13. AHV-Rente: Fortschritt oder soziale Erosion
Wer derzeit durch die Leser:innenkommentare scrollt, denkt: Ein Ja zu einer 13. AHV-Rente am 3. März ist mehr als wahrscheinlich. Der Unmut vieler Leute hat sich über Jahre aufgestaut. Dabei geht es nicht mal so sehr ums Geld – das selbstverständlich auch. Breite Bevölkerungsschichten fühlen sich missachtet, ihre Interessen zählen kaum. Und dann werfen sich ausgerechnet bürgerliche Altbundesrät:innen mit ihren staatlich garantierten Luxusrenten auch noch in den Abstimmungskampf und predigen den Bürger:innen Masshalten. Das empfinden viele als Hohn.
Die Krankenkassenprämien steigen seit Jahrzehnten, allein in den vergangenen zwei Jahren waren es fünfzehn Prozent, die Mieten sind vielerorts erdrückend hoch, die Energiekonzerne schreiben auf Kosten der Bezüger:innen hohe Gewinne, Lebensmittelpreise und die öffentlichen Verkehrsmittel haben aufgeschlagen. Und die bürgerliche Mehrheit im Bundeshaus? Sie macht Politik offensichtlich nicht im Interesse derer, die sie gewählt haben. Davon haben die Leute die Nase voll. Die SVP würde wahrscheinlich von Volkszorn reden. Bloss trifft der Zorn dieses Mal die Milliardärspartei, die den Lead in diesem Abstimmungskampf hat.
Selbst der Mittelstand spürt, dass die Renten unter Druck sind. Es geht also am 3. März nicht nur um eine 13. AHV-Rente. Es geht auch um ein würdiges Leben im Alter. Ein Anliegen, das in der Verfassung festgeschrieben ist und das eine breite politische Koalition nach Einführung der AHV mit kontinuierlichen Reformschritten umzusetzen versuchte.
Die fünfziger, sechziger und siebziger Jahre waren Jahrzehnte der Rentenverbesserungen. Allein von 1951 bis 1975 erhöhte die Schweiz die AHV-Renten ein halbes Dutzend Mal, selbst im Krisenjahrzehnt der siebziger Jahre waren diese Fortschritte möglich. Bundesräte, die dagegen das Wort erheben – undenkbar. 1997 gelang Bundesrätin Ruth Dreifuss die letzte entscheidende Verbesserung, sie setzte die rentenwirksame Anerkennung der Erziehungs- und Betreuungsarbeit durch.
Dann eroberte die neoliberale Revolution auch in der Schweiz die bürgerlichen Köpfe. Bereits vor zwanzig Jahren gab der damalige Bundesrat Pascal Couchepin die Losung aus: Rentenalter 67! Seither laufen die Angriffe auf die Vorsorgewerke. Mitte der neunziger Jahre formulierten neoliberale Wirtschaftsfachleute in einem Weissbuch das Programm dazu. Sie sagten voraus, die AHV werde ab dem Jahr 2000 jährlich Defizite verzeichnen – eine offensichtliche Fehlprognose zum Zweck der Angstmacherei.
Die Bürgerlichen sind von diesem Argumentationsmuster bis heute nicht abgewichen. Es wirkt insofern, als seither bloss noch die Verteidigung der Vorsorgewerke an der Urne gelang, aber kaum mehr Fortschritte erzielt wurden. Im Herbst 2022 kam es gar zum Rückschritt. Mit einem Zufallsmehr von 40 000 Stimmen gelang den bürgerlichen Parteien die Erhöhung des Rentenalters der Frauen. Erreicht haben sie dieses Ziel mit dem leeren Versprechen, sie würden dann bei der Reform der zweiten Säule die viel zu tiefen Renten der Frauen in der Pensionskasse angehen. Diese teure Reform wurde schliesslich im Frühling 2023 vom Parlament verabschiedet. Das Resultat wäre, sollte das linke Referendum dagegen scheitern: höhere Lohnabzüge für tiefere BVG-Renten. Übrigens: Jetzt ist eine moderate Lohnprozenterhöhung zur Finanzierung der 13. AHV-Rente für die gleichen Leute des Teufels.
Die Abstimmung vom 3. März ist sozialpolitisch eine der bedeutendsten der letzten fünfzig Jahre. Im Jahr 2024 entscheidet sich ohnehin, ob es in Richtung Fortschritt oder soziale Erosion geht: Im Juni stimmt die Schweiz über die Krankenkasseninitiative der SP ab, im Herbst über die unbrauchbare Reform der Pensionskassen. Nur ein Ja zur 13. AHV-Rente und zur Krankenkasseninitiative sowie ein Nein zur BVG-Reform zwingen die bürgerliche Mehrheit zu echten Reformen im Interesse aller. Es ist Zeit für eine soziale Offensive.