Wer hat Angst vor Bella Baxter? Frankensteins unersättliche Tochter: Emma Stone spielt in «Poor Things» ein feministisches Monster auf Bildungsreise.
Fuck. Aber was soll das genau heissen? Und wie kommt es eigentlich, dass das englische Verb für Sex zu einem so vielseitig einsetzbaren Schimpfwort für fast alle Lebenslagen umfunktioniert wurde?
Dass Englisch die einzige Sprache sei, die aus dem Ausdruck für körperliche Liebe ein so «böses, unaussprechliches Wort» gemacht habe, wie es im Roman «Poor Things» (1992) von Alasdair Gray einmal heisst: Das ist nur eine kleine Beobachtung unter vielen, über die sich Bella Baxter, die phänomenale Hauptfigur dieses phänomenalen Buchs, auf ihrem ausschweifenden Weg der Erkenntnis wundert. Bella ist ein Kind des viktorianischen Zeitalters, als solches kann sie also noch gar nicht wissen, dass das zarte Wörtchen «fuck» sich dereinst als grenzübergreifender Allerweltsfluch durchsetzen würde.
Heute ist das F-Wort allgegenwärtig, eine international gültige Weltwährung. Symptom eines grassierenden Sittenzerfalls? Oder vielmehr ein Beleg dafür, dass unsere vorgeblich so freizügigen westlichen Gesellschaften weiterhin zutiefst viktorianisch geprägt sind, wie das der Philosoph Michel Foucault einst im ersten Teil von «Sexualität und Wahrheit» postuliert hat? Unser heutiges «fuck» jedenfalls ist tatsächlich ein Erbe der viktorianischen Zeit. Zum geläufigen Schimpfwort ist es nämlich erst unter der rigiden Moral des 19. Jahrhunderts geworden.
Bella Baxter kann mit «fuck» in seiner eigentlichen Bedeutung viel mehr anfangen. Überragend gespielt von Emma Stone, hat sie jetzt auch im Film sehr viel Sex. In ihrer kindlichen Art nennt sie es «furious jumping», und sie ist dabei meist freudig und immer mit grosser Ausdauer bei der Sache: «Wieso tun die Menschen das nicht andauernd?», fragt sie einmal ihren völlig ermatteten Gefährten (Mark Ruffalo). In solchen Momenten könnte man diese unersättliche Frau auch einfach als fleischgewordene Männerfantasie abtun. Das ist sie zwar tatsächlich auch, in einem sehr plastischen Sinn sogar. Aber Bella Baxter ist dann doch viel mehr als das, im Film und ausgeprägter noch im Buch. Und der Mann an ihrer Seite ist nicht nur im Bett bald heillos überfordert von ihr und ihrem unbändigen Freiheitsdrang.
Aus den bizarren Umständen von Bellas Geburt und Auferstehung macht der Film des griechischen Regisseurs Yorgos Lanthimos kein grosses Geheimnis. Das beginnt bereits bei der Figur, die Bella das Leben geschenkt hat: Willem Dafoe als Doktor Godwin Baxter. Alles an diesem Gottvater sieht derart grob zusammengenäht aus, dass auf den ersten Blick kein Zweifel besteht: Dieser Anatom ist wohl selber das Ergebnis eines makabren Experiments. Man sieht da bereits, wie kühn «Poor Things» klassische Motive der Schauerliteratur aufgreift, um sie spielerisch neu zu montieren. Der verrückte Wissenschaftler ist hier selber das Monster, quasi Frankenstein und sein Geschöpf in Personalunion. Der Film bestärkt diesen Verdacht noch mit einem digital komponierten Bestiarium an grotesken Haustieren, die beiläufig durch Baxters Anwesen trotten: hier eine Gans mit dem Körper eines Hundes, dort ein Huhn mit dem Kopf eines Schweins.
Bei Bella Baxter ist das Experiment nicht so offensichtlich. Ganz am Anfang des Films sehen wir eine junge Frau, die sich hochschwanger in den Tod stürzt. Den Namen Bella hat ihr dann erst Doktor Baxter gegeben – nachdem er ihrer Leiche das noch lebende Gehirn ihres ungeborenen Kindes eingepflanzt und sie wieder zum Leben erweckt hatte. Eine Frau mit dem Hirn eines Fötus? Wie gesagt, eine fleischgewordene Männerfantasie: Bella kommt als leibhaftiger sexistischer Prototyp des weiblichen Dummchens in die Welt, von einem Mann in seinem Labor eigenhändig hergestellt. Doch das ist hier nur der Ausgangspunkt für eine Ermächtigungsgeschichte, die die herrschende patriarchale Moral immer wieder vorführt und aushebelt.
Wie Emma Stone diesen Parcours zum eigenständigen politischen Subjekt absolviert, ist ein Ereignis für sich, und ein Oscar wäre unumgänglich, wenn sie aus unerfindlichen Gründen nicht schon 2017 einen für «La La Land» gewonnen hätte. In den ersten Szenen kognitiv noch ein Baby im Körper einer Frau, spielt sie dann alle Stadien der Entwicklung im Schnelldurchlauf durch. Zu Beginn bewegt sie sich in der wahnwitzig elastischen Körperlichkeit einer Erwachsenen, die gerade erst ihren motorischen Apparat kennenlernt. Später verlobt sich Bella mit dem braven Mediziner (Ramy Youssef), der über ihre Entwicklung Buch führt – doch als polymorph perverses Kind, das nie genug bekommen kann, brennt sie dann treudoof mit dem ersten schmierigen Kerl durch, der ihr in den Schritt greift. In ihrer Naivität entzieht sie sich dabei weiter jeglicher Kontrolle und wundert sich über alles, was sie auf ihrer grossen Reise antrifft. Und indem sie sich wundert und alles beim Wort nimmt, bringt sie stets auch die Verhältnisse durcheinander, weil sie nichts als gegeben hinnimmt – vor allem nicht die Besitzansprüche der Männer, die etwa mit Prostitution seltsamerweise nur dann ein Problem haben, wenn es die «eigene» Frau ist, die sich prostituiert.
Das naive Monster, das staunend die ungeschriebenen Gesetze des Patriarchats aus den Angeln hebt: So gesehen könnte man «Poor Things» als feministische Kreuzung aus Voltaires «Candide» und Mary Shelleys «Frankenstein» bezeichnen, wobei der bizarr intellektuelle Zauber dieses Films damit nur ansatzweise umschrieben wäre. Und auch wenn der Mittelteil mit der Reise über Lissabon bis in die Niederungen eines Pariser Bordells etwas langatmig gerät, spielt Lanthimos das alles in einem überbordenden, fantastisch übersteuerten Bilderbuchviktorianismus durch, an dem man sich kaum sattsehen kann – nur schon deshalb, weil einem gleichzeitig andauernd blitzgescheite Dialoge um die Ohren fliegen.
Bemerkenswert an dem Film ist aber auch, was er unterschlägt. Denn so virtuos Lanthimos und sein Drehbuchautor Tony McNamara den Roman verdichten und transformieren: Ihr Film beruht auch auf einer vorsätzlichen Fehllektüre der literarischen Vorlage.
Ob man ihn nun als graue Eminenz oder als Doyen der neueren schottischen Literatur bezeichnen wollte: Der Autor, Maler und Zeichner Alasdair Gray (1934–2019) hätte solche Titel wohl nur mit Spott quittiert und sich dabei vor Lachen verschluckt. Aufgewachsen in einfachen Verhältnissen in Glasgow, wo er sein ganzes Leben verbrachte, arbeitete Gray nach der Kunstschule zunächst vor allem als Wandmaler und Bühnenbildner. Erst mit 57 Jahren veröffentlichte er seinen ersten Roman, an dem er dreissig Jahre gearbeitet hatte: Mit «Lanark» (1981), oft beschrieben als eine Art postmoderner Bastard zwischen James Joyce und Franz Kafka, wurde er zu einem Fixstern für die nächste Generation der schottischen Literatur, von Irvine Welsh bis A. L. Kennedy und Ali Smith. Ausserhalb seiner Heimat jedoch nahm man ihn lange bestenfalls als regionalen Sonderling wahr. Noch 2003 hiess es im «Guardian», Alasdair Gray werde südlich von Glasgow «weitgehend ignoriert».
Zeitlebens machte sich Gray für ein unabhängiges, sozialistisches Schottland stark – nicht nur in seinen Essays: Gerade auch «Poor Things», neben «Lanark» sein bekanntestes Werk, ist durchdrungen von einem ausgeprägten Klassenbewusstsein, dazu kommt eine bitterböse Abrechnung mit dem britischen Imperialismus. Nicht zuletzt ist der Roman aber auch eine bodenlose postmoderne Wunderkammer – wie eine Trickkiste, in der immer neue Durchgänge aufgehen, voller Fluchten und Falltüren.
Das beginnt schon im Kleingedruckten, mit einem Pressespiegel noch vor dem Vorwort: Da stehen Zitate aus (mutmasslich) echten Kritiken neben erfundenen, in denen Alasdair Gray sich auch mal als intellektuellen Rüpel beschimpfen lässt. Der eigentliche Roman wiederum ist gleich mehrfach eingebettet in Vor- und Nachworte, ergänzt mit historischem Bildmaterial und persönlichen Korrekturen, die das Erzählte beglaubigen oder auch diskreditieren. Den Kern des Romans bilden dann die Memoiren von Bellas Ehemann Archibald. Und während sich Bella im Film zum Subjekt ihrer Geschichte aufschwingt, sind es im Buch also über weite Strecken die Männer, die über sie reden, als Kuriosum und als Studienobjekt. Die Herren dozieren über Bellas Körper und über ihre Lust, die keinerlei sozialen Normen unterworfen sei. Und sie staunen über die Briefe, die Bella von ihrer Reise schickt: Wie süss, sie schreibt schon in Versen wie Shakespeare!
Doch wenn man schon meint, dass das Buch als feministischer Bildungsroman entscheidend hinter dem Film zurückbleibt, zieht einem Alasdair Gray einmal mehr den Boden unter den Füssen weg – und zwar mit einem nachgeschobenen Brief der inzwischen verwitweten Bella, die darin den Roman, also die Memoiren ihres Mannes, einer gnadenlosen Revision unterzieht.
Sie kann es gar nicht fassen: Godwin Baxter als Doktor Frankenstein, sie selber das Geschöpf eines makabren Experiments? Alles Unfug, schreibt Bella, alles eine «infernalische Parodie meiner Lebensgeschichte». Und sie fragt sich: Warum nur hat ihr Mann, der nette, nutzlose Archibald, aus ihrer Biografie so ein monströses Pseudoschauermärchen gemacht? Warum hat er ihr Leben benutzt, um daraus diese «morbide viktorianische Fantasie» zu basteln, schamlos zusammengeklaut bei allen einschlägigen literarischen Vorbildern, von Edgar Allan Poe bis Mary Shelley?
Fuck, und jetzt? Der Film präsentiert uns die Geschichte der Bella Baxter als feministische Version von «Frankenstein» – aber genau das entpuppt sich im Buch letztlich als makabre Fantasie eines Mannes, der offenbar nicht so gut damit umgehen konnte, dass er zeitlebens im Schatten seiner umtriebigen Gattin stand. Was sagt es über «Poor Things», den Film, dass er die lustvolle Ermächtigung der Bella Baxter feiert, aber dieser dann doch die Autorität über ihre Geschichte abspricht?
Man könnte dem Film noch anderes ankreiden, zum Beispiel, dass er Alasdair Grays Glasgow nach London verlegt und auch dessen Abrechnung mit dem Imperialismus einebnet. So ist der kolonialistische Herrenmensch, der das Happy End zunächst durchkreuzt, im Film einfach ein adliger Sadist, der am Schluss auch noch mit einem etwas billigen Gag abserviert wird.
Doch in der irren pseudoviktorianischen Opulenz, die Lanthimos in «Poor Things» zelebriert, kommt er dem subversiven Geist der Romanvorlage nicht nur sehr nahe; er schüttelt auch resolut die letzten Reste einer bürgerlich-viktorianischen Moral ab. Im 19. Jahrhundert, so heisst es bei Foucault, sei die Sexualität «von der Kleinfamilie konfisziert» worden, um dort «ganz im Ernst der Fortpflanzung» aufzugehen. Das Happy End, das der Film ansteuert, ist insofern entschieden antiviktorianisch – und damit ganz im Sinne von Alasdair Gray und seiner Bella Baxter. Jenseits der Kleinfamilie mit ihrem heiligen Ernst der Fortpflanzung bildet sich hier letztlich eine andere, grössere, offenere Form von Familie heraus – ohne leibliche Väter und Mütter und ohne andere biologische Banden. Nach allen Ausschweifungen wartet im Film nicht etwa der Beichtstuhl oder ein Fegefeuer, sondern im Gegenteil: ein Paradiesgarten.
«Poor Things». Regie: Yorgos Lanthimos. England / USA / Irland 2022. Ab 18. Januar 2024 im Kino.
Alasdair Grays Roman «Poor Things» ist auf Deutsch unter dem Titel «Arme Dinger» bei Zweitausendeins erschienen (1996, nur noch antiquarisch erhältlich).