Senegal: Verschobene Wahlen, verschobene Zukunft
Die alten Eliten machen keinen Platz – und so sind es vor allem die jüngeren Generationen, die im Senegal gegen die Aufschiebung der Präsidentschaftswahl aufbegehren.
Es ist später Nachmittag in Yarakh, einem Stadtteil an der Bucht der senegalesischen Hauptstadt Dakar. Am Strand liegen unzählige Pirogen, wie die langen, schmalen und bunt bemalten Fischerboote genannt werden. Auf den sandigen Strassen spielen Jungs im Abendlicht Fussball, daneben versuchen Händler:innen, für Stoffe, Taschentücher und Handyhüllen Kundschaft zu gewinnen. Männer sitzen auf weissen Plastikstühlen vor einem Kiosk und trinken mit Guineapfeffer gewürzten Café Touba. Das Leben in Yarakh spielt sich auf der Strasse ab.
Sämtliche Diskussionen drehen sich derzeit um ein einziges Thema: die Verschiebung der Präsidentschaftswahlen vom 25. Februar auf den 15. Dezember. So lautet zumindest die Ansage; ob der neue Termin tatsächlich Bestand hat, werden Gerichte entscheiden. Seit Präsident Macky Sall am 3. Februar die Verschiebung bekannt gab (siehe WOZ Nr. 6/24), sind nach aktuellem Stand bereits drei Menschen bei Protesten getötet worden. Viele in Dakar schwanken zwischen Unverständnis und Wut. Proteste gegen die Regierung des 63-jährigen Sall, der 2012 gewählt wurde und aufgrund der Verfassung nicht für eine dritte Amtszeit antreten darf, gibt es bereits seit 2021. Immer rigoroser wurden die Versuche, sie mit grossen Polizeiaufgeboten und Tränengas zu unterdrücken.
Wachsender Frust
Ausgerechnet der Senegal. Während mittlerweile vier Länder in der westafrikanischen Nachbarschaft von Militärs regiert werden, gilt das Land mit einer Bevölkerung von gut achtzehn Millionen Menschen eigentlich als stabile Demokratie mit respektierten Institutionen.
Daouda Ndoye zuckt mit den Schultern. Der hagere 35-Jährige hat sich im Theater Kàddu Yaraax mit Bekannten verabredet. Ndoye ist Bühnenbildner und Schauspieler, aber aufgrund der aktuellen Situation steht die Arbeit hier, im vor drei Jahrzehnten gegründeten Theaterprojekt, weitgehend still. Niemand weiss, wann die nächsten Proteste losgehen. Eher zufällig hat Ndoye einst als Jugendlicher das Theater für sich entdeckt – weil in seinem Fussballklub nicht nur gebolzt, sondern auch Stücke geprobt wurden.
Über die aktuelle politische Situation will er nicht sprechen, damit ist er eine Ausnahme. Dabei wird Ndoye bei seiner Arbeit ständig mit einem ganz bestimmten Aspekt der senegalesischen Politik konfrontiert: «Viele der anderen Schauspieler sind in die Pirogen gestiegen und haben sich auf den Weg nach Spanien gemacht», sagt Ndoye. Ständig würden sich in Dakar Künstler:innengruppen auflösen.
Die papierlose Migration in Richtung der Kanarischen Inseln hat im vergangenen Jahr wieder zugenommen. Wirklich beziffern lässt sich die Tendenz nicht. Aber im Oktober beispielsweise liess die senegalesische Marine verlauten, sie habe innerhalb von drei Tagen mehr als 600 Menschen abgefangen. Die Beweggründe jener, die sich für den lebensgefährlichen Aufbruch entscheiden, sind vielfältig: Zum einen stellt die Migration in Westafrika eine historische Konstante dar. Zum anderen kommt heute eine wirtschaftliche Perspektivlosigkeit hinzu – trotz steigendem Bildungsniveau. Darunter mischt sich aber zunehmend auch der Frust über die fehlenden Möglichkeiten der jungen Generation – das Durchschnittsalter liegt im Senegal bei rund neunzehn Jahren – zur politischen Teilhabe.
Daouda Ndoye kennt viele, die gegangen sind. Auf die Frage, ob auch er schon mit dem Gedanken gespielt habe, schüttelt er den Kopf: «Nie habe ich daran gedacht. Der Senegal ist doch mein Land.» Ndoye hat einst entschieden: Hier will er erfolgreich sein, in seiner Heimat und im Theater, auf der Bühne. Er nahm an Workshops teil, verlor seinen Job als Schweisser. Vor fünf Jahren wurde der Druck enorm, seine Familie bezeichnete ihn als arbeitsscheu, und sein Sohn Mohamed war gerade erst zur Welt gekommen. Trotzdem entschied Ndoye zusammen mit Freund:innen, eine eigene Theatergruppe zu gründen: Bolo Thiossane.
«Ich habe sehr dafür gekämpft», erzählt Ndoye. Auch vor seiner Mutter habe er sich immer wieder rechtfertigen müssen. Mittlerweile hat er bewiesen, dass man auch im Senegal als Schauspieler:in leben – und sogar Jobs für andere schaffen kann. Nicht direkt mit den kostenlosen Strassentheatervorstellungen in Dakars dicht besiedelten Vierteln; sie böten vor allem die Chance, für einen Moment in eine andere Welt einzutauchen und Debatten anzustossen, wie Ndoye sagt. Sondern vor allem mit Produktionen, für die Organisationen Unterstützungsgelder zahlen, oder auch mit internationalen Kooperationen.
Nicht mal ein Praktikumsplatz
Daouda Ndoye hat sich seinen eigenen Job geschaffen. Damit ging er einen Weg, der nicht allen offensteht: Jedes Jahr drängen im Senegal 300 000 junge Menschen auf den Arbeitsmarkt. Es mangelt an nachhaltigen Konzepten, damit sie sich nicht irgendwie im informellen Sektor durchschlagen müssen. «Der Staat muss dringend umdenken», sagt Ndoye.
Im verkrusteten Machtgefüge des Landes stehen junge Senegales:innen oft vor extrem hohen Hürden. Darüber klagt auch die 23-jährige Ndeye Magatte Seck, die als Generalsekretärin der Internationalen Handelskammer für junge Unternehmer:innen (JCI) in Saint-Louis amtet und daneben Jura studiert. Die mittelgrosse Küstenstadt liegt ganz im Norden des Landes, direkt an der Grenze zu Mauretanien. Zwei von Secks Brüdern sind bereits nach Spanien aufgebrochen – sie aber will hierbleiben. Der Ort lebt vor allem vom Fischfang, der immer weniger einbringt; immerhin ist die Altstadt von Saint-Louis Unesco-Weltkulturerbe und deshalb ein beliebtes Ausflugsziel für Tourist:innen. «Ich bin mir sicher, dass man hier gut aufwachsen, leben und auch erfolgreich sein kann», sagt Seck.
Und trotzdem finde sie hier nicht einmal einen Praktikumsplatz, erzählt sie. Gerne würde sie erste Erfahrungen sammeln, um nach dem Studium bei einer Versicherung zu arbeiten. Aber es will nicht klappen. Vorstellungsgespräche hätten bisher keinen Erfolg gebracht, denn anstelle guter Noten seien gute Kontakte gefragt. «Das ist frustrierend», sagt Seck. Vor allem, weil sich das durchs ganze System ziehe.
Ndeye Magatte Seck hat versucht, sich durch zivilgesellschaftliches Engagement einen Platz zu verschaffen. Ihren JCI-Posten übt sie ebenso ehrenamtlich aus wie jenen als Vizepräsidentin einer lokalen Bürger:inneninitiative. Doch dort sei es schwierig, sich gegen «die Alten» durchzusetzen, sagt Seck, «dabei haben wir manchmal viel bessere Ideen».
Was die Erfahrungen der jungen Senegales:innen in der Berufswelt prägt, entlädt sich gerade mit voller Wucht im politischen Gefüge. Zu Hause, erzählt Seck, habe sie stets zu hören bekommen: Halte dich bloss fern von der Politik! Mittlerweile wolle sie das aber nicht mehr hinnehmen: «Die Zukunft ist jetzt», sagt sie, «und es ist unsere Aufgabe, sie zu gestalten.»
Die ambitionierte 23-Jährige protestiert deshalb vehement gegen die Verschiebung des Wahltermins. Offiziell wurde diese mit Unstimmigkeiten auf der Kandidat:innenliste begründet. Über den tatsächlichen Grund wird im Senegal derzeit eingehend spekuliert.
Ein Jahr länger Präsident
Tatsache ist, dass mit Amadou Ba der bevorzugte Kandidat der aktuellen Regierung keine reelle Chance auf einen Wahlsieg hatte. Stattdessen soll Oppositionskandidat Bassirou Diomaye Faye in unveröffentlichten Umfragen ungeahnt stark abgeschnitten haben. Dies wohl nicht zuletzt deshalb, weil Faye von Ousmane Sonko, einem bei jungen Senegales:innen ungemein populären Politiker, unterstützt wird. Sonko selbst steht nicht auf dem Wahlzettel, weil er seit einer Verurteilung wegen «Verführung der Jugend» eine Gefängnisstrafe verbüsst. Nun dürfte sich das Präsidentschaftsmandat von Macky Sall durch die Wahlverschiebung um bis zu ein Jahr verlängern. Und es wird gemutmasst, dass Kandidat Ba in dieser Zeit durch einen Anwärter ersetzt wird, der grössere Erfolgschancen haben und erst noch verlässlicher auf Salls Linie regieren dürfte.
Die Wut von Ndeye Magatte Seck ist aber nicht nur politischer Natur. Sie war mit Alpha Yoro Tounkara befreundet, einem der drei Menschen, die im Zuge der Unruhen bislang ums Leben kamen. Auch Tage später möchte sie nicht über den Verlust sprechen; ihr fehlten die passenden Worte, sagt Seck. Eins sei jedoch klar: Auch für Tounkara werde sie nun für baldige Präsidentschaftswahlen kämpfen – und für das Ende der herrschenden politischen Klasse.