Busfahren: Unterwegs mit dem grünen Riesen

Nr. 24 –

Fast jeden Winkel Europas erreicht man von der Schweiz aus mit dem Reisecar. Was passiert mit der unfreiwilligen Zweckgemeinschaft auf der Fahrt von Bern nach Bukarest, die mehr als einen Tag dauert?

Passagier:innen, welche in Zürich in den Bus zusteigen
Einige der Passagier:innen, die in Zürich zusteigen, fahren nur bis Innsbruck oder Linz, andere bleiben bis Bukarest im Bus.

Das Rauschen der Fahrzeuge erinnert an das Meer. Ein gleichmässiger Klangteppich, solange man sich nicht darauf konzentriert. Bei näherem Hinhören lassen sich einzelne Fahrzeuge ausmachen, die sich mal lauter, mal leiser in unterschiedlichen Frequenzen nähern, mit einem Zischen aus dem Brei auftauchen und wieder verschwinden. Die Autobahn sorgt nicht nur für den Soundtrack, sondern auch für die Kulisse an der Berner Fernbushaltestelle. Ein- und Ausfahrten, Kreisel und ein Parkhaus, dahinter leuchtet in satten Grüntönen der Bremgartenwald. Inmitten dieser Szenerie liegt ein geteerter Platz mit einer gekiesten Einfahrt, die mit Schlaglöchern übersät ist: der Carterminal Bern-Neufeld.

Im Gegensatz zu Zügen oder Autos hat der Bus keinen Fanklub, ja viele wissen nicht einmal, dass man mit ihm so weite Strecken bereisen kann. Der Fernbus ist weder imposant noch schön, wird nicht für seine Technik bewundert, und die Liste der Nachteile des Busfahrens ist lang: So gibt es etwa anders als im Zug praktisch keine Möglichkeit, sich die Füsse zu vertreten. Platz und Beinfreiheit sind so limitiert wie im Flugzeug, doch ist der Bus im Gegensatz zu diesem sehr viel langsamer, weshalb das Reisen rasch eine halbe Ewigkeit dauern kann. Es ist nachvollziehbar, dass die Vorstellung, zehn, zwanzig oder noch mehr Stunden in einem Bus zu sitzen, niemanden in Begeisterungsstürme ausbrechen lässt. Dafür ist der Reisecar oft viel günstiger als der Zug, und weitaus klimafreundlicher als das Flugzeug bringt er einen in jedes Land Europas, aus der Schweiz in über 180 Destinationen, ohne dass man unterwegs umsteigen muss.

ein:e Bus-Passagier:in schläft auf der Rückbank eines Buses
Komfortabel ist anders, aber manche schlafen auch im Bus wie König:innen.

Dreissig Stunden für 75 Franken

Doch wer reist aus welchen Gründen auf diese Art, und was passiert, wenn eine Gruppe Fremder für einen Tag und eine Nacht auf engstem Raum eingepfercht ist? Eine Reise, auf der sich diesen Fragen nachgehen lässt, ist die Strecke Bern–Bukarest. Die rumänische Hauptstadt ist einer der am weitesten entfernten Orte, die sich auf direktem Weg erreichen lassen. Ohne Verspätung dauert die Reise dreissig Stunden, Kostenpunkt circa 75 Franken.

Französisch, Somali, Englisch, Russisch oder Italienisch – am Abfahrtsort im Berner Neufeld werden so viele Sprachen gesprochen, dass man glauben mag, der verwahrloste Parkplatz sei vielleicht Berns internationalster Ort. An diesem Freitagmittag im Mai stehen ein paar Leute in der Sonne und warten auf den Bus des Unternehmens Sindbad, der sie nach Polen bringen soll. Eine Familie begleitet einen jungen Mann, der nach Odesa will, ein Mann mit Fahrrad und eine junge Frau in violetten Sportleggins und dazu passendem Oberteil warten auf den Flixbus nach Frankfurt. 26 Franken habe sie für ihr Ticket bezahlt, sagt die junge Frau, die zum ersten Mal mit dem Bus ins Ausland fährt.

Nach wie vor existieren zwar lokale Transportunternehmen, die Carreisen über lange Strecken organisieren. Viele von ihnen wurden aber in den vergangenen Jahren vom Marktführer Flixbus verdrängt oder inkorporiert. Der Aufstieg des 2012 in Deutschland gegründeten Unternehmens war bemerkenswert. Innert kürzester Zeit wuchs das damalige Start-up zuerst in Deutschland, wo es heute einen Marktanteil von 95 Prozent hat, dann europaweit und zuletzt auch auf anderen Kontinenten. Das Geschäftsmodell von Flixbus, mittlerweile Flix SE, funktionierte lange, ohne dass die Firma einen einzigen Bus besass. Stattdessen kooperierte das Start-up mit Busunternehmen in verschiedenen Ländern. Die Fahrzeuge der lokalen Gesellschaften wurden aussen grün gestrichen und mit dem Flixbus-Logo versehen, der Konzern kümmerte sich um Marketing, Buchungen und die Fahrpläne. Die Fahrer:innen waren unterdessen immer noch von lokalen Unternehmen angestellt und erhielten von diesen auch ihr Gehalt – manche ein sehr tiefes, je nach Land. Doch dazu später mehr.

Seit Flix die Unternehmen Kâmil Koç und Greyhound aufgekauft hat, besitzt das Unternehmen auch eigene Fahrzeuge. Die günstigen Preise kämen dank des «dynamischen Preissystems» zustande, schreibt Flix auf Anfrage der WOZ. Abgesehen vom Geschäftserfolg machte der grüne Riese in den vergangenen Jahren aber auch immer wieder Schlagzeilen mit Unfällen und schlechten Arbeitsbedingungen, etwa wegen Fahrern, die viel zu lange Strecken fuhren.

Kurz nach 13 Uhr biegt ein giftgrünes Fahrzeug in die Einfahrt ein. «Bucuresti» steht auf einem Schild hinter der Windschutzscheibe. Ein paar Leute steigen aus, um eine Zigarette zu rauchen, während die beiden Fahrer die Tickets der wenigen Personen kontrollieren, die ihre Reise hier beginnen. Der Bus ist seit Grenoble unterwegs, Bukarest ist die Endstation. Man habe ihnen nichts davon gesagt, dass Journalist:innen mitfahren würden, meinen die Fahrer entnervt. «Sie sagen uns nichts und bezahlen uns schlecht», sagt einer von ihnen, der sich später als Cosmin Ghiara vorstellt. Die beiden mahnen zur Eile, der Bus soll sich nicht verspäten. Also durch die Tür und die paar Stufen zum Passagierraum hoch, und schon kriecht einem der typische Busgeruch in die Nase: ein süsslicher, schwerer, ein bisschen abgestandener Duft, eine Mischung aus Polster, Putzmittel und Klimaanlage, in der auch ein Hauch von Abgasen liegt. In den nächsten Stunden wird sich der Geruch in der Kleidung, den Haaren und auf der Haut der Reisenden festsetzen und sie so mit dem Fahrzeug verschmelzen lassen.

Zwei Sitze pro Person

Der Bus fährt auf der A1 Richtung Zürich, wo weitere Passagiere warten. Im Innern sind noch viele der knapp fünfzig Plätze frei, die Reisenden haben sich so verteilt, dass die meisten ein Zweierabteil für sich allein haben. In der Nähe von Derendingen staut sich der Verkehr wegen eines Unfalls. Ein Mann mit grauen Haaren, der, auf der Suche nach einer bequemen Position für ein Schläfchen, kurz zuvor seine Beine über den Mittelgang bis auf die Polster auf der gegenüberliegenden Seite gestreckt hat, dreht sich um. Sein Name ist Aurel Redac, er ist 53 Jahre alt und stammt aus Rumänien. Er fahre die Strecke von Grenoble bis in die rumänische Stadt Arad, erzählt der Mann, um dessen Augen sich tiefe Lachfalten ziehen. «Die Reise dauert normalerweise 25 bis 26 Stunden», sagt er fröhlich. Er ist einer der wenigen Passagier:innen, die überzeugt sagen: «Ich fahre sehr gerne mit dem Bus.» Geflogen ist er noch nie, ausprobieren möchte er es auch nicht.

«Schau mal!» Redac zeigt, wie noch oft auf dieser Reise, durch das Fenster auf einen bestimmten Punkt in der Landschaft. Es ist ein Bach, der fast senkrecht einen Felsen hinabstürzt. Nachdem der Flixbus bei Diepoldsau über die Grenze nach Österreich gefahren ist, nähert er sich langsam den Alpen – eine Landschaft, die Redac immer noch begeistert, obwohl er sie mittlerweile gut kennt. Seit mehreren Jahren arbeitet er als Housekeeper in einem Hotel im französischen Wintersportort Val d’Isère. Soeben ist die Saison zu Ende gegangen. Nun hat er zwei Monate frei, bevor er im Sommer wieder zum Arbeiten nach Frankreich fährt. Er ist zufrieden mit diesem Arbeitsmodell. «Die Zeit, die ich in Rumänien habe, kann ich zu Hause mit meiner Familie verbringen.» Er wohnt in einem kleinen Dorf im Westen Rumäniens. Dort würden ihn alle kennen und schätzen, er gehe den Leuten zur Hand, wenn sie Hilfe bräuchten. Aurel Redac ist mit seinem älteren Bruder Alex unterwegs, der in der Reihe vor ihm sitzt. Dieser hat ihm seinen ersten Job in Frankreich besorgt und arbeitet ebenfalls in Val d’Isère. Aurel beugt sich über die Sitzlehne und hält die Hand an den Mund: «Mein Bruder ist ein bisschen schwierig, nicht so kommunikativ», flüstert er grinsend.

Cosmin Ghiara (links) und Stefan Daniel wechseln sich im Vierstundentakt am Steuer ab
Cosmin Ghiara (links) und Stefan Daniel wechseln sich im Vierstundentakt am Steuer ab und schlafen in einer fensterlosen Kammer.

Mehrere der Reisenden, die sich im Bus befinden oder später zusteigen, haben eine ähnliche Geschichte wie die Redac-Brüder. Es sind Rumän:innen, die, auf der Suche nach einem besser bezahlten Job, in Frankreich oder einem westeuropäischen Land Arbeit gefunden haben. Manchmal ist diese wie im Fall von Redac saisonal beschränkt, viele arbeiten in französischen Wintersportorten. Dort sucht man anscheinend händeringend nach Arbeitskräften. Redac zeigt einen ganzen Stapel Visitenkarten von Bauern oder Hotels, die ihn abwerben wollten. In der Zwischensaison reisen viele zurück zu ihren Familien.

Ähnliches erzählen Iulian und Cicia Iacob. Auch Iulian arbeitet in einem französischen Ferienort, seine Frau hat ihn soeben besucht. Nun wollen die beiden zurück, um einige Wochen Urlaub in ihrem Zuhause in der Bukowina zu machen. Im Bus fährt aber auch ein ukrainisches Pärchen aus dem Donbas mit, das in die Ukraine zurückkehren will, oder eine Studentin, die in Zürich lebt und mit dem Flixbus bis Linz fährt, um dort mit ihrem Freund ein paar Tage Ferien zu verbringen. Sie möchte wie einige andere Passagier:innen weder ihren Namen noch ihr Gesicht in der Zeitung sehen, findet den Flixbus, mit dem sie zum zweiten Mal reist, ganz praktisch. «Der Bus fährt ohne Umsteigen nach Linz und ist günstig.» Der Preis ist für viele Reisende der ausschlaggebende Grund, aus dem sie sich für den Bus entscheiden. Egal ob Studierende, Arbeitsmigrant:innen oder Tourist:innen: Wer länger als einen Tag am Stück in einem Bus sitzt, hat in der Regel kein dickes Portemonnaie.

Eine sehr menschliche Erfahrung

Rosanna Muscalu ist seit Jahren nicht mehr mit dem Bus gefahren. «Das ist eine Ausnahme», sagt sie und erklärt, sie müsse überstürzt in ihre Heimat Timișoara reisen, um den Verkauf ihres alten Hauses abzuwickeln. Für die Rückreise in ein paar Tagen habe sie einen Flug gebucht. Die meisten Rumän:innen fliegen die weite Strecke, schliesslich gibt es im osteuropäischen Land ein engmaschiges Netz an nationalen und internationalen Flughäfen. Zwischen Bern und St. Gallen hat sich Muscalu auf ihrem Handy einen Spielfilm über den Zweiten Weltkrieg angesehen und ist ab und zu eingenickt. Später schaut sie, wie viele andere auch, immer wieder aus dem Fenster. «Als wir über die Alpen fuhren – das war unglaublich», sagt sie begeistert. Da der Arlbergtunnel zwischen Tirol und Vorarlberg gesperrt ist, musste der Bus die Passstrasse bis auf 1800 Meter hochfahren. Während das Fahrzeug nun auf der anderen Seite hinabfährt, wird es draussen langsam dunkel, und es geht ein blaues Deckenlicht an, das an Bahnhofstoiletten erinnert.

Rosanna Muscalu sitzt im Bus und liest auf dem Tablet
Man sollte fit sein, wenn man so lange mit dem Bus unterwegs ist, findet Rosanna Muscalu.  

Rosanna Muscalu reist allein und freut sich über ein Gespräch, um sich die Zeit zu vertreiben. Die Rumänin lebt gemeinsam mit ihrem 27-jährigen Sohn in der französische Gemeinde Chanay nahe der Schweizer Grenze und sitzt seit Genf im Bus. Sie arbeitet im Gesundheitswesen, reagiert aber ausweichend auf die Frage, in welcher Funktion genau. Die Geschichte, die sie erzählt, ist eine des Erfolgs, aber auch des Verlusts. Vor fünfzehn Jahren ist sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn nach Frankreich gezogen. «Wir hatten damals ziemlich viele Freunde in der Region, und alle meinten, wir sollten unbedingt kommen.» Zwei Jahre nach dem Umzug starb ihr Mann, eine Tragödie. Für ihren Sohn sei es ausserdem schwierig gewesen, in Frankreich Anschluss zu finden. Er kehrte nach dem Schulabschluss nach Rumänien zurück, um dort zu studieren. Nicht nur Muscalus Mann, auch mehrere ihrer Freund:innen in Frankreich sind mittlerweile verstorben oder wieder nach Rumänien gezogen. «Auf beruflicher Ebene war es gut für mich, auf persönlicher Ebene vielleicht ein Fehler», sagt sie über die Entscheidung, zu migrieren. Sie plant, gemeinsam mit ihrem Sohn ein neues Haus in einem Vorort von Timișoara zu kaufen. Es sei aber schwierig, da sie sich einerseits an die Lebensqualität in Frankreich gewöhnt und andererseits von der Familie in Rumänien entfernt habe. «Wir gehören weder in Frankreich noch in Rumänien richtig dazu.»

Während Muscalu erzählt, ruft ihr Sohn an, um sich zu erkundigen, wie es ihr auf der Reise ergeht. Dass das funktioniert, verdankt sie einem jungen Mitreisenden, der ihr einen Hotspot einrichtete. Sie findet, die Busfahrt sei eine interessante, «sehr menschliche Erfahrung», ist aber froh, dass nicht alle Plätze besetzt sind und sie zwei Sitze hat, um sich auszubreiten. Um es etwas bequemer zu haben, hat sie ein grosses Kissen mitgebracht, das in eine Plastikfolie verpackt ist. «Es ist aber schon nicht komfortabel», sagt sie und verzieht das Gesicht, als sich plötzlich ein bestialischer Gestank nach Fäkalien im Bus ausbreitet. Stammt er von draussen, vom geschlossenen Busklo, oder hat der schlafende Passagier weiter vorne gefurzt, wie eine Passagierin wütend gestikulierend andeutet? «Nun, es ist ein Erlebnis», sagt Rosanna Muscalu lachend, als die Luft wieder nach Car riecht, und fügt etwas später hinzu: «Wir sind ein bisschen wie eine grosse Familie.»

Was im ersten Moment pathetisch klingt, ist eigentlich kein so schlechter Vergleich. Denn auch im Familienverbund gibt es in der Regel Personen, die einem näher sind, und andere, mit denen man möglichst wenig zu tun haben möchte. Natürlich gibt es im Bus Leute, die schnarchen, solche, die stark riechendes Essen verzehren, einige, die stundenlang ohne Kopfhörer Musik von ihrem Handy abspielen oder auf Lautsprecher telefonieren, und auch ein paar, die nach dem Konsum einer ganzen Schnapsflasche beginnen, sich etwas lauter als nötig zu unterhalten. Doch bleibt die Stimmung auf der gesamten Fahrt friedlich und respektvoll. Das gemeinsame Erleben schweisst einen wohl oder übel zusammen, atmet man doch während dreissig Stunden dieselbe Luft und erschrickt gleichzeitig, wenn das Fahrzeug abrupt bremst. Sobald der Bus anhält, benutzt man nacheinander die Toiletten auf der Raststätte, trinkt Kaffee, raucht Zigaretten und unterhält sich über die Reise und manchmal über das Leben.

Illegale Whiskyflasche

Draussen ist es längst stockdunkel, und Rosanna Muscalu hat soeben ihre Erzählung beendet, als der Bus zum Stehen kommt und eine helle Beleuchtung angeht. «Alle Ausweise bereithalten», ruft einer der Fahrer auf Rumänisch. Die Autobahnstrecke von Innsbruck nach Linz führt durch ein kleines Stück deutsches Staatsgebiet, und der Bus befindet sich am Grenzübergang Bad Reichenhall, wo es wieder nach Österreich geht. Die Leute beginnen, in ihren Sachen zu wühlen. Der Car ist auf einem gedeckten Platz zum Stehen gekommen, draussen stehen mehrere deutsche Grenzpolizisten in Uniform, einer von ihnen hält eine Maschinenpistole in den Händen. Die Reisenden, alle mit ihren Papieren zwischen den Fingern, drängen sich für einen kurzen Moment im Gang und schauen durch die Fenster. Niemand hat Lust, auszusteigen. «Schengen», schnaubt Fahrer Cosmin Ghiara höhnisch und deutet mit dem Kopf Richtung Polizei.

Cicia und Iulian Iacob
Cicia und Iulian Iacob sind auf dem Heimweg in die Bukowina.

Die Passagier:innen treten nacheinander vor die Beamten, um ihre Ausweisdokumente vorzuzeigen. «Sprechen Sie Deutsch?», herrscht einer von diesen einen Reisenden an, stellt aber auf die bejahende Antwort keine weiteren Fragen. «Das hier ist fünfzig Jahre gültig, hast du so was schon mal gesehen!», ruft ein anderer Polizist laut seinem Kollegen zu, als er Rosanna Muscalus Ausweis in der Hand hält. Etwa zehn Minuten später sitzen alle wieder im Bus. Ghiara fährt langsam los, während sein Fahrerkollege Stefan Daniel noch durch den Bus geht, um die Passagier:innen durchzuzählen. Er sieht die Whiskyflasche, die die Redac-Brüder seit ein paar Stunden hin- und hergehen lassen. Eigentlich ist Alkoholkonsum im Bus verboten, aber da die Brüder ruhig sind, scheint sich niemand daran zu stören. «Gebt die Flasche ruhig mal nach vorne», scherzt Daniel, und die Leute im Bus lachen. «In drei Stunden können wir hier drin auch rauchen», setzt er noch einen drauf. Drei Stunden noch, dann erreicht der Bus die ungarische Grenze. Es sind osteuropäische Klischees, die hier bemüht werden, doch sie wirken nach der unangenehmen Kontrolle ungemein wohltuend.

«Die deutschen und die Schweizer Grenzpolizisten sind die einzigen, die uns immer kontrollieren», meint Cosmin Ghiara am nächsten Nachmittag. «Sobald sie das rumänische Nummernschild sehen, halten sie uns an.» Für ihn ist klar: «Das ist rassistisch.» Sein Kollege Stefan Daniel bestätigt die Aussage seines Kollegen und fügt hinzu: «Schengen, das ist wie Europa – Freiheit, aber nicht für alle.» Die beiden Fahrer haben sich für einen Moment nach hinten gesetzt. Die Nacht über sind sie im Wechsel durch Ungarn gefahren, immer vier Stunden am Stück. In Arad, der ersten rumänischen Haltestelle, endete die Fahrt für mehrere Reisende, auch für Aurel und Alex Redac, der gegen Schluss und mithilfe des Whiskys doch noch kommunikativ wurde. Zugestiegen sind zwei neue Fahrer, seither haben Ghiara und Daniel frei. Ihre Arbeit ist hart: In der Regel machen sie einen Trip pro Woche, das heisst: von Bukarest bis nach Grenoble, Bordeaux oder Deutschland und wieder zurück. Wohin sie fahren, erfahren sie immer erst kurz vor dem Start, die Partner wechseln ständig. Sie verdienen dafür beim rumänischen Busunternehmen, bei dem sie angestellt sind, im Schnitt etwa 1200 Euro im Monat. Machen sie aus irgendwelchen Gründen weniger Fahrten, verdienen sie noch weniger. «Andere Fahrer von Flixbus, die in anderen Ländern angestellt sind, verdienen viel mehr als wir», sagt Daniel. «Das ist nicht fair.»

«Jedes Mal vergessen sie jemanden»

In einem Restaurant nahe der Stadt Orăștie hält der Bus für die Mittagspause. Das erste Mal rumänisches Essen, das erste Mal rumänische Preise. Die Menüs eher fleischlastig und schwer, die Auswahl an vegetarischen Gerichten bescheiden, doch vorhanden. Viel Zeit zum Essen bleibt nicht, die Gerichte werden innerhalb von wenigen Minuten serviert, die meisten rauchen nach dem Essen noch rasch eine Zigarette, und die Fahrt geht weiter. Einige Personen, die mit einem anderen Flixbus von Deutschland gekommen sind, steigen zu. Einer der neuen Fahrer geht durch den Mittelgang und zählt die Passagier:innen. Er zählt falsch. Etwa nach zwanzig Minuten Fahrt fällt jemandem auf, dass ein älterer Mann fehlt. Unruhe bricht aus. Einer der Fahrer steigt nach hinten und zeigt auf die Tasche. «Wem gehört die?» – «Na dem, den ihr vergessen habt!», ruft ein kurz zuvor zugestiegener Mann aus Bremen verärgert nach vorne. «Flixbus ist so ein Albtraum», sagt er, «jedes Mal vergessen sie jemanden.» Der vergessene Mann werde abgeholt, versichern Ghiara und Daniel.

Irgendwann hört die Autobahn auf, und der Bus fährt über Landstrassen durch Siebenbürgen, durch malerische Dörfer und kleine Städte, dann sieht man in der Ferne die schneebedeckten Gipfel der Karpaten. Dann wird es draussen wieder dunkel. Spätestens als der Flixbus den Kreisel mit dem Triumphbogen passiert, ist klar, dass die Zieldestination Bukarest endlich erreicht ist. Abgesehen von einigen beleuchteten Hochhäusern und ein paar belebten Strassen sieht man vom Bus aus nicht viel von der Stadt.

Kurz vor 23 Uhr und mit nur einer Stunde Verspätung hält der Bus zum letzten Mal. Die Reisenden suchen ihre Sachen zusammen und steigen nacheinander aus. Einigen mag das Ende der Reise, obwohl mit Sicherheit herbeigesehnt, doch für einen kurzen Moment schwerfallen. Hier endet etwas, ein Zustand, in dem man keine eigenen Entscheidungen treffen musste und Teil einer Gemeinschaft war – wenn auch einer unfreiwilligen. Für die meisten ist die Reise hier zu Ende, andere steigen in einen Bus Richtung Bulgarien oder Republik Moldau.

Stefan Daniel verabschiedet sich mit einem kräftigen Händedruck. Ihn werde man auf dieser Strecke nicht mehr antreffen. «Heute war mein letzter Tag», sagt er lächelnd. Am Montag tritt er eine neue Stelle an. Dort werde er dreimal so viel verdienen wie bisher.

Blick aus dem Busfenster auf ein vorbeiziehendes Dorf
Siebenbürgen oder Schweiz? Vor dem Fenster ziehen Felder, Hügel und Dörfer vorbei.

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