Bürgerliche Eliten: Keine Ahnung, was draussen läuft

Nr. 9 –

Im Land der direkten Demokratie glaubte man bislang: Die bürgerlichen Eliten sind relativ bodenständig und wissen darüber Bescheid, was sich in der Gesellschaft abspielt. Dieser Glaube wird gerade erschüttert.

Die Gegner:innen der 13. AHV-Rente leisteten sich im Abstimmungskampf eine wahre Kaskade an Fehleinschätzungen. Zunächst verzichteten SVP, FDP, GLP und Mitte letztes Jahr im Parlament auf einen Gegenvorschlag zur Initiative. Wohl in der Annahme, es laufe, wie es in der bürgerlichen Schweiz immer gelaufen ist: Sozialausbau an der Urne – chancenlos.

Dann änderte der Bundesrat flugs das Abstimmungsdatum: Eigentlich hätte am 3. März über die beiden Krankenkasseninitiativen von SP und Mitte abgestimmt werden sollen. Das Abstimmungsbüchlein dazu war bereits geschrieben. Doch weil im Herbst eine beinahe zehnprozentige Erhöhung der Prämien verkündet worden war, dachte die Regierung wohl, man lasse besser noch etwas Zeit verstreichen, bis der Prämienschock verdaut ist. Die beiden Initiativen könnten später einfacher abgewehrt werden. So setzte sie die Abstimmungen auf den kommenden Juni an und zog stattdessen die vermeintlich einfacher zu bodigenden Renteninitiativen des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (13. AHV-Rente) und der Jungfreisinnigen (Rentenaltererhöhung) auf den 3. März vor.

Schuss nach hinten

Die ersten Umfragen müssen dann wie ein Schock gewirkt haben: Zustimmungswerte von über siebzig Prozent für die 13. AHV-Rente. In der Dezembersession zauberten GLP und Mitte deshalb einen Vorschlag zur Anhebung der Mindestrenten aus dem Hut. Abgesehen davon, dass die Bürgerlichen mittlerweile die AHV als eine Art Sozialhilfe framen, war auch das eine Fehleinschätzung: Denn bloss vier Prozent der Pensionär:innen beziehen eine Mindestrente. Von der 13. AHV-Rente profitieren dagegen alle.

Die Bürgerlichen unter Federführung der Wirtschaftsverbände und der SVP starteten die Abstimmungskampagne erst Anfang Januar 2024 und machten weitere Fehler. So boten sie fünf bürgerliche Altbundesrät:innen auf, die davor warnten, eine 13. AHV-Rente sei «brandgefährlich». Der Schuss ging nach hinten los. Wer mit einer Jahresrente von 230 000 Franken den Lebensabend bestreite, habe gut reden, schlug es ihnen aus der Bevölkerung entgegen – es ergoss sich ein Shitstorm über die Altmagistrat:innen.

Am vergangenen Wochenende kam dann in Form eines gemeinsamen Briefes der vier bürgerlichen Parteipräsidenten ein durchsichtiges Eingeständnis ihrer Fehleinschätzungen, indem sie sich «zur raschen Erhöhung der AHV-Rente für ärmere Rentnerinnen und Rentner» verpflichten würden.

Dass bürgerliche Wähler:innen ihren Parteien längst nicht mehr blind folgen, davor hätten sie gewarnt sein können. Dazu gibt es in der jüngeren Vergangenheit einige Beispiele, etwa die Ablehnung der Unternehmenssteuerreform III oder die Konzernverantwortungsinitiative, der eine Mehrheit zustimmte, die aber am Ständemehr scheiterte. In diese Reihe gehört auch die Abstimmung über das Frauenrentenalter – ein Zufallsmehr gab den Ausschlag zuungunsten der Frauen.

Eine berechenbare Welt

Es war einmal anders. Der Soziologe Felix Bühlmann, Professor an der Universität Lausanne, forscht zu den Eliten. Eine von ihm mitverfasste Publikation stellt fest: Die alten Eliten aus Parteien, Wirtschaft, Militär und Staatsverwaltungen koordinierten früher ihre Entscheidungen, ehe sie schliesslich dergestalt vorgekaut ins Parlament kamen – und meist durchgewinkt wurden. Die Offiziersausbildung galt als eine Art Führungsschule und Kaderschmiede. Wer in dieser Männerwelt Karriere machen wollte, musste sich in diesen Netzwerken bewegen.

In diesem kaum professionalisierten Milizsystem war auch der Kontakt zu Mitarbeiter:innen in den Unternehmen und in der politischen Arbeit eng – entsprechend wussten diese Kader recht gut Bescheid über die Stimmungslagen in der Bevölkerung. Diese eng verzahnte, bürgerlich dominierte Welt, auch Filz genannt, scharte ihre Klientel hinter sich und konnte an der Urne ihre Anliegen meist durchsetzen. Es war eine mehr oder weniger berechenbare Welt.

Das Ende des Filzes

Diese Form des Milizsystems löste sich im Laufe der achtziger Jahre allmählich auf. Was an seine Stelle trat, wie die Elitenetzwerke heute wirken, ist schwerer zu fassen. Treiber dieser Entwicklung war gemäss Bühlmann die Finanzialisierung der Weltwirtschaft, wie er der WOZ sagt: «CEOs sind heute dermassen gefordert, dass Engagements im Milizsystem zeitlich kaum mehr möglich sind. Die Kader in der Schweiz stammen ausserdem vermehrt aus anderen Ländern, denen die Schweizer Verhältnisse weniger vertraut sind.»

Die Wahrung wirtschaftlicher Interessen übernehmen heute in Bundesbern professionelle Lobbyist:innen. Die Bundespolitik hat sich ebenfalls professionalisiert. Hinterzimmerpolitik gibt es wohl auch heute, aber die politischen Prozesse sind transparenter. «Verstecken lässt sich heute kaum etwas», sagt Bühlmann. «Statt in Hinterzimmern bereiten die Politikerinnen und Politiker Entscheide in den parlamentarischen Kommissionen vor; für Transparenz sorgen auch die Medien.» Das sei an sich eine gute Entwicklung, allerdings mache sie politische Entscheide unberechenbarer. Die Abstimmung über die 13. AHV-Rente ist – zumindest aus der Perspektive der bürgerlichen Parteien – ein anschauliches Beispiel dafür.

64 Prozent für Umverteilung

Für die Genfer Politologieprofessorin Nathalie Giger bildet sich in der aktuellen Debatte um die 13. AHV-Rente auch ein Phänomen ab, zu dem sie geforscht hat: Wer sich politisch rechts der Mitte verortet, gut ausgebildet ist und überdurchschnittlich verdient, akzeptiert ökonomische Ungleichheit eher und ist gegenüber Umverteilung skeptischer eingestellt. «Mich überrascht die grundsätzliche Haltung der bürgerlichen Politiker:innen daher nicht wirklich. Bundesparlamentarier:innen passen in dieses Raster. Sie sind in aller Regel sehr gut ausgebildet und verdienen überdurchschnittlich.»

Mit ihrem Professorenkollegen Jonas Pontusson hat Nathalie Giger in einer international angelegten Studie untersucht, was die Menschen von Ungleichheit, Einkommensunterschieden und Umverteilung halten. In der Schweiz beispielsweise stehen demnach 64 Prozent der Bevölkerung Umverteilung positiv gegenüber. Allerdings wählen sie deswegen nicht unbedingt Umverteilungsparteien, also links. Ausschlaggebend sei dabei vielmehr der eigene ökonomische Status sowie die ideologische Ausrichtung.

Zur bevorstehenden Abstimmung über die 13. AHV-Rente, die ebenfalls Umverteilungscharakter hat, sagt Nathalie Giger: «Ein Ja wäre ein Erdbeben für die bürgerlichen Parteien. In diesem Fall könnte ich mir vorstellen, dass es zu parteiinternen Auseinandersetzungen kommt. Denn wenn bei einer Partei so offensichtlich wird, dass ihre Wählerschaft ihr in einer so wichtigen Frage nicht folgt, hat sie ein Problem.»

Und es könnte für die Bürgerlichen sogar noch heftiger kommen: Nach den Krankenkasseninitiativen von SP und Mitte im Juni kommt im September die Reform der zweiten Säule zur Abstimmung. Diese sieht höhere Beitragszahlungen vor, führt jedoch gleichzeitig zur Senkung des Rentenniveaus. Wird diese Reform verworfen und sollte die 13. AHV-Rente am kommenden Sonntag angenommen werden, wäre die Rentenpolitik von FDP, SVP, GLP und Mitte komplett gescheitert.

WOZ Debatte

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Kommentare

Kommentar von Nol Aders

Fr., 01.03.2024 - 12:25

Lieber Andreas Fagetti, Sie verwenden den Begriff "Umverteilung" unkritisch im Sinne der sog. "bürgerlichen" Parteien, die vergessen machen wollen, dass mindestens seit den 1980er Jahren (Reagan & Thatcher!) eine krasse Umverteilung im Gange ist von *unten nach oben*, der Anteil der reichsten 1% oder 10% an den gesamten Einkommen und Vermögen nimmt laufend zu, siehe z.B. Thomas Piketty. Ich bitte Sie dieses Narrativ der Milliardäre und ihrer Lobbyist*innen nicht so zu übernehmen.

Kommentar von kusto

Sa., 02.03.2024 - 13:08

Das wäre der Hammer! - Eine 13. AHV Rente und eine riesige Ablehnung der Pensionskassenvorlage (2. Säule), die höhere Beiträge für die Finanzindustrie und tiefere Leistungen für die Rentner vorsieht