze Zeit später wird Boris Klayn, der alte Fischer und Ur-Birobidschaner, an einer alten Buche lehnend tot aufgefunden. Gleichzeitig tauchen ein stummes Mädchen und zwei fremde Männer auf der Suche nach einem Kragenbären auf. Die Ereignisse im Ort überschlagen sich.
Zuwendung an alle
Dotan-Dreyfus’ Muttersprache ist Hebräisch, aber seinen Roman hat er auf Deutsch geschrieben. Wenn er spricht und schreibt, schleichen sich lustige Wortschöpfungen ein. Das Adjektiv «arscher» ist eine Steigerung von «Arsch», aus «Flüstern» schöpft er eben «Flüsternis», die der Autor definiert als «das Gefühl, wenn man allein geht und es ist nachts und dunkel, und man denkt, Flüstern gehört zu haben, obwohl niemand da ist». Ein «Destundierungsgefühl» diagnostiziert er Rachel, die sich wie ein aus der Zeit gefallener Fremdkörper fühlt. Und auch sonst ist die Sprache des Autors schön, wenn auch stellenweise unnötig überladen: «als ob es im Zentrum der Waldlichtung eine Singularität, ein Wurmloch gäbe, all die schrecklichen Begebenheiten, zerschundenen Leichen, gerinnenden Bäche von Blut und Tränen, Unmenschen sah er, die ihre allzu menschlichen Fantasien auslebten».
«Birobidschan» ist gespickt mit philosophischen Dialogen und brillanten Gedankenfetzen. Mit dem Roman ist Dotan-Dreyfus ein originelles, wenn auch kein massentaugliches Werk gelungen. Aber so interessant die Dialoge inhaltlich sind, so gekünstelt, gar aus dem Leben gerissen wirken sie manchmal. Eine Eigenheit, wegen der man diesen Roman gerne liest, wird erzählerisch auch zu einer Schwäche: der sozialistisch anmutende Versuch des Autors, seine Zuwendung gleichmässig auf alle Bewohner:innen Birobidschans zu verteilen. So führt er zu viele Figuren ein, zu denen man keine Nähe aufbaut. Das Innenleben und die Emotionen bei denjenigen Protagonist:innen, über die man gerne mehr erfahren würde, werden nur skizziert und bleiben an der Oberfläche.
Tomer Dotan-Dreyfus: «Birobidschan». Roman. Verlag Voland & Quist. Berlin 2023. 320 Seiten. 36 Franken.