Israel / Palästina : Leichtfüssig durch die palästinensische Geschichte

Nr. 8 –

Der Schriftsteller und Jurist Raja Shehadeh setzt sich im Westjordanland für Menschenrechte ein. Und schuf mit «Streifzüge durch Palästina» ein Werk, das eindringlich den Verlauf der israelischen Besetzung beschreibt.

Raja Shehadeh in Ramallah
Verbindet juristisches Wissen mit der Kunst des Erzählens: Raja Shehadeh in Ramallah.

Nur eine zehnminütige Autofahrt von den Hochhäusern im Stadtzentrum von Ramallah entfernt liegt, inmitten von Hügeln und scheinbar ruhigen Tälern, das Viertel al-Tira mit seinen Villen. Hier lebt Raja Shehadeh, Menschenrechtsaktivist, Anwalt und Autor von Büchern wie «Streifzüge durch Palästina», einem eindringlichen Bericht über seine unzähligen Wanderungen durch ein Land, das nach und nach verschwindet.

Trotz seines kleinen, gekrümmten Körpers, den er mit langsamen, schlurfenden Schritten bewegt, ist der heute 72-Jährige in vielerlei Hinsicht ein Riese: Sein Vermächtnis und seine Familiengeschichte geben Einblick in das Schicksal der Palästinenser:innen im 20. Jahrhundert. So gründete etwa sein Urgrossonkel Nadschib Nassar zur Zeit des Osmanischen Reiches die in Haifa ansässige Zeitung «al-Karmil». Sein Grossvater Saleem Shehadeh arbeitete als Richter während des britischen Mandats über Palästina, das 1948 den Grundstein für den Staat Israel legte. Und Shehadehs Vater Aziz war während der jordanischen Besetzung Ostjerusalems, die von 1948 bis 1967 andauerte, bis zu seinem Tod 1985 ein prominenter Anwalt.

Raja Shehadeh trat in die Fussstapfen seines Vaters und studierte Rechtswissenschaften, später arbeitete er in dessen Kanzlei in Ramallah. Er wurde aber auch zum erfolgreichen Schriftsteller.

Shehadeh wuchs in Ramallah auf. Seine Familie stammt ursprünglich aus der Stadt Jaffa, die sie 1948 während der Nakba, wie die Vertreibung und Flucht der rund 700 000 Palästinenser:innen genannt wird, verlassen mussten. «Meine Eltern dachten, es wäre nur ein kurzer Aufenthalt», erinnert sich der Autor. «Ich wuchs also mit dem Gefühl auf, dass wir eines Tages nach Jaffa zurückkehren würden.» Doch dem war nicht so. Obwohl in vielerlei Hinsicht privilegiert, empfand Shehadeh doch das gleiche Gefühl der Unsicherheit und des Mangels an Zugehörigkeit, das alle palästinensischen Geflüchteten kennen.

Vordenker der Zweistaatenlösung

«Als die Besetzung begann, kam mein Vater zur Einsicht, die beste Lösung für den Konflikt sei die Gründung eines palästinensischen Staates neben Israel», sagt Shehadeh und meint damit die israelische Besetzung, unter anderem des Westjordanlands und des Gazastreifens, die im Zuge des Sechstagekriegs 1967 erfolgte. Doch weder die israelischen Behörden noch die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO), bei denen er dank seines prominenten Status vorstellig werden konnte, hätten seine Idee begrüsst. Aziz Shehadeh wurde von der palästinensischen Führung gar als Verräter abgestempelt, weil er vorschlug, sie solle sich mit Israel arrangieren und auf einen Teil ihres Landes verzichten – anstatt auf die Befreiung des gesamten Landes vom Fluss bis zum Meer zu drängen.

«Jetzt fordern alle eine Zweistaatenlösung», sagt Shehadeh und betont, wie weit sein Vater der Zeit voraus war. Über die Osloer Abkommen hingegen wäre sein Vater entsetzt gewesen, weil sie rechtliche Aspekte vernachlässigten, glaubt er. «Die Abkommen waren fatal, denn sie führten zu einer Ausweitung der israelischen Gebiete im Westjordanland, anstatt sie zu stoppen.» Heute leben rund 700 000 Jüd:innen in 146 Siedlungen, die über das Westjordanland und Ostjerusalem verstreut sind und die nach der Genfer Konvention, einer der Grundlagen des humanitären Völkerrechts, illegal sind.

Gewalt gegen Frauen

Uno-Menschenrechtsexpert:innen erheben schwere Vorwürfe gegen die israelische Armee. Sie verfügten über glaubhafte Hinweise, dass im Gazastreifen und im Westjordanland «Frauen und Kinder gezielt getötet worden sind an Orten, wo sie Schutz suchten, oder auf der Flucht», heisst es in einer Stellungnahme vom Montag. Sie seien über diese Berichte «schockiert».

Hunderte Frauen und Mädchen sollen zudem willkürlich verhaftet worden sein. In mehreren Fällen sollen Verhaftete nackt von männlichen Angehörigen des Militärs durchsucht worden sein. Zwei Frauen berichteten, dass sie vergewaltigt worden seien.

Die Handlungen würden gegen internationales Strafrecht verstossen und könnten vom Internationalen Strafgerichtshof verfolgt werden. Das Expert:innengremium fordert eine unabhängige Untersuchung. Die israelische Mission bei den Vereinten Nationen in Genf weist die Vorwürfe zurück. 

 

1979 war Shehadeh Mitgründer der Menschenrechtsorganisation al-Haq, der palästinensischen Zweigstelle der Internationalen Juristenkommission. Die nichtstaatliche Organisation beobachtet und berichtet über Verstösse gegen Menschenrechte, insbesondere über Verstösse gegen das Völkerrecht, die Israel in den besetzten Gebieten begeht. «Das Recht ist auf unserer Seite, aber Israel respektiert es nicht und benutzt ständig falsche Argumente, um es zu brechen, während die internationale Gemeinschaft es nie durchgesetzt hat», sagt Shehadeh. Er glaubt, sein wichtigstes Verdienst habe darin bestanden, den Prozess zu erklären, der zur gegenwärtigen Situation geführt habe. «Ich glaube, eine Kolonisierung ist dann erfolgreich, wenn die Kolonisierten gar nicht erst verstehen, wie sie an einem bestimmten Punkt angelangt sind.»

Al-Haq wurde 2021 von Israel als Terrororganisation eingestuft – jedoch ohne Vorlegen von Beweisen. Zuvor war die NGO, die erste ihrer Art im Nahen Osten, für ihr Engagement gelobt und mit internationalen Menschenrechtspreisen ausgezeichnet worden.

Shehadehs tatsächlich grösstes Verdienst ist aber wohl die Art, mit der er sein juristisches Know-how mit der Kunst des Geschichtenerzählens verbindet. «Seit meinem 16. Lebensjahr führe ich Tagebuch, um die Realität der Besetzung und ihre Auswirkungen auf mein Leben zu dokumentieren», erklärt er. Sein juristischer Hintergrund helfe ihm dabei, politische Einordnungen vorzunehmen. In erster Linie schreibe er aber Bücher, weil er etwas Schönes erschaffen möchte. Bis heute ist «Streifzüge durch Palästina. Notizen zu einer verschwindenden Landschaft» eines der Bücher, die den tragischen Verlauf der israelischen Besetzung über die Jahre hinweg am eindringlichsten beschreiben.

Auseinandersetzung mit dem Vater

Indem er sich des erzählerischen Mittels der «Sarha» bedient, was im Arabischen so viel wie «leichtfüssiges Gehen ohne Zwang» bedeutet, beschreibt Shehadeh in «Streifzüge durch Palästina», wie das palästinensische Land zwischen 1978 und 2006 durch die Ausdehnung der israelischen Siedlungen und ihrer Umgehungsstrassen nach und nach verschwand. «Heute kann ich nur noch einen sehr kleinen Teil der Hügel betreten, auf denen ich früher spazieren ging, und selbst dort habe ich Angst, von Siedlern angegriffen zu werden», sagt Shehadeh und blickt durchs Fenster nach draussen. «Je älter ich werde, desto tragischer empfinde ich diese Situation.»

Shehadehs Schreiben konzentriert sich auf zwei Kernthemen, die er oft ineinander verwebt: die israelische Besetzung und die Beziehung zu seinem Vater. Shehadehs Vater Aziz, bereits Thema im 2009 erschienenen «Fremd in Ramallah», steht auch im Mittelpunkt seines neusten Buches mit dem Titel «We Could Have Been Friends, My Father and I» (Wir hätten Freunde sein können, mein Vater und ich), das noch nicht ins Deutsche übersetzt ist. Auch wenn Shehadeh die Arbeit seines Vaters als prominenter Bürgerrechtsanwalt und politischer Aktivist respektierte, nahm er ihm seine mangelnde Aufmerksamkeit lange übel. «Meine Meinung änderte sich, als ich vor drei Jahren seinen Nachlass fand und mir klar wurde, wie sehr er für die Dinge, die wirklich zählen, gekämpft und auch etwas erreicht hatte.»

Shehadehs Vater war es zu verdanken, dass palästinensische Flüchtlinge ihre Ersparnisse von der Barclays Bank zurückerhielten, nachdem die israelische Regierung nach dem Krieg von 1948 verfügt hatte, Konten von Palästinenser:innen einzufrieren. «Die Menschen, denen alles genommen wurde, verarmten noch mehr, weil sie ihr Geld nicht von den Banken abheben konnten», erzählt Shehadeh und verweist damit auf ein schwieriges Kapitel der palästinensisch-israelischen Geschichte. «1953 erhob mein Vater Klage: Es war eine der wenigen Klagen, die Palästinenser:innen jemals gegen Israel gewonnen haben.»

Durch diesen Erfolg beflügelt, wollte Aziz Shehadeh den Rechtsstreit fortsetzen und beschloss sogar, bei den Parlamentswahlen als unabhängiger Kandidat anzutreten. Daraufhin wurde er zuerst im berüchtigten al-Jafr-Gefängnis in der jordanischen Wüste inhaftiert und später für fast drei Jahre ins Exil nach Grossbritannien verbannt. «Ich habe nie mit ihm über diese Erfahrung gesprochen. Ich glaube, ich war wütend, weil er uns allein gelassen hatte», sagt Shehadeh.

7. Oktober und Vergeltung

1985 wurde Shehadehs Vater ermordet. Der Täter wurde nie gefunden, aber die israelischen Behörden behaupteten, sein Tod sei auf seine politischen Ansichten zurückzuführen. «Es war praktisch für sie. Sie wollten beweisen, dass jeder Palästinenser, der sich gegen die PLO stellt, von ihr ermordet wird», behauptet Shehadeh. «Ich bin sicher, dass die Dinge anders gelaufen sind, und habe darum gebeten, seinen Fall neu aufzurollen.» Die Polizei prüfe den Fall laut offiziellen Angaben bis zum heutigen Tag.

Es dauerte Jahre, bis Shehadeh, der zunehmend die Hoffnung auf palästinensische Selbstbestimmung verlor, mit der Denkweise seines Vaters Frieden schloss. Ganz am Ende von «We Could Have Been Friends, My Father and I» können die Leser:innen diesem Wandel beiwohnen. «Ich weiss jetzt, dass mein Vater sein ganzes Leben lang das bewundernswerte Ziel verfolgte, mit unseren Feinden Frieden zu schliessen», schreibt Shehadeh im Buch. «Er wiederholte oft, dass es nur noch schwieriger werden würde, wenn wir uns nicht mit Israel arrangieren würden, da neue israelische Generationen heranwüchsen, die eine andere Einstellung hätten und zum Hass auf die Araber erzogen würden.» Jahre später klingt das ziemlich prophetisch.

Und was sagt Shehadeh zu den aktuellsten Eskalationen im Konflikt? Am Tag des 7. Oktober hätten sie aus den Nachrichten zunächst nur erfahren, dass sich Palästinenser:innen aus Gaza befreit hatten. «Ich dachte da zuerst, dass Israel nun erkennen würde, dass keine Mauer die Palästinenser:innen festhalten kann.» Erst später habe er vom Massaker erfahren, das er schockierend und unentschuldbar finde.

Trotz allem war Raja Shehadeh immer der Meinung gewesen, Palästinenser:innen und Israelis müssten zusammenleben. Doch angesichts von Israels aktuellem Versuch, die palästinensische Gesellschaft zu zerstören, sei dies unrealistischer denn je. Er sagt: «Wenn es Israel gelänge, uns zu vernichten, wäre das ein schreckliches Signal für den Rest der Welt, dass Völkerrecht ungestraft verletzt werden kann.» Das aktuelle Urteil des Internationalen Gerichtshofs im Verfahren zu Südafrikas Klage, wonach Israel alles tun muss, um einen Völkermord zu verhindern, beurteilt Shehadeh positiv. Es fällt ihm aber schwer, sich vorzustellen, wie die Zukunft aussehen könnte.

Gibt es eine Frage, die er seinem Vater gerne stellen würde, wenn er noch könnte? Ja, antwortet Shehadeh. «Wie konntest du deinen Optimismus bewahren?» Beim Abschied erinnert er noch an ein weitum bekannt gewordenes Zitat seines Vaters: «Es ist nur ein wirklicher Sieg, wenn wir beide gewonnen haben.»

Aus dem Englischen von Ayse Turcan.