Nahost-Essay: Judith Butler auf dem Schlachtfeld der Gedanken
Ein nicht sehr guter Essay der Philosophin Judith Butler über die jüngste Gewalt im Nahen Osten provoziert widerstreitende Reaktionen. Er ist ein Symptom für Debatten in Kriegszeiten.
Das Problem mit dem intellektuellen Diskurs dieser Tage ist, dass er oft ähnlich wie der Nahostkonflikt selbst funktioniert: hochexplosiv, durchsetzt mit Falschinformationen und Halbwahrheiten, unerträglich polarisiert, auf gegenseitigen Schaden aus.
Judith Butler, eine der einflussreichsten linken Intellektuellen unserer Zeit, hat einen kontroversen Essay für die renommierte britische Zeitschrift «London Review of Books» geschrieben. Der Text ist nicht sehr gut (was selbstverständlich auch umstritten ist), angefangen beim Titel: «Der Kompass der Trauer». Man darf sich fragen: Taugt Trauer wirklich als Kompass? Und in welche Richtung würde uns dieser Trauerkompass denn lenken? Vorausgesetzt, dass ein Kompass letztlich nur eine Funktion haben kann, nämlich ein einheitliches, korrektes Orientierungssystem anzubieten.
Aktivistische Verkürzungen
Im Essay unternimmt Butler, Vordenkerin der Gender Studies und präzise Analytikerin von sprachlichen Machtstrukturen, den Versuch, die jüngste Gewalt im Nahen Osten zu beschreiben und zu kontextualisieren. Sie greift dazu auch auf eine ihrer eigenen Theorien zurück. In den Medien herrsche eine unterschiedliche «grievability», also eine ungleiche «Betrauerbarkeit» von Leben, hält sie fest. Israelisches Leben werde ausführlich betrauert, palästinensisches Leben dagegen kaum. Sie schreibt das eine knappe Woche nach der Ermordung von über tausend israelischen Zivilist:innen – deren Leben und Sterben in ihrem eigenen Text zu einer Leerstelle wird.
Sie nennt das Morden der Hamas «fürchterlich und abstossend», verurteilt das Massaker in aller Form, rechtfertigt es keineswegs. Aber sie analysiert es nicht ansatzweise so ausführlich wie mögliche Motive für den Gewaltausbruch. Das Massaker ist für sie nur eine Station, um gleich zum «Kontext» zu springen, zu den Begleitumständen des Mordens. Um ihre eigenen Begriffe anzuwenden: Butler lässt in ihrem Text die «Betrauerbarkeit» von jüdischem Leben nur eingeschränkt zu. Die über 200 Geiseln in der Gewalt der Hamas «vergisst» sie ganz.
Kontextualisierung ist entscheidend, wer würde dieser trivialen Einsicht widersprechen? Doch gerade in seiner Analyse des Kontexts zeigt der Text eine weitere Auffälligkeit: Die kritische Vokabel «kolonial» – gemünzt auf die israelische Politik und Gewalt – fällt im Text elfmal. Das Wort «Antisemitismus» kommt dagegen nur ein einziges Mal vor, und zwar in einem verwickelten Zusammenhang: Man müsse Israel kritisieren dürfen, ohne «bösartigerweise des Antisemitismus bezichtigt zu werden». Bei all den Aber-Sätzen im Text heisst es nie: «aber der Antisemitismus». Anstatt also Antisemitismus als belastbares Motiv für das Morden der Hamas wenigstens einmal beim Namen zu nennen, schreibt Butler: «Auch ich bin Jüdin.» Sie erwähnt das Generationen überdauernde Trauma durch «Gräueltaten, die gegen Menschen wie mich» begangen wurden. Um sofort hinzuzufügen: «Aber solche Gräueltaten wurden auch gegen Menschen verübt, die nicht sind wie ich.»
Ihre aktivistisch verkürzte Verurteilung von Israel als Kolonialregime und Apartheidstaat ist historisch falsch; nicht nur wegen des bei Butler nur sehr allgemein angedeuteten existenziellen Bezugs zum Holocaust (siehe WOZ Nr. 6/22). Was selbstverständlich nicht bedeutet, dass man die aktuelle rechte Regierung und die jahrzehntelange Gewaltpolitik Israels nicht hart kritisieren, die vielen Opfer und die humanitäre Katastrophe in Gaza nicht benennen muss.
Geister bändigen
Doch die von Butler zu Recht angeklagte Asymmetrie der Macht zwischen Israel und Palästina lässt sich nicht mit einer genauso asymmetrischen Analyse der Umstände bekämpfen – und mit einer ungleichen Anteilnahme. Der «Horror der letzten Tage» könnte in den Medien ein grösseres moralisches Gewicht erhalten als «der Horror der letzten siebzig Jahre», so Butlers Befürchtung. Auch das Wort «Horror» kommt im Text elfmal vor, sehr oft für einen Text mit rationalem Anspruch. «Wo beginnt dieser Horror, und wo endet er?», heisst es an einer weiteren Stelle. Man ist versucht, polemisch nachzuhaken: Begann er vor siebzig Jahren – oder ist er vielleicht schon älter?
Gut möglich, dass es für die windschiefe Analyse auch banale Gründe gibt. Butler arbeitet sich auffallend ausführlich am kurzen Statement einer Gruppe von Harvard-Student:innen ab, die bereits zwei Tage nach dem Massaker dem israelischen «Apartheidregime allein die Schuld» an der Gewaltexplosion gaben. Zumindest implizit berief sich die Gruppe damit vielleicht auch auf eine alte Aussage von Butler selbst. Sie hatte 2006 bei einer Veranstaltung in Berkeley den daraufhin oft zitierten, unseligen Satz geäussert, es sei «extrem wichtig», «die Hamas und die Hisbollah als soziale Bewegungen zu verstehen, die progressiv sind und zur globalen Linken gehören». Von diesem alten Satz muss sie sich in ihrem Essay nun losschreiben, sich auch von den radikalisierten Student:innen abgrenzen – und wohl nicht zuletzt die Geister in ihrem eigenen Kopf bändigen, die sie einst gerufen hatte.
Totale Ablehnung
Nein, dieser Essay taugt kaum als Kompass. Er sendet verwirrende Orientierungssignale. Er wiederholt und windet sich. Butler versucht das Kunststück, sich klar von der Hamas zu distanzieren und trotzdem alte Parameter ihres Denkens über Israel zu retten. Sie begegnet dem von ihr konstatierten Mangel an Empathie für das Leid der Palästinenser:innen mit einer relativierten Empathie für das Leid der Israelis. Offen bleibt, inwiefern dieser diskursive Aktivismus den beklagten realen Opfern der israelischen Politik nützen soll. Eine in der Vergangenheit oft als überreflektiert beschriebene Philosophin, eine Ikone des differenzierten Denkens, nimmt hier intellektuelle Abkürzungen. In all diesen Punkten wird der Text zum Symptom für den Konflikt selber – und für unseren Umgang mit ihm.
Genauso symptomatisch sind die teils heftigen Reaktionen auf den Essay. Teile der postkolonialen Bewegung loben ihn überschwänglich; vielleicht deshalb, weil Butler das geläufige aktivistische Vokabular bedient; oder auch einfach, weil der Wunsch nach Orientierung gerade sehr gross ist. Viele in der radikalen Linken verwerfen ihn – weil man es politisch daneben findet, überhaupt von Trauer zu sprechen. Das sei kein emanzipatorisches, kämpferisches Vokabular, schimpft etwa die kommunistische US-Politikwissenschaftlerin Jodi Dean. Butler-Skeptiker und Kritikerinnen postkolonialer Theorien wiederum sehen mit Butlers Beitrag nun deren Ende besiegelt: «#Postcolonial hat fertig», twittert einer. Überzogene Urteile, Vereinfachungen, ein Schlachtfeld der Thesen: Die Rezeption von Texten funktioniert nur noch über eine allzu glatte Anschlussfähigkeit an eigene Ideen oder über gnadenlose Ablehnung.
So bedeutet es auch nicht, dass nun ihr ganzes Werk diskreditiert wäre, nur weil Butler überstürzt einen nicht sehr guten Essay geschrieben hat. Und dieser Text ist auch kein Beleg für die Bedeutungslosigkeit postkolonialer Theorie. Er ist keine Bankrotterklärung von Gender Studies, intersektionalem Denken oder einer «postmodernen Linken», in die «Die Zeit» Butler einsortiert – zusammen mit der Rapperin Nura und dem toten Philosophen Michel Foucault. Verrückt, dass man das eigens erwähnen muss. Es sind Debatten in Zeiten des Krieges.
Kommentare
Kommentar von guildo
Mi., 25.10.2023 - 20:14
Die Feedbacks kommen nicht aus einem luftleeren Raum. Vielleicht lohnt es sich den Kontext zu bedenken. Dass es interessegeleitet Feedbacks gibt. Dass die wichtige und unbequeme jüdische Aktive, die den Boykott des Apartheidstaates Israel mit BDS verteidigt, nicht gut ankommen darf, keine Chance haben darf. Dass Judith Butler interessegeleitet mit allen Mitteln schlecht gemacht wird.
Kommentar von grapo
Do., 26.10.2023 - 16:33
Ich würde diese Interpretation - ist es eine? - von Butlers Essay fast schon "bösartig" nennen.
Kommentar von guildo
Do., 26.10.2023 - 20:55
Im Essay wir Butlers "Apartheid"-Begriff zu Israel und der israelische "Kolonialimsus" in einem Nebensatz abgetan. Hier sagt Butler, was diese in der realen Praxis bedeuten und bewirken: Butler Condemns Israel’s “Genocide” in Gaza https://www.democracynow.org/2023/10/26/judith_butler_ceasefire_gaza_israel
Kommentar von guildo
Do., 26.10.2023 - 20:56
die Fortsetzung des Interviews mit Judith Butler: https://www.democracynow.org/2023/10/26/judith_butler_on_hamas_israels_collective
Kommentar von guildo
Do., 26.10.2023 - 23:01
Was soll lobenswert sein an Frau Jansers krämer:innenhaftem Begriffe bei Butler wie Erbsen zählen? Am Hervorkramen von alten Aussagen zu Hamas+Hinbollah, die Judith Butler schon längst revidiert hat? Diese Methoden sagen mehr aus zu Frau Janser, als zur unbequemen, engagierten und hochqualifizierten Judith Butler.
Kommentar von P. Holenstein
Di., 31.10.2023 - 10:37
Das ist ein Tiefpunkt für die WOZ, die sonst meine letzte Rettung im aktuell rechtsextrem werdenden Einheitston der grossen Zeitungen war. Alle verlangen, und Daniela Janser nun auch, dass nur die Bestialität der Hamas-Gewalt Thema sein darf. Dabei bringt Israel still und ungestört die Pläne, die es bis zum 6. Oktober verfolgte, mächtig vorwärts. Was daran ist weniger brutal, Millionen von zivilen Personen, die bereits vollkommen ausgeliefert sind, durch Entzug der Lebensgrundlagen langsam zu töten? Die bitterarme Bevölkerung riesiger Städte gesamthaft zu vertreiben unter der Drohung, sie seien sonst «legitime Kriegsziele» - und dann die Zufluchtsorte im Süden zu bombardieren? Keine Nothilfe, keinen Waffenstillstand zuzulassen? Es ist wichtig zu wissen, dass Israel all dies, was es jetzt vor den Augen der Welt tut, schon seit Jahrzehnten verfolgt. Das weiss doch die WOZ. Judith Butler hat eben recht damit, dass das Leben von Israelis und Palästinenser:innen sehr unterschiedlich viel wert gilt.