Radu Jude: «Eine kindische Art Rache»

Nr. 9 –

Der rumänische Regisseur Radu Jude erzählt, wie er auf die Idee zu «Do Not Expect Too Much from the End of the World» kam, einem Film über die Marketingwelt – und was ihn am Arbeitsethos in seiner Branche stört.

Filmstill aus «Do Not Expect Too Much from the End of the World»: Angela (Ilinca Manolache) macht ein Selfie in einem Waschraum
Tiktok-Videos als Psychohygiene: Ilinca Manolache als Angela in Radu Judes «Do Not Expect Too Much from the End of the World». Still: Filmgarten

WOZ: Radu Jude, Ihr Film «Do Not Expect Too Much from the End of the World» zeigt die Protagonistin Angela meist in den Zuständen der totalen Übermüdung und der Wut. Sind Sie persönlich eher müde oder wütend?

Radu Jude: Eine interessante Frage, die ich nicht abschliessend beantworten kann, weil sich das ständig ändert. Wie wir alle bin ich vor allem müde – was aber auch an meinem Kind liegt, das ich jeden Morgen zur Schule bringen muss. Und an der Arbeit, klar. Aber es gibt auch eine generelle Müdigkeit – und eine generelle Wut. Ob gerechtfertigt oder nicht: Sie existiert, und es ist wichtig, sie zu zeigen und über sie zu sprechen. Andernfalls wird die extreme Rechte immer stärker werden.

Diese Müdigkeit und die Wut darf man also nicht der Rechten überlassen?

Ich habe lange gezögert, diesen Film zu machen, weil ich befürchtet habe, er könnte als Kritik an der EU oder an den europäischen Konzernen wahrgenommen werden. Doch ich bewundere die Idee der EU und bin dankbar, dass es sie gibt. Sie muss aber weiterentwickelt und verbessert werden, und die EU-Kritik darf nicht den Extremisten überlassen werden. Gerade ihre Befürworter sollten die Dinge kritisieren, die nicht funktionieren.

So zornig wie witzig

Der Kampf gegen die Ausnutzung durch ausländisches Kapital und andere alltägliche Zumutungen scheint verloren, als Ventil bleiben Angela (Ilinca Manolache), die von ihrer Produktionsfirma durch die rumänische Hauptstadt Bukarest gehetzt wird, der Sarkasmus und die Tiktok-Videos. In diesen führt sie mit Andrew-Tate-Gesichtsfilter die Realität ad absurdum. In «Do Not Expect Too Much from the End of the World», seinem neusten zornig-witzigen Meisterwerk, setzt sich Radu Jude wie schon in «Bad Luck Banging» (2021) mit seiner Gegenwart auseinander.

Bekannt wurde der 46-Jährige für seine kritischen Studien zur rumänischen Geschichte. Seine Filme, darunter auch «Don’t Expect Too Much of the End of the World», laufen derzeit in einer Retrospektive im Basler Stadtkino, im Berner Rex und im Zürcher Filmpodium.

 

Portraitfoto von Radu Jude
Foto: Marechal Aurore, Imago

Der Film spielt in der Marketingwelt. Sie haben früher selbst Werbefilme gedreht. Sehen wir im Film jetzt einen typischen Tag in diesem Milieu, oder handelt es sich um eine kondensierte Aneinanderreihung Ihrer schlimmsten Erfahrungen?

In den frühen nuller Jahren hat sich in Rumänien beim Fernsehen und im Auftragsfilm viel getan, es gab viele ausländische Kunden. Es war einfach, dort einen Job zu finden, und ich habe fünf oder sechs Jahre in der Branche gearbeitet. Klar war ich frustriert, weil ich eigentlich Kino machen wollte, aber zugleich bin ich auch dankbar für die Erfahrung, weil sie meine Arbeit in einer Art bereichert hat, die anderen Filmemachern wahrscheinlich fehlt. Und sie bot mir Stoff für «Do Not Expect Too Much …». Als ich mich an die Geschichten aus dieser Zeit erinnerte, fiel mir auf, dass man sie symbolisch lesen kann: Mit ein paar Jahren Distanz – wenn sie «Geschichte» geworden sind – haben sie etwas Beispielhaftes bekommen. Sie stehen exemplarisch dafür, wie unsere Gesellschaft sich selbst und die Arbeit organisiert.

Und wie lässt sich das in der Filmwelt beobachten?

Es gibt ja beim Film und beim Fernsehen diesen «Heroismus», unendlich lange Arbeitstage und verrückte Aktionen in Kauf zu nehmen. Ein Beispiel ist Werner Herzog mit seinen Dschungelabenteuern. Nicht dass ich da per se etwas dagegen hätte. Nur werden diese Legenden von den Regisseuren und Produzentinnen kreiert. Was aber ist mit den Elektrikern am Set oder den Requisiteurinnen, also quasi der Arbeiterklasse des Films? So gesehen ist eine Filmcrew ein Spiegel der Gesellschaft. Ich hatte den Wunsch, die andere Seite zu zeigen, wo das Ganze nicht mehr so heroisch wirkt. Diesen Leuten ist es einerlei, ob sie an einem Werbefilm oder an einem cineastischen Meisterwerk arbeiten, sie wollen einfach ihren Job machen. Dieser bewegt sich jedoch oft an der Grenze zur Ausbeutung, und die Leute werden ständig in gefährliche Situationen gebracht.

Ihre Protagonistin Angela verarbeitet ihre täglichen Eindrücke zu bös überspitzten Tiktok-Videos. Hat dieser Film für Sie eine ähnliche Funktion – eine Art Psychohygiene, um ob der Gegenwart nicht verrückt zu werden?

Ich mag psychologische Interpretationen zwar nicht, aber ja: In Rumänien zu leben und zu arbeiten, hat wenige Vorteile und sehr viele Nachteile. Das Land – und die Stadt Bukarest im Besonderen – sind extrem ermüdend. Alles ist schwierig: die Stadt zu durchqueren, ist schwierig, auf dem Trottoir zu laufen, ist schwierig, mit Leuten zu interagieren, ist schwierig – mit den staatlichen Institutionen sowieso. Alles ist viel schwieriger als anderswo. Das raubt Energie und macht wütend. Wenn mir etwas Schreckliches begegnet oder passiert, leuchtet ein kleines inneres Lämpchen auf, und ich sage mir: Das kommt in den Film. Eine kindische Art der Rache vielleicht, aber immerhin.

Der Filmtitel verweist auf die Apokalypse, aber der Film selbst spielt im heutigen Rumänien. Ist man in diesem Land dem Rest des Planeten in Sachen Weltuntergang einfach ein wenig voraus?

Es gehört zur menschlichen Natur, immer nach Besserem Ausschau zu halten und mit der aktuellen Situation unzufrieden zu sein. Wenn man die Sache objektiv betrachtet, muss man wohl sagen, dass das Leben in Rumänien noch nie besser war. Das Land ist keine Diktatur mehr, seit Mitte der neunziger Jahre kann man sogar von einer Demokratie sprechen. Auch ökonomisch läuft es sichtlich besser, die durchschnittliche Lebenserwartung ist seit den Neunzigern stark gestiegen. Die Menschen können ins Ausland reisen, man kann ohne Zensur Filme drehen.

Objektiv betrachtet sieht man aber auch: Ganze Kategorien von Menschen wurden im Stich gelassen. Es gab einen Übergang von Ceaușescus brutaler Diktatur zu einem brutalen neoliberalen System. Ich will nicht sagen, dass das dasselbe ist – doch diese Entwicklung wäre vermeidbar gewesen. Wir hätten einen Kapitalismus mit mehr Schutz für die Unterprivilegierten haben können. Fünf Millionen Rumän:innen arbeiten im Ausland, weil sie da mehr verdienen, ihre Kinder aber mussten sie hier zurücklassen. Es gibt unzählige individuelle Tragödien. Man kann die Dinge gegeneinander abwägen: An manchen Tagen ist es schrecklich, und an anderen ist es, zumindest im Vergleich zu anderswo, gar nicht so übel.

Wo gibt es Verbesserungsbedarf?

Frustrierend ist vor allem das Gefühl, dass das Potenzial in allen Bereichen – Wirtschaft, Gesellschaft, Bildungs Kultur – eigentlich gross ist. Die Probleme liegen in der Politik und der Verwaltung mit ihrer Korruption und dem Lobbying der Konzerne. Dabei sind viel mehr Mittel vorhanden als noch vor zwanzig Jahren. Das Eisenbahnsystem etwa, aufgebaut vom kommunistischen Regime, wurde nach der Revolution mehr oder weniger aufgegeben. Ob wegen der mangelnden Finanzierung, Korruption oder dem Einfluss der Autolobby, weiss ich nicht. Verglichen mit dem in Österreich oder dem in der Schweiz ist das rumänische Bahnsystem eine Ruine.

Aber wohl immer noch sicherer, als Auto zu fahren oder gar zu Fuss zu gehen. Der Autohass, den der Film entwickelt, ist recht sympathisch …

Vielleicht ist es nicht gerade Hass, denn ich bin nicht grundsätzlich gegen Autos. Aber auch da wieder: Vor der Revolution war es schwierig, ein Auto zu besitzen, also wurde es danach zum Statussymbol. Alle mussten unbedingt ein Auto haben. Das führte zu unglaublich dreckigen Städten. Und weil weder die Infrastruktur noch eine vernünftige Verkehrspolitik oder Rechtslage vorhanden war – man kann hier Leute überfahren, ohne dass man rechtlich viel zu befürchten hätte –, führte das dazu, dass wir europaweit mit grossem Abstand die meisten Verkehrstoten haben.

Im zweiten Teil des Films, der die Dreharbeiten des Imagefilms zur Sicherheit am Arbeitsplatz zeigt, weicht die Realität immer wieder von den Idealvorstellungen der Entscheidungsträger des fiktiven österreichischen Konzerns ab. Ist das etwas, das das Kino für sie attraktiv macht? Das Unkontrollierbare?

Da ist etwas dran. Mein Film «Uppercase Print» besteht aus einer Serie von Monologen und ist während sechs Tagen gänzlich im Studio entstanden. Es ist das Langweiligste, was ich je gemacht habe: in einem kontrollierten Umfeld ohne Risikofaktoren zu drehen, in dem nichts Unvorhergesehenes passieren kann. Mein Ideal ist wohl eine Art Dialog: etwas, das ausser Kontrolle ist, in eine bestimmte Richtung führen. So ist Kino für mich aufregend.

Dass der CEO des Konzerns im Film wie der Nazikriegsverbrecher Hans Frank heisst, ist aber kein Zufall, oder?

Ein Zufall, ein Scherz oder Hinweis auf die Verbindungen zwischen Kapitalismus und Faschismus? Letzteres ist ja schon fast ein Klischee. Und da wir hier unter einer kommunistischen Diktatur gelebt haben, stimmt das aus meiner Sicht einfach auch nicht. Natürlich gibt es einen bestimmten Typ Kapitalismus – die neoliberale Variante ohne jegliche soziale Vorkehrungen –, der die Leute direkt in die Arme des Faschismus treibt. 

Der Historiker Tony Judt hat geschrieben, dass die sozialen Programme nach dem Zweiten Weltkrieg genau deswegen entworfen wurden: um die Menschen von extremen Wegen fernzuhalten. Weil die Leute, wenn sie wütend sind, auf Rache sinnen und sich dann jemandem zuwenden, von dem sie ernst genommen zu werden glauben, selbst wenn das gar nicht stimmt.

So wie der alte Ungar im Film, der meint, Viktor Orbán sei ein «grosser Führer für das Volk».

Es gibt viele, die das glauben: Halb Ungarn glaubt das! Es ist inakzeptabel, wenn diese Nation, die uns immer als Modell vorgehalten wurde, jetzt mit Wladimir Putin gemeinsame Sache macht. Es ist aber auch inakzeptabel, dass die Schweiz das Geld von Putin und den ganzen Oligarchen nicht blockiert und immer noch Geschäfte mit diesem mörderischen Staat macht, der ganz Europa bedroht.

Man tut eben sein Möglichstes. Und der Rest ist sowieso nur fürs Marketing zuständig und hat nichts damit zu tun.

(Lacht.) Ganz genau!