Sachbuch: Zurückweisen oder nicht?
Wladimir Iljitsch Uljanow alias Lenin ist stets eine Reizfigur geblieben, auch für die Linke (Stichwörter: autoritäre Parteikonzeption, Kronstadt et cetera). Anlässlich des 100. Todestags des Revolutionärs hat der Theatermacher und Sozialwissenschaftler Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn gemeinsam mit seinem Kollegen Patrick Anderson ein aussergewöhnliches Projekt realisiert: einen Band über Lenin, der rund hundert (!) kürzere Beiträge von Autor:innen aus über fünfzig Ländern versammelt. «The Heritage We (Don’t) Renounce» lautet der zweideutige Titel, auf Deutsch: Das Erbe, das wir (nicht) zurückweisen.
Entsprechend vielfältig sind die Texte: Es finden sich darunter Gedichte, kleine literarische Stücke wie ein von der Philosophin Sevgi Doğan fingiertes Gespräch zwischen Lenin und Rosa Luxemburg oder auch autobiografische Zugänge. Letzteres gilt etwa für den Beitrag der US-Politologin Jodi Dean, die davon berichtet, wie sie sich ein Lenin-Zitat tätowieren lassen wollte, dann aber Zweifel an dessen Authentizität bekam. Die Anekdote nimmt Dean zum Anlass, die Möglichkeitsbedingungen sozialer Umwälzungen zu reflektieren.
Konventioneller geht der schwedische Sozialtheoretiker Göran Therborn vor, für den Lenin einer der «Schöpfer des 20. Jahrhunderts» ist, was ja angesichts der Verheerungen, die diese Epoche kennzeichneten, ein ambivalenter Ehrentitel ist. Therborn streicht Lenins Internationalismus heraus, betont aber, dass der Bürgerkrieg die Bolschewiki zunehmend brutalisiert habe. Lesenswert ist auch der Text des französischen Philosophen Alain Badiou, der verhandelt, inwieweit es Revolutionen nicht primär um die Beseitigung des Alten, sondern um den Entwurf von radikal Neuem gehen sollte.
«Lenin. The Heritage We (Don’t) Renounce» ist wohl kein Buch, das man in die Hand nimmt und von vorne bis hinten durchliest, eher Stoff fürs wiederholte Schmökern. Inspirierendes findet sich darin in jedem Fall – sofern man des Englischen mächtig ist.