Tilda Swinton: «Ich wäre einsam gewesen, wenn ich nicht schon gelernt hätte, allein zu sein»

Nr. 28 –

Eine Ikone des Weltkinos zu Gast in Zürich: Im Filmpodium hat WOZ-Redaktor Florian Keller mit Tilda Swinton über den Spagat zwischen Hollywood und Avantgarde gesprochen.

WOZ: Tilda Swinton, Sie waren unlängst in Cannes für die Premiere von «Three Thousand Years of Longing». Gehen Sie gerne dorthin? Klar, Cannes ist ein heiliger Ort für das Kino, aber es ist wohl auch sehr anstrengend: all diese Gruppeninterviews, der rote Teppich …
Tilda Swinton: Wie bei allem im Leben ist es wichtig, einen Fokus zu haben. Ich würde sagen, ja, heilig, aber auch profan, also muss man sich entscheiden, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Ich liebe Festivals, und in Cannes war ich schon in fast jeder Funktion, die man haben kann: Ich war dort, um Filme zu zeigen, Filme zu verkaufen, Geld für Filme zu sammeln, ich war in Jurys … Ich habe alles gemacht, ausser den Teppich zu wischen, glaube ich. Einen Film zu begleiten, ist immer schön, weil man mit seinem Team unterwegs ist. Um ehrlich zu sein, bin ich nicht besonders gut darin, hervorgehoben zu werden. Ich bin eher das, was die Deutschen einen «Mitarbeiter» nennen. Ich bin gern Teil eines Teams, und mit einem Film auf ein Filmfestival zu gehen, ist der Inbegriff davon. Man ist in einer Phalanx, und zusammen geht man voran – ich bin die Tochter eines Generals, ich weiss also, was das heisst.

Darauf werden wir später noch zurückkommen. Halten Sie eigentlich oft Rückschau auf Ihre früheren Arbeiten?
Wir alle kennen das, wenn wir in alten Familienalben blättern oder Bilder von uns mit achtzehn sehen, betrunken auf einer Party. Eine Retrospektive für eine Künstlerin ist im Grunde nichts anderes. Du zuckst zusammen, schaust durch die Finger auf den eigenen Werdegang und versuchst, dir einen Reim darauf zu machen. Ich weiss, es klingt wie ein Sakrileg, aber ehrlich gesagt, wenn ein Film am Ende der Dreharbeiten, nach vielleicht zehn Jahren Entwicklung und zwei Jahren Postproduktion, in der Tonne landen würde, hätte ich nichts dagegen. Mir geht es nicht wirklich um das Produkt, wenn Sie so wollen. Es geht mir um das Machen. Aber natürlich ist es sehr schön, einen Film mit einem Publikum zu teilen.

Gerade wollte ich einwenden: Wir hätten sehr wohl etwas dagegen, wenn wir jetzt etwa «Memoria» von Apichatpong Weerasethakul nicht sehen könnten. Ist es schwieriger, wie hier diese relativ ungeschminkte Figur zu spielen, im Gegensatz zu Filmen wie «Snowpiercer», wo Sie hinter Make-up und Prothesen verschwinden konnten?
Bei den beiden Filmen mit Bong Joon-ho, «Snowpiercer» und «Okja», musste ich in einer Art Groteske arbeiten, mit Perücken und künstlichen Zähnen. Es ist nicht so, dass das einfacher oder schwieriger wäre. Es ist nur eine Frage des Materials, das ist wie bei einem Maler. Mit Bong Joon-ho arbeite ich in Acryl, mit Joanna Hogg in Öl, mit jemand anderem in Gouache. Von Jim Jarmusch über Sally Potter bis zu Bong Joon-ho, Joanna Hogg und den Coen-Brüdern: Sie alle arbeiten mit einer eigenen Sprache und in einer eigenen Landschaft. Ich verehre sie alle, und ich verehrte sie schon, bevor ich sie traf. Wenn ich also in einen Rahmen von Pedro Almodóvar trete, kenne ich seine Sprache und sein Farbspektrum bereits. Ich muss sozusagen in seine Aura eintauchen, in seine Arbeitsweise. Es geht einfach darum, den Rahmen angemessen zu füllen.

Wenn Sie das sagen, klingt das so einfach und mühelos. Gab es Projekte, wo Sie Mühe hatten, diesen Rahmen auszufüllen?
Nun, aus diesem Grund ist die Entscheidung, mit wem man zusammenarbeitet, so zentral. Denn es wäre ein Albtraum für mich, wenn ich bereits in ein Projekt verwickelt wäre und feststellen müsste, dass ich den Rahmen nicht angemessen ausfüllen kann oder will. Es ist grossartig, wenn man sozusagen den Vertrag abschliesst – nicht im Wortsinn, sondern wenn man eine Übereinkunft findet, dass man gemeinsam diesen Weg gehen will, auf der Suche nach einem bestimmten Duft, und dabei zu wissen, dass man vom Gleichen spricht. Ich hatte das grosse Glück, dass ich diese Erfahrung immer wieder machen konnte, und ich glaube nicht, dass ich jemals auf halbem Weg merken musste, dass es nicht stimmte.

Wenn Sie also in einem Film wie «Memoria» spielen, nachdem sie im Jahr davor in «Avengers: Endgame» dabei waren, dann füllen Sie einfach nur den jeweiligen Rahmen?
Genau. Es ist einfach ein anderer Film. Eine andere Ecke des Marktes, ein anderer Stand.

Aber die Maschinerie dahinter hat doch völlig andere Dimensionen.
Ja, das ist wahr. Aber meine Abenteuer mit grossen Studiofilmen – und so viele sind es gar nicht, man kann sie praktisch an einer Hand abzählen – waren mir in einem Aspekt alle sehr vertraut: Man kommt sich vor wie bei einem Experimentalfilm, gar nicht weit weg davon, 1988 mit Derek Jarman ein Video für die Pet Shop Boys zu drehen. Es ist einfach eine Art Experiment vor einem Bluescreen oder heutzutage einem Greenscreen. Das hat etwas Nerdiges, was ich wirklich liebe. Bei diesen grossen Studiofilmen sehe ich mich als glückliche Besucherin. Ich bewege mich dort ohne Karte, was ein grosser Vorteil ist. Es ist gut, keine Karte zu haben. Und es ist richtig gut, wenn es einem nichts ausmacht, dass man sich verirren könnte.

Abgesehen davon, dass jeder Film in gewisser Weise ein Experiment sein soll: Worauf achten Sie, wenn Sie sich für ein Projekt entscheiden?
Es geht immer um etwas, das mich neugierig macht, von dem ich aber nicht weiss, wie es geht. Wie werden wir diese Pflanze ziehen? Das reizt mich. Wenn ich schon im Voraus genau sehe, wie ich etwas machen muss, bin ich weniger interessiert. Mir wird schnell langweilig, meine Schwelle ist da sehr tief. Ich möchte mich möglichst nicht wiederholen – und zwar nicht für andere, sondern für mich selbst. Irgendeine Abzweigung, irgendeine Art von Neuland, etwas Neuschnee – das interessiert mich. Das fängt damit an, dass ich ehrlich gesagt im Geist eine absolute Anfängerin bin, was Schauspiel angeht. Ich hatte nie vor, Schauspielerin zu werden, ich bezeichne mich immer noch nicht als Schauspielerin, ich weiss nichts über die Schauspielerei. Wirklich nicht. Und ich bin eigentlich auch nicht daran interessiert, etwas darüber herauszufinden. Wenn ich Interviews mit Schauspielern sehe, versuche ich, sie nicht zu lesen. Ich will das gar nicht wissen, denn wenn ich es wüsste, hätte es keinen Sinn mehr, weiterzumachen.

Das glaube ich Ihnen nicht.
Was genau?

Dass Sie nichts über die Schauspielerei wissen.
Hören Sie, ich weiss nicht, was es da zu wissen gibt. Beim Theater gibt es vielleicht gewisse handwerkliche Fertigkeiten, das stimmt. Ich habe das nie studiert. Als Studentin habe ich in Stücken gespielt, aber sehr halbherzig und vor allem deshalb, weil meine Freunde damals mitspielten oder Regie führten, also spielte ich einfach mit ihnen herum. Als ich dann die Universität verliess, spielte ich noch eine Weile in Theaterstücken mit, weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte. Aber ich merkte sehr bald, dass mich das Theater nicht wirklich interessierte. Das Kino interessierte mich. Ich wusste nicht so recht, wo es zu finden war, aber in dem Moment, als ich es entdeckte, mit Derek Jarman, was eine sehr spezielle Art war, das Kino zu entdecken, wurde mir klar: Was für eine Erleichterung! Bei Derek brauchte ich überhaupt keine Schauspielerin zu sein. Denn das war nicht nötig.

Jetzt haben wir die Jahre vor Derek Jarman einfach übersprungen.
Ich bin mir nicht sicher, ob es überhaupt Jahre vor Derek Jarman gab.

Dann lassen Sie uns das herausfinden. Am Ende von «Memoria» gibt es diese Szene, wo über verschränkte Hände und Arme eine Art Übertragung von Erinnerungen entsteht. Nicht dass wir das jetzt nachspielen müssten, aber wie würde eine solche Übertragung Ihrer Kindheit klingen?
Diese Frage kann ich tatsächlich beantworten, weil ich mich neuerdings um mein Elternhaus kümmern darf. So erlebe ich die Umgebung meiner Kindheit jetzt fast täglich wieder. Meine Brüder und ich hatten das Glück, auf dem Land in Schottland aufzuwachsen. Wir waren sehr frei dort, in dieser Landschaft. Erst letzte Woche habe ich mich daran erinnert, was das für ein unglaublicher Luxus war, im Sommer morgens aufzuwachen, die Treppe hinunterzugehen, ein Stück Brot zu schnappen und vor allen anderen aus dem Haus zu gehen – und dann für einen ganzen Tag einfach hinauszugehen, ganz allein, ohne dass jemand kommt und nach uns sucht! Vielleicht ist es Vernachlässigung, ich weiss nicht. Aber es hat funktioniert, und ich war dankbar dafür. Meine drei Brüder haben viel zusammen gemacht, aber nicht unbedingt mit mir – auch dafür bin ich sehr dankbar. Dann entdeckte ich Pferde, das war der Beginn der Liebe in meinem Leben und von echter Kameradschaft. Ich meine es ernst, wer einmal ein Pferd hatte, weiss, was ich meine. Besonders wenn man jung ist: ein grosses Tier, mit dem man ein echtes Vertrauen entwickeln kann – das war ungemein wichtig. Die Fähigkeit, allein zu sein, hat mir gutgetan, als ich dann auf ein Internat geschickt wurde, was für kleine Menschen nicht ideal ist. Aber ich scheine es überlebt zu haben.

Im Film «Derek» sprechen Sie sarkastisch von der «comedy of manners» britischer Privatschulen. Und ich glaube, es ist Derek Jarman, der in dem Film die Jungs in seinem Internat als «privileged and vicious» bezeichnet, «privilegiert und bösartig».
«Privileged and vicious», das hatte ich ganz vergessen. Ich hätte Lust, T-Shirts damit zu bedrucken und sie an die Regierung zu schicken.

Was ist mit Ihren eigenen Erfahrungen, mit den Mädchen an Ihrer Schule?
Oh, alle waren so verletzt, weil sie von zu Hause weggeschickt wurden. Und verletzte Menschen tun anderen weh, besonders wenn sie elf, zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn und sechzehn sind … Ich wäre einsam gewesen, wenn ich nicht schon gelernt hätte, allein zu sein. Aber die Person, der ich am ersten Tag im Internat in die Augen sah, mit zehn Jahren, war Joanna Hogg. Sie ist buchstäblich meine älteste Freundin. Wenn ich eine Schwester hätte, dann wäre sie es.

Sie haben schon erwähnt, dass Ihr Vater General in der britischen Armee war. Würden Sie sagen, sein beruflicher Hintergrund habe Sie in irgendeiner Weise geprägt?
Nun, er hat mich definitiv inspiriert. Seine Uniformen haben mich angemacht, ich sags Ihnen! Meine Mutter war reizend in ihrem Seidenkleid, wenn sie zusammen auf Partys gingen, aber mein Vater! Er sah unglaublich aus, mit Goldfransen, Medaillen, roten Streifen an den Beinen und glänzenden Schuhen. Aber er legte auch grossen Wert auf Kameradschaft. Gegen Ende seines Lebens, als er nicht mehr so mobil war, fuhr er immer noch einmal im Jahr mit dem Zug von Schottland nach London zu einem Regimentsessen mit allen seinen Freunden. Alle waren in ihren Neunzigern, und dieser Sinn für Kameradschaft und diese absolute Loyalität zueinander rührte mich sehr. Sei das nun vererbt oder erlernt, aber ich glaube, das hat mich stark geprägt. Es ist definitiv auch meine Art: Auch ich habe ein virtuelles Regiment von Freunden. Wir sind Offiziersbrüder und -schwestern, und wir gehen unsere Arbeit wie Übungen an. Aber es ist die Gemeinschaft, die zählt.

Wenn auch ohne die Uniformen.
Nun, mit den Uniformen, wenn möglich. Offenbar haben Sie die Bilder aus Cannes nicht gesehen.

Ja, die Kleidervorschriften dort sollen sehr strikt sein. Kommen wir zu «Orlando». Als ich den Film kürzlich wiedersah, ist mir besonders eine Zeile vom Anfang geblieben: «Obwohl er einen Namen erbte, der Macht, Land und Besitz bedeutete, suchte er nicht nach Privilegien, sondern nach Gesellschaft.» Wie weit spiegelt dies Ihren eigenen Werdegang?
Nun, ich bin in einem Haus mit all diesen Bildern an der Wand aufgewachsen, mit Menschen, die fast genauso aussahen wie ich, nur dass sie unterschiedlich grosse Schnurrbärte hatten. Es ist nicht schwer, da eine Nähe zu Orlandos Atmosphäre zu sehen. Mit einem grossen Unterschied: Orlando verliert ihr Haus, weil sie kein Junge mehr ist, und ich habe zwar drei Brüder, aber das Haus gehört jetzt mir. Als Sally Potter mich bat, mit ihr «Orlando» zu verfilmen, war das einer der grössten Momente meines Lebens. Ich liebte das Buch, ich glaube, ich hatte es gelesen, als ich ungefähr dreizehn war. Inzwischen ist «Orlando» mehr als ein Buch, und auch weit mehr als ein Film. Es ist eine Geisteshaltung, es ist jetzt eine Realität für uns. Ich erinnere mich, wie ich vor etwa sechs Jahren irgendwo auf eine geschlechtsneutrale Toilette ging und einfach stehen blieb und dachte: Wow! Es ist grossartig zu wissen, dass die jungen Leute nicht mehr wissen, was es heisst, sein Leben aus einem vorgeschriebenen Menü auswählen zu müssen. In «Orlando» ging es ja nicht nur um diese Fluidität, sondern auch um Flucht – die Flucht aus einem Klassenparadigma, aus einem nationalen Paradigma und auch aus einem Paradigma der Sterblichkeit.

Sie haben sich unlängst wieder mit «Orlando» beschäftigt, für eine Sonderausgabe der Zeitschrift «Aperture» und für eine von Ihnen kuratierte Ausstellung, die auch im Fotomuseum Winterthur zu sehen war. Wie hat sich Ihr Blick darauf verändert, dreissig Jahre nach dem Film?
Es gibt eine Art Legende über «Orlando», das Buch und den Film, wonach es darin um Geschlechteridentität gehe. Und ich glaube wirklich nicht, dass das der Punkt ist. Ich glaube nicht, dass Virginia Woolf an Gender im eigentlichen Sinne überhaupt interessiert war. Ich glaube, sie war an einem Gefühl von Freiheit und Grenzenlosigkeit interessiert. Hätte sie noch weitergeschrieben und wäre das Buch tausend Seiten länger gewesen, wäre Orlando auf den nächsten 200 Seiten vielleicht ein Spaniel gewesen, oder dann wieder ein Junge, oder ein Klavier. Man unterschätzt Woolfs Projekt, wenn man sagt, dass es ihr um Gender ging. Es ging ihr um einen freien Geist, das ist viel wichtiger als dieser leicht binäre Wechsel. Als wir uns für den Film ganz praktisch überlegten, wie ich als Junge und wie ich als Mädchen sein würde, wurde uns klar, dass das nicht das Entscheidende war. Es ging nicht um Differenz oder um Veränderung – Beständigkeit, das war der Punkt. Dieselbe Person zu sein, komme, was wolle, das war der Punkt. All die Reifröcke, die Rüschen und die Wämser, das ist einfach Material. Aber was wirklich Gestalt annehmen musste, war der beständige Geist dieser Person, die stets sie selbst blieb. Damit kommt man dem Buch viel näher.

Höchste Zeit, dass wir hier noch «Planet Jarmania» besuchen, wie Sie ihn im Film «Derek» nennen. Derek Jarmans Einfluss auf Sie kann wohl nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ist er immer noch präsent in dem, wer Sie heute sind?
Oh, absolut. Wenn ich mir vorstelle, was wäre, wenn ich Derek nicht getroffen hätte, wird mir schwindlig. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich kein Kino machen würde. Wenn ich daran denke, was er mir eröffnet hat, und nicht nur mir, sondern auch anderen Leuten, die zur selben Zeit den Planeten Jarmania betreten haben. Wir waren alle ein Haufen Kinder, die noch nie einen Film gemacht hatten. Er hat uns bis auf die Knochen beeinflusst, und ohne ihn würden wir nicht das tun, was wir heute tun. Im Kollektiv zu arbeiten, das hatte er von seinen Lehrern in den sechziger Jahren gelernt. Er nahm diese Idee auf und trug sie weiter. Das hat die Art und Weise, wie ich gerne arbeite, absolut geprägt.

Der Begriff «Muse» ist ja etwas in Verruf geraten. Haben Sie sich je als eine Art Muse für Jarman gesehen? Oder war das nie eine Frage, weil über allem die Idee der Zusammenarbeit stand?
Ich glaube nicht, dass Derek eine andere Muse brauchte als sich selbst. Aber ich verstehe, warum Sie das fragen, und es ist eine heikle Frage. Ich wehre mich nicht gegen das Wort «Muse», ich wehre mich dagegen, was man sich gewöhnlich darunter vorstellt – eine passive Frau mit langen roten Haaren, die auf irgendeiner Ebene missbraucht wird und ihren Mund hält. Das war bei uns nicht so. Aber es ist wahr, dass Derek, wie jeder gute Punk, ein tiefer Romantiker war. Ich wünschte, er wäre hier, aber ich habe das Gefühl, dass er, als er mich traf, sah, dass ich ihm wie einem Maler eine bestimmte Farbe bieten konnte – eine weibliche Farbe, eine feminine Farbe, aber auch eine androgyne Farbe, mit der er malen konnte. Das war sehr nützlich für ihn, und ich war dankbar dafür, weil es auch für mich nützlich war. Ich weiss nicht, ob er danach gesucht hat, aber er hat auf jeden Fall … Jetzt werde ich schüchtern, ich weiss nicht, was ich sagen soll. Ich kann nicht für ihn sprechen.

Diese enge kreative Gemeinschaft um Derek Jarman: War das eine Erfahrung, die Sie auch später gefunden haben, in anderen Umgebungen?
Derek bot uns einen Sandkasten, wo wir herausfinden konnten, was uns wirklich interessierte. Ich musste nur gefilmt werden und konnte vor der Kamera machen, was ich wollte. Wir drehten pausenlos auf Super-8, das war Jahre bevor es Handykameras gab. Ein Grossteil dieses Materials landete dann in «The Last of England» und «The Garden» – zwei Meisterwerken des Kinos, wie ich finde. Wir haben die zusammengestellt wie eine Anthologie von Gedichten, einfach Bruchstücke zusammengefügt und alles zusammengequetscht. Es war eine einzigartige Spielwiese, auf der wir völlig unorthodox sein konnten: Es gab keinen Text zu lernen, es gab keine Figuren, die man darstellen musste, man musste nichts vortäuschen. Es war alles authentisch, näher am Tanz als an irgendetwas anderem. Wir spielten einfach, wie Kinder. So habe ich neun Jahre lang mit Derek gearbeitet.

1994 starb er an Aids. Und dann?
Als er starb, war ich wirklich auf dem Trockenen, denn das war so ziemlich alles, was ich gemacht hatte, abgesehen von «Orlando», was schauspielerisch auch ziemlich unorthodox war. Danach wusste ich wirklich nicht, was ich tun sollte. Ich wusste, dass ich kein Profi war. Ich wusste, dass ich keinen Lebenslauf vorweisen konnte, und ich wollte niemandem etwas vormachen. Eine Zeit lang liess ich es einfach auslaufen – und dann kamen nach und nach die Leute und baten mich, mit ihnen zu arbeiten. Und das Wunder ist, dass ich diese anderen Familien gefunden habe, mit Wes Anderson, mit Bong Joon-ho oder jetzt natürlich mit Joanna Hogg. Das ist das Wunder in meinem Leben: süchtig zu werden nach einer sehr seltenen Droge – und dann zu merken, dass sie auch dann noch verfügbar war, als die ursprüngliche Versorgung versiegt war.

Jarman war also nicht nur ein Planet, sondern auch eine seltene Droge?
Er war der Dealer. Ich hatte das Glück, zu erfahren, was es heisst, wirklich authentisch und entspannt zu sein – das ist die Droge, mit der Derek uns versorgt hat. Wenn man das weiss, ist es wie Goldstaub. Weil ich keine Ausbildung hatte, war ich in keiner Wiese diszipliniert, man hat mich auch nicht diszipliniert. Mein Agent hat mir einmal eine Geschichte erzählt, auf die ich sehr stolz bin, obwohl sie ein bisschen blöd ist. Es gab eine wunderbare Castingfrau namens Mary Selway, und in den Neunzigern, als ich immer wieder für grosse Studiofilme angefragt wurde und einfach nicht wollte, rief sie einmal quer durch den Raum: «Kann Tilda Swinton zur Abwechslung mal etwas tun, was sie nicht will?» Das ist interessant, diese Idee, dass man, nur weil man 24 oder 25 ist, lernen müsse zu tun, was man nicht will. Ich war durch meine exklusiven Anfänge mit Derek geschützt. Dieser Sinn für Würde und das Wissen, wie gut es ist, entspannt zu sein: Ich mache keine Witze, wenn ich sage, wie enorm wichtig es ist, auf diese Weise verwöhnt zu sein.

Kino ohne Grenzen

Seit ihren Anfängen mit dem britischen Avantgarde-Regisseur Derek Jarman und ihrem Durchbruch in Sally Potters «Orlando» (1992) pendelt Tilda Swinton ansatzlos zwischen Mainstream und Kunstkino und überall dazwischen. Die 61-jährige Schottin hat wiederholt mit Regisseuren wie Wes Anderson, Luca Guadagnino oder Jim Jarmusch gedreht, zuletzt war sie in «Memoria» von Apichatpong Weerasethakul zu sehen. Im September folgt «Three Thousand Years of Longing» von George Miller, dem Regisseur von «Mad Max».

Ihre wichtigsten Filme liefen im Frühjahr in einer grossen Werkschau im Zürcher Filmpodium. Zum Abschluss der Retrospektive war Tilda Swinton Gast bei einem Publikumsgespräch, auf dem dieses Interview beruht. Das Gespräch ist in voller Länge als Video verfügbar, siehe blog.filmpodium.ch .