Leser:innenbriefe

Nr. 6 –

Männerfantasie

«Wer hat Angst vor Bella Baxter?», «wobei» Nr. 1/24

Die positive Resonanz zum Film «Poor Things» erschüttert mich etwa genauso wie bei «Barbie», und leider gehört euer Redaktor zu den Leuten, die lobende Worte beitragen. Wir haben es hier mit einer pervertierten «male fantasy», einem halbfertigen «male gaze» auf feministische Emanzipation zu tun. Es drängt sich ein Geschmäckle von pseudofeministischer Emanzipation mit Happy End auf, das für mich absolut ungeniessbar war. Ich habe nichts gegen schockierende Elemente und Spiele mit dem moralisch Verwerflichen, aber die Unsorgfältigkeit, mit der diese Elemente hier anscheinend der Buchvorlage entrissen wurden, ist für mich unverzeihlich.

Der Redaktor scheint das zu verkennen. Bella Baxter ist als Ganzes und in jedem weiteren Punkt ihrer Entwicklung eine fleischgewordene Männerfantasie, und sie ist und wird leider nicht viel mehr als das. Indem Regisseur Yorgos Lanthimos genau das Element aus dem Buch weglässt, in welchem sich die ganze verzwickte Biografie der Bella Baxter als ausgefeilte männliche Fantasie entpuppt, verwehrt er uns eine tatsächliche Moralisierung. Und es ist ja nicht so, dass er gar nicht moralisieren wollte, aber er tut es nur billig und oberflächlich.

Sätze wie «Das naive Monster, das staunend die ungeschriebenen Gesetze des Patriarchats aus den Angeln hebt» sind für mich absolut unhaltbar. Diese alte Leier der Naivität, die dem Patriarchat etwas entgegenhält, ist langweilig und gefährlich – eine deplatzierte Verniedlichung. Immerhin ist diese Naivität der Figur im Film dem Kindsein geschuldet, und dass es eigentlich ein Kind ist, mit dem experimentiert, geschäkert und gefickt wird, müsste nochmals anders schockieren. Lanthimos lässt keinen Raum für diesen Schock, er will zeigen, wie eigen der Bella diese Lust ist, wie positiv sich dann doch alles entwickeln kann, wenn sie so naiv in die Welt hinaustritt. Es gefällt mir ganz und gar nicht, wenn Männer solche Filme machen und andere Männer die auch noch gut finden und diese Filme dann allgemein mit dem Attribut «feministisch» versehen werden.

Iliana Collenberg, per E-Mail

Erneute Polemik

«Essay: Jenseits von Schützengräben und Barrikaden», WOZ Nr. 4/24

Zum Plädoyer der Journalistin gegen die Gehässigkeit und die Polarisierung in der Antisemitismus- und Postkolonialismusdebatte passt ihre erneute Polemik gegen Judith Butler («mit aktivistischem Zungenschlag») nicht. Dass mehrere Zeitungen die Philosophin diffamieren, vom «Tages-Anzeiger» bis zur «Zeit», reiht sich in deren politische Agenda gegen links und Feminismus.

Es erstaunt aber, dass die Journalistin in der WOZ schreibt, dass Butler die «Hamas fahrlässig verharmlost». In Butlers Text jedoch steht: «In der Tat verurteile ich die von der Hamas verübte Gewalt ohne Einschränkung. Dies war ein schreckliches und abscheuliches Massaker.» Und einige Zeilen weiter: «Wenn das Harvard Palestine Solidarity Committee jedoch eine Erklärung abgibt, in der es behauptet, dass ‹das Apartheidregime allein die Schuld› an den tödlichen Angriffen der Hamas auf israelische Ziele trägt, dann macht es einen Fehler. Es ist falsch, die Verantwortung auf diese Weise zuzuweisen, und nichts sollte die Hamas von der Verantwortung für die abscheulichen Morde, die sie verübt hat, freisprechen.»

Statt über Texte zu schreiben, die kaum jemand gelesen hat, wäre es da nicht sinnvoller, den Essay von Judith Butler «The Compass of Mourning» aus der «London Review of Books» vom 20. Oktober den WOZ-Leser:innen zeitnah in guter Übersetzung zugänglich zu machen? Und nicht schon im ersten Satz eines früheren Textes der Journalistin (WOZ Nr. 43/23) das Urteil zu lesen: «Ein nicht sehr guter Essay der Philosophin Judith Butler …»

Patrik Landolt, per E-Mail

Nicht mehr tragbar

Berichterstattung zu Palästina/Israel

Ich kündige hiermit per sofort mein Abo bei der WOZ. Mein Herz blutet, ich war jahrzehntelang treue Leserin. Aber mein Herz blutet nicht so sehr, wie die unschuldigen palästinensischen Menschen bluten, die täglich von ihrer Besatzungsmacht in Grund und Boden gebombt und abgeschlachtet und ausgehungert und ausgedürstet werden. Wenn die WOZ meint, dass sie diesen Genozid gar nicht oder nur relativierend darstellen muss, und das nun seit Monaten, dann ist leider auch diese Zeitung für mich nicht mehr tragbar.

Regula Züger Càceres Arroyo, per E-Mail

Im Überfluss

«Vor der Abstimmung: Mit der grossen Kelle gegen sozialen Fortschritt», WOZ Nr. 4/24

Die AHV ist seit ihrer Einführung ein Ärgernis für die Bürgerlichen, da die Banken daran kaum verdienen. Nach dem Landesstreik 1918 wurde die angenommene AHV-Initiative dreissig Jahre lang nicht umgesetzt. Und als es 1948 nicht mehr anders ging, sorgte die Parlamentsmehrheit dafür, dass die Rente (auch heute noch) nicht lebenssichernd ist.

Zum Giesskannenprinzip: Kein Millionär (auch Christoph Blocher nicht) würde auf Versicherungsleistungen für seine Luxuskarrosse verzichten. Zur Finanzierung: Geld ist in der Schweiz im Überfluss vorhanden. Da sind einmal die grotesk hohen Reserven der Nationalbank. Und die Firmensteuern sind seit dreissig Jahren nur gesenkt worden. Sie müssten nur, wie von der OECD gefordert, auf mindestens fünfzehn Prozent angehoben und der Mehrertrag der AHV zugeführt werden.

Max Hilfiker, Zürich

WOZ Debatte

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Kommentare

Kommentar von grapo

Do., 08.02.2024 - 11:06

Vielen Dank, Patrik Landolt!
Auch ich habe den Eindruck, es gehe bei diesen zwei Artikeln nicht um eine Auseinandersetzung mit Texten (Judith Butlers). "Polemik" trifft es einerseits gut. Spannend ist jedoch, dass in beiden Artikeln eine beobachtende "Aussenperspektive" den Rahmen bilden soll. Die Häufung indirekter Rede wird aber immer wieder durchkreuzt von beiläufigen Verunglimpfungen, Fragen, die keine sind, und nicht weiter erläuterten Behauptungen, die anschliessend als Voraussetzung für den Textverlauf dienen. Im ersten Artikel bin ich zudem über die wiederholte, etwas ungelenk wirkende Wendung "nicht sehr gut" gestolpert. Sie auch? Zeigt sich hier das Ringen zwischen Polemik und "Aussenperspektive"? Für mich scheinen im "nicht sehr gut" andere Begriffe durch, die den Artikel für die Rubrik "Im Affekt" empfohlen hätten. Dann wäre zwar eine radikale Kürzung nötig gewesen, doch dafür hätte es Platz gegeben für die von Ihnen vorgeschlagene Übersetzung von Butlers Text. Wenn ich wünschen könnte, wäre diese Übersetzung von einer Kommentierung begleitet gewesen, die Butlers Text in ihren Schriften der letzten 20 Jahre verortet. Der journalistische Feldzug gegen postkoloniale Theorieansätze (und Critical Whiteness Studies sowie Critical Race Studies), die Prominenz von "antideutschen" Positionen in der deutschsprachigen Linken oder die Beschäftigung mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Antisemitismus und kolonialem Rassismus, etc. hätten dann zwar auf zukünftige Ausgaben verschoben werden müssen, aber der zusätzliche Raum, die Auseinandersetzung mit spezifischen Texten oder Expert*innen, würde einige im Gedränge dahin geworfene Verkürzungen vielleicht wieder verflüssigen. Und das wäre ja ganz in Daniela Jansers Interesse.