Literatur: Verloren im Graubereich

Nr. 6 –

Buchcover von «Lichtspiel»
Daniel Kehlmann: «Lichtspiel». Roman. Rowohlt. Hamburg 2023. 480 Seiten. 35 Franken.

Was, wenn sich beim seit jeher angespannten Dreiecksverhältnis zwischen Kino, Traum und Wirklichkeit noch die Literatur hinzugesellt? Das moralische Versagen der Kunst hat als Thema zwar nichts von seiner Relevanz verloren, aber angesichts der Tatsache, dass heutzutage kaum noch jemand in den Genuss von Filmen aus der Weimarer Republik kommt, ist es doch bemerkenswert, dass ein Roman über einen deutschen Stummfilmregisseur seit Monaten weit oben auf der Bestsellerliste rangiert. Es ist wohl eines der bezeichnendsten Talente des Autors Daniel Kehlmann: historische Personen voller Assoziationen mit mitreissend konstruierter Geschichten aus der kulturellen Versenkung zu holen. Zu einem gewissen Preis.

Anders als Klaus Mann, der den Schauspieler und Nazimitläufer Gustaf Gründgens im «Mephisto» noch zu Hendrik Höfgen umfiktionalisierte, tobt sich Kehlmann relativ unbefangen in den biografischen Leerstellen von Figuren wie Till Eulenspiegel, Alexander von Humboldt oder eben jetzt Georg Wilhelm Pabst aus. Wenn da beispielsweise die realen Chronologien nicht zur Dramaturgie passen, wenn man den Sündenfall des ehemals «roten Pabst» mittels einer fiktiven Kollaboration mit Leni Riefenstahl illustriert oder wenn man die unbekannten Produktionsumstände eines bis heute verschollenen Films zum Lehrstück über moralisches Versagen und geniale Subversion formt, sollte man dazu gute Gründe haben.

Solche gibt es in «Lichtspiel» durchaus: an der Oberfläche etwa mit unglamourösen Kurzauftritten von Greta Garbo und Louise Brooks, im überzeugend eingefangenen Gefühl von Verlorenheit und Sprachlosigkeit im Exil, aber auch im nachvollziehbar geschilderten Impuls, den korrumpierenden Verlockungen der Heimat nachzugeben – in der Hoffnung, bestimmt irgendwie anständig bleiben zu können. Das prägnanteste Bild des Romans aber, in dem sich mitunter auch das albtraumartige Verhältnis des Romans zur Wirklichkeit ausdrückt, bleibt vielleicht dieses: «[…] die Zeit hatte sich verwickelt wie eine Filmrolle […].» Fürs Entwirren sind dann andere zuständig.

Der Autor liest am Sonntag, 11. Februar 2024, in: Bern, Zentrum Paul Klee, 11 Uhr; St. Gallen, Lokremise, 20 Uhr.