Die Welt dreht sich: Ein Morgen in Vésenaz

Nr. 7 –

Rebecca Gisler besucht ein Grab

Als ich von einer Westschweizer Zeitschrift angefragt wurde, einen Text über den in der Deutschschweiz viel zu wenig bekannten Schriftsteller Charles-Albert Cingria zu schreiben, entschloss ich mich, ihn in Genf persönlich aufzusuchen.

Nach einer kurzen Konzertnacht und in Begleitung von zwei Freunden aus Paris, beide noch schlaftrunken und grosse Cingria-Leser, fuhr ich frühmorgens mit dem Bus nach Vésenaz. Dort angekommen, spazierten wir durch ein unspektakuläres Wohnviertel, in dessen Mitte ein kleiner Friedhof steht. Wir brauchten nur sehr wenig Zeit, um Cingrias Grab zu finden, was uns freute, denn so hatten wir das Gefühl, zufällig darauf zu stossen, als ob er zu uns gekommen wäre und nicht umgekehrt. Als Allererstes begrüssten wir ihn, dann die anderen Mitglieder der Familie Cingria: Alexandre, Albert, Marguerite, Marc, Geneviève und Jean.

Cingria schrieb Kolumnen, Essays und Erzählungen, in denen sich humanistische Bildung, Velotouren, Gelehrsamkeit und Sprachspiele vermischen. Sein facettenreiches Werk ist nur schwer zu beschreiben, deshalb sollten mir meine Freunde an jenem Tag helfen, die Ideen, die sein Werk und das Grab in uns hervorriefen, in einem verschlafenen literarischen Geplauder zu inventarisieren: «Das Kreuz ist singulär», sagte der eine Freund, «eine Mischung aus romanischer Strenge und voluminöser Prosa», sagte der andere.

Über den Gräbern der Familie Cingria aus altem, rauem Stein thront ein Mosaikbild aus Kieselsteinen, das einen Engel darstellt. Der Engel verbeugt sich in einer seltsamen Haltung, seine Flügel sehen aus wie Ohren, und das Gesicht hat bereits seine ersten Kieselsteine verloren, als wäre jemand auf den Friedhof gekommen, um ihm das Gesicht zu verkratzen.

Wie so oft vor Gräbern verglichen wir die Geburts- und Todesdaten, zuerst der Familie Cingria, dann die unserer eigenen Familien. Wir sprachen darüber, wie alt unsere Mütter waren, als sie entbunden haben, 18, 27, 30; wir sprachen über unsere Grosseltern, Brüder und Schwestern, vielleicht setzten wir uns auch auf die umliegenden Gräber, um uns für einen Moment auszuruhen und so unterschiedliche Themen wie die Anfänge des Schweizer Bürgertums, die Seetemperatur und vage Erinnerungen an Cingrias Exegese zu besprechen.

Einer meiner Freunde war gerührt, weil er es doch seltsam fand, dass ein so krawalliger und massiver Sonderling wie Charles-Albert Cingria hier erstarrt war, umgeben von diesen tadellos gestutzten Bäumen in diesem piekfeinen Wohnquartier am Genfersee. Er fügte hinzu, dass seine Gitarre, sein gutes altes, verstimmtes Holzbrett, auf dem er am Vorabend gespielt hatte und aus dem er seine Lieder zauberte, ebenfalls Charles-Albert heisse.

Wir warfen einen letzten Blick auf ein buntes, hüpfendes, schlecht geformtes und halb verfaultes Mosaikding, bevor wir uns von «Charles-Albert 1883–1954» verabschiedeten. Mehr würden wir an jenem Tag nicht über ihn erfahren. Denn wie es der Musiker Bertrand Belin in seinem Lied «D’entre les morts» so schön sagt: «On ne revient pas d’entre les morts, ça ne se fait plus» – Man kommt nicht von den Toten zurück, das macht man nicht mehr. Auf dem Rückweg nach Zürich notierte ich meine Eindrücke und schlief dabei ein.

Rebecca Gisler ist Autorin in Zürich und empfiehlt die Lektüre von Charles-Albert Cingria.