Literatur: Reclam – das Spiel
Der Autor liest am 16. Juni 2024 um 11 Uhr im Zentrum Paul Klee in Bern und um 19.30 Uhr im Literaturhaus Zentralschweiz in Stans sowie am 17. Juni 2024 um 19.30 Uhr im Literaturhaus Zürich.
Wie witzig kann der innere Murks eines unglücklichen Gymnasiasten sein? Sehr. Das beweist Tonio Schachingers Roman «Echtzeitalter» auf fast jeder Seite. Der 31-jährige Wiener hat letztes Jahr den Deutschen Buchpreis gewonnen. Nach dem experimentellen Schweizer «Blutbuch» von 2022 entschied sich die Jury diesmal für ein formal unauffälliges Werk. Aber für eines, bei dem man immer wieder laut lachen kann.
Das Konzept scheint einfach: Musils «Die Verwirrungen des Zöglings Törless», versetzt ins Gamezeitalter. Schauplatz ist ein elitäres Wiener Gymnasium, gegründet vom katholischen Orden der Marienbrüder; die Geschichte spielt während der Jahre vor und nach der Ibiza-Affäre. Gefühlslage der Kids: zwischen jugendlicher Verlorenheit und der Gewissheit, dass sie genau so sind und sein wollen wie ihre vornehmlich reichen Eltern – oder dass Erwachsene schlicht nicht ernst zu nehmen sind.
Wie melancholisch kann sich ein Welterfolg anfühlen? Sehr. Sagt Schachingers Hauptfigur Till, der als knapp Sechzehnjähriger «Age of Empires» in der internationalen Topliga spielt und an der ehemaligen Klosterschule wie ein geplagter Fremdkörper herumstolpert; Geborgenheit findet er einzig in der Raucherecke. Um seinen Ruhm als Gamer macht er ein Geheimnis, mit der coolen Feli klappt lange nur Freundschaft, nicht Liebe, was auch damit zu tun hat, dass zwischen Till und seinen Gefühlen tiefe Gräben liegen.
Mit ansteckender Lockerheit schafft es Schachinger, das Chaos der Pubertät so liebevoll wie ironisch auszugestalten. Ausserdem gelingt ihm die literarische Gameification eines altmodischen Gymnasiums mit Mauer und Einlasskontrolle. Eine Spielaufgabe: Wie besorgt man sich in einer nicht so langen Pause in der nicht gerade ums Eck gelegenen Buchhandlung ein neues Reclam-Heft, damit der autoritäre Deutschlehrer nicht ausflippt, weil man die Klassenlektüre daheim vergessen hat? Ganz nebenbei baut Schachinger Tills Mutter ein Denkmal als einfühlsamster Pädagogin des Jahrzehnts. Mindestens.