Christian Petzold: Gespenster in der Vergangenheit

Nr. 24 –

Warum er einen Film in der ehemaligen DDR drehte, wie er als Jugendlicher mit Wrigley’s-Kaugummis Freunde fand und wie das Auto die Solidarität unter Arbeitern zerstörte, erzählt der Filmemacher Christian Petzold im Gespräch mit der WOZ.

WOZ: Christian Petzold, Ihre bisherigen Filme spielten alle in der Gegenwart. Sie streiften jeweils aktuelle Themen wie etwa in «Yella» den Finanzkapitalismus. Warum haben Sie sich für Ihren neuen Film «Barbara» entschieden, eine Geschichte zu erzählen, die 1980 in der DDR spielt?
Christian Petzold: Sowohl bei meinem Film «Die innere Sicherheit» wie auch bei «Toter Mann» sind es die Gespenster der Vergangenheit, die in der Gegenwart ihr Unwesen treiben. Nun wollte ich den umgekehrten Weg gehen: von der Gegenwart in die Vergangenheit. Sodass wir, die wir aus der Gegenwart sind, uns wie Gespenster vorkommen. Wir reisten mit der Filmcrew durch die ehemalige DDR. Das Faszinierende am Osten ist ja, dass das Geld nicht gereicht hat, um alles zu renovieren. So hat man alles nebeneinander: die Spuren des Kriegs, des Friedens, der Armut, des Reichtums – und es gibt Orte, die sich seit dem Fall der Mauer kaum verändert haben. Für uns war es eine Reise zurück in die Vergangenheit. Und plötzlich stellten wir unsere sonst so sichere Position der Gegenwart, die ja so reich und vielfältig ist, infrage. Wir fragten uns, ob das, was wir heute erreicht haben, so viel besser ist als das, was sie damals hatten. Leben wir heute in einem realisierten Traum oder in einem realisierten Albtraum?

Sie reden von Gespenstern – all Ihren Filmen haftet etwas Gespenstisches an. Die Figuren sind stets verlorene, einsame Seelen. Auch in «Barbara» wirkt Nina Hoss als Ärztin Barbara wie aus einer anderen Welt. Woher kommt Ihr Interesse an diesem Gespenstischen?
Das hat wohl mit meiner Sozialisierung zu tun. Ich bin in einer Reihenhaussiedlung in einer Kleinstadt in der Nähe von Düsseldorf aufgewachsen. Als wir in die neu gebaute Siedlung einzogen, waren die Gärten hinter den Häusern miteinander verbunden, man hatte direkten Zugang zum dahinter gelegenen Park – wunderbar. Doch innert kürzester Zeit erreichten die Kleinbürger mit einer Initiative, dass die einzelnen Gärten parzelliert wurden. Zäune wurden hochgezogen, und jedes Häuschen erhielt seinen eigenen Garten. Dieses Zäuneziehen in Deutschland ist ja immer gegen jene Leute gerichtet, die das Grundstück nicht betreten sollen – vielleicht hat es mit dem Nationalsozialismus zu tun, wobei ich glaube, eher mit einem internationalen Kleinbürgertum. Eine Gesellschaft mit hohen Zäunen produziert genau die Aussenseiter, vor denen sie sich schützen wollte.

Was mich interessiert, sind Menschen, die einmal dazugehört haben, aber aus irgendeinem Grund aus den Reihenhaussiedlungen herausgefallen sind und nun wieder nach Hause kommen möchten.

Ihre Obsession in Bezug auf das Gespenstische hat also mit Ihrer eigenen Geschichte zu tun?
Ganz klar. Ich hatte mich als Jugendlicher in der Kleinstadt, in der ich aufwuchs, immer fremd gefühlt. Obwohl ich mich in jedem Verein engagiert hatte, den es dort gab. Ich dachte lange, alle Jugendlichen würden die Welt der Erwachsenen als eine Welt der Gespenster wahrnehmen. Bis ich realisierte, dass mein Mich-fremd-Fühlen damit zu tun hatte, dass meine Eltern Flüchtlinge aus dem Osten waren. Während meiner ersten Lebensjahre haben wir in einer Barackensiedlung gewohnt. Die Geschichte der Bundesrepublik ist ja auch eine Geschichte der Flüchtlingsbewegung. Doch diese wird in deutschen Filmen nie thematisiert. Millionen von Menschen zogen zwischen 1945 und 1955 an einen neuen Wohnort. Als ich das realisierte, begann ich mich mit der Herkunft meiner Eltern zu beschäftigen: der DDR.

Kannten Sie als Jugendlicher beide Welten, die DDR und die BRD?
Ja, wir verbrachten die Ferien immer in der DDR. Und dort war ich als Junge jeweils der Star, weil ich Dinge hatte, die die Kinder dort nicht hatten. Ich war ein Angeber. Ich verschenkte Wrigley’s-Kaugummis und gewann so neue Freunde. Als mein Vater Ende der Siebziger arbeitslos wurde, wollte er zurück in die DDR. Er meinte, schlimmer als im Kapitalismus könne es dort nicht sein. In der DDR gab es zwar keine Wrigley’s-Kaugummis und keine Beatles-Platten, dafür Arbeit und keinen Stress. Doch die DDR war zu jener Zeit schon am Serbeln, und wir gingen nicht zurück. Ich glaube, letztendlich ist die DDR auch daran kaputtgegangen, dass es eben keine Beatles-Platten und keine Jugendkultur gab und keine Widersprüche zugelassen wurden. Es war ein extrem protestantisch-preussisches Land, in dem es keine Verschwendung gab – sogar die Sexualität und die Erotik waren vernünftig. Grauenhaft!

Wie erlebten Sie 1989 den Mauerfall?
Meine Frau und ich waren in unserer Wohnung in Berlin beim Kochen, als wir am Radio hörten, dass die Mauer passierbar sei. Wir fuhren sofort an die Bornholmer Strasse und sahen Tausende von tanzenden Menschen. Das war toll. Zwei Tage später war ich mit meiner Frau auf einer Party. Vom Balkon aus sahen wir auf der Strasse eine Gruppe junger Ostberliner – man erkannte ja, ob jemand aus dem Osten oder aus dem Westen war, auch heute noch. Meine Frau lud die Ostberliner zum Fest ein. Sie kamen hoch, und da sagte einer zu meiner Frau, die Türkin ist: «Das Einzige, was mich bei euch im Westen stört, sind die vielen Ausländer.» Da dachte ich, ach du Scheisse, das fängt ja gut an. Mir wurde damals klar, dass die Identität des vereinigten Deutschland auf die Kosten der Asylsuchenden und Ausländer gehen würde.

Meine Eltern fuhren übrigens nach 1989 nie mehr in die ehemalige DDR. Ich begriff, dass sie jeweils gar nicht zurück nach Hause, sondern in den Sozialismus gefahren waren. Als es den dort nicht mehr gab, interessierte sie das Land nicht mehr. Denn die Alternative zum Kapitalismus, auch wenn es im Osten ein starker Apparatschik-Sozialismus der ekelhaftesten Art und Weise war, doch es war wenigstens eine Alternative – die war weg.

Gibt es jetzt keine Alternative mehr?
Scientology vielleicht (lacht). Seit dem 11. September 2001 ist der Welthandel – das World Trade Center – weg, und wir sind von einem Produktionskapitalismus in einen Finanzkapitalismus übergetreten, der uns zerstört hat. Im Produktionskapitalismus gibt es noch Arbeiter. Die werden zwar ausgebeutet, doch sie existieren noch. Im Finanzkapitalismus gibt es sie nur noch als Gespenster.

Ich glaube übrigens, eine gewisse Zerstörung der Arbeiterklasse hat begonnen, als jeder Arbeiter ein Auto bekam. Man gibt dem Angestellten ein Auto, und der denkt, das ist mein Produktionsmittel. Aber das Auto stellt ja nix her. Es verliert nur an Wert von morgens bis abends, da kann er es noch so viel putzen. Und eine solidarische Gemeinschaft unter Autofahrern ist sehr, sehr schwierig. Die Autofahrer sitzen in ihrem Auto, glauben, sie seien die Welt, und bringen sich sogar wegen Parkplätzen um.

Wenn man Ihre Filme schaut, hat man das Gefühl, die Deutschen fahren wahnsinnig viel Auto.
Das tun sie ja auch. Ich glaube, dass die Deutschen mehr Zeit im Auto als mit der Familie verbringen. Zudem ist das Auto häufig nicht nur Transportmittel, sondern auch eine Art Wohnzimmer. Hier finden Diskussionen und Reflexionen über ein Ereignis statt. Und genau das soll das Kino zeigen: das Nachbeben eines Ereignisses oder die Reflexionen darüber. Wir sind ja auch in Wirklichkeit bei den Ereignissen fast nie dabei, sondern wir sehen erst im Nachhinein, was passiert ist. Das sich überschlagende Auto kommt mir weniger interessant vor als das Auto, das in der Wiese liegt. Der Tatort, wo bereits etwas passiert ist, das ist der Schauplatz, der mich interessiert. Das ist für mich ein Kino-Ort.

Christian und «Barbara»

Der deutsche Filmemacher Christian Petzold (*1960) studierte in Berlin Germanistik und Theaterwissenschaften und anschliessend Film an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB). Mit «Die innere Sicherheit» (2001) schaffte er den Durchbruch, mit «Wolfsburg» (2003), «Gespenster» (2005), «Yella» (2007) und «Jerichow» (2008) etablierte er sich als einer der wichtigsten deutschen Filmemacher. Sein neuer Film «Barbara», der ab 14. Juni in Deutschschweizer Kinos gezeigt wird, erzählt von einer Ärztin, die 1980 in der DDR in die Provinz strafversetzt worden ist, wo sie in einem Klima des Misstrauens versucht, ihre Arbeit so gut wie möglich zu machen. Der Film ist Petzolds fünfte Zusammenarbeit mit der Schauspielerin Nina Hoss. Er wurde an der Berlinale 2012 mit dem «Silbernen Bären» für die «Beste Regie» ausgezeichnet.