«Gefangene des Schicksals»: Der Trost geteilter Erfahrung

Nr. 10 –

Mehdi Sahebis berührende Langzeitstudie über Geflüchtete aus dem Iran und Afghanistan beginnt da, wo viele andere Fluchtfilme enden: nach der Ankunft im Gastland.

Filmstill aus «Gefangene des Schicksals»: die Freunde Mahmad und Ezat an einer Haltestelle in Neftenbach bei Winterthur
Grosse Themen im Alltag verhandelt: Die Freunde Mahmad (links) und Ezat (rechts) an einer Haltestelle in Neftenbach bei Winterthur. Still: Sora Film

Die Eltern Sanam und Teymour rufen ihren sechsjährigen Sohn Abolfazl im Iran an. Im Videocall erinnert der Junge seine Mutter gleich an ihr Versprechen, bald zu ihm zu kommen. Dann geht es um Alltägliches: das neue Fahrrad, das der Grossvater ihm gekauft hat, seine Zeichnungen, den Kindergarten der kleinen Schwester, die es mit den Eltern in die Schweiz geschafft hat. Kleine Gesten, Blicke, ein Lächeln, die griffbereite Taschentuchbox – allen Familienmitgliedern ist anzumerken, wie sehr sie sich zusammenreissen, um ihre Verzweiflung nicht zu zeigen.

Die Geschichte der Familie Hosseini zieht sich durch Mehdi Sahebis Film «Gefangene des Schicksals». Auf der Flucht aus dem Iran war Abolfazl an der türkischen Grenze verhaftet und in ein Lager gebracht worden, bevor er zu seinen Grosseltern in den Iran zurückkehren konnte. Die Eltern landeten mit der kleinen Tochter in der Schweiz und setzen seither mit Briefen, Anträgen und Anhörungen alles daran, Abolfazl zu sich zu holen.

Der andere Strang von «Gefangene des Schicksals» dreht sich um eine Gruppe junger Männer rund um Mahmad. Dieser war im Bürgerkrieg im Irak, desertierte und flüchtete in die Schweiz, wo er unter falschen Angaben Asyl beantragte, in der Annahme, so seine Chancen zu erhöhen. Was er im Krieg genau erlebt hatte, lässt Sahebis Film offen. Er interessiert sich mehr dafür, wie sich Mahmad trotz seiner quälenden Erinnerungen einigermassen bei Laune hält – mit exzessivem Krafttraining und seinem Freund Ezat, mit dem er sich hin und wieder eine Pfanne Spiegeleier teilt.

Gelernt von Chaplin

Die beiden sind ausgesprochen unterhaltsame Selbstdarsteller. Ihre Gespräche drehen sich ums Essen, um den Krieg, die Schweiz und natürlich sie selbst. Alles kann bei ihnen zur Pointe werden: Mahmads Stirnfalten beim Training, die chronische Verstopfung der Soldaten im Krieg oder der skurrile Zwang in der Schweiz, dass für jeden erdenklichen Job eine dreijährige Ausbildung verlangt wird.

Regisseur Mehdi Sahebi («Mirr») teilt den kulturellen Hintergrund einiger seiner Protagonist:innen und auch die Erfahrung von Flucht und Migration – er kam 1983 aus dem Iran in die Schweiz. Die beeindruckende Nähe und Intimität, die er im Film zu ihnen aufbaut, lässt sich damit aber nur halb erklären. Wie entsteht dieses Vertrauensverhältnis? Wahrscheinlich, erklärt Sahebi auf Nachfrage, liege es an der vielen Zeit, die er mitbringe, und auch daran, dass er beim Drehen jeweils ganz allein arbeite. Er verweist aber auch auf Charlie Chaplin, vor dem er sich im Film mit einem Stück aus dem Soundtrack von «The Kid» verneigt: Von Chaplin habe er gelernt, «dass Tragik und Komik unweigerlich zusammengehören», ja, dass sich das Leben nur mit Humor, Musik und Tanz aushalten lasse. Das versuche er auch beim Drehen zu berücksichtigen.

Sahebi dokumentiert unaufdringlich, aber beharrlich. Gedreht hat er hauptsächlich in Asylheimen. In einer der schönsten Szenen liegen Mahmad und Ezat müde nebeneinander auf Matratzen. Ezat fallen schon die Augen zu, doch Mahmad will ihm unbedingt noch einen Song vorspielen: «The Thrill Is Gone» von B. B. King. «Ich bin enttäuscht von dir …, ich bin enttäuscht von dir», übersetzt Mahmad sinngemäss den sich ständig wiederholenden Songtitel. Ezat schlägt die Augen wieder auf – ob das wirklich alles sei, was er singe? Mahmad holt aus zu einer längeren Erklärung über Liebeskummer, Sinnverlust und Freiheit. Die Kamera rückt immer näher an die beiden heran, registriert jede Regung ihrer Gesichter, bis sie ruhig einschlummern, während B. B. King weitersingt: «You know, I’m free, free now, baby.»

Unrecht, nicht Schicksal

In solch dichten, beinahe spielfilmhaften Alltagsszenen rührt der Film an die ganz grossen Themen: Freundschaft, Lebensmut, Freiheit und Glück. Das macht «Gefangene des Schicksals» zu einem warmherzigen, klugen Film – und zu einem wichtigen Beitrag zur Asyldebatte. Denn Mehdi Sahebi beschränkt sich nicht darauf, Missstände (wie die unmenschliche Wartefrist beim Familiennachzug) anzuprangern oder mit Vorurteilen aufzuräumen (besonders gegenüber jungen muslimischen Männern). Er zeigt vor allem auch, woran die Debatte grundsätzlich krankt: an der Unfähigkeit, Asylsuchende als Individuen zu sehen.

Von den Protagonist:innen des Films hat bislang keine:r Asyl bekommen. Mahmads Antrag wurde abgelehnt, die anderen sind vorläufig aufgenommen. Dass Abolfazl vor Ablauf der üblichen dreijährigen Wartefrist in die Schweiz kommen durfte, ist wohl nicht zuletzt dem Film zu verdanken. Die meisten Leute müssten ein Unglück selbst erleben, um es zu verstehen, stellt Vater Teymour in einer Szene resigniert fest; nur wer selbst leide, könne das Leid anderer nachempfinden. In einer anderen Szene wird Ezat von einem Freund getröstet: «Wer nie gelitten hat, kennt auch kein wahres Glück.»

Mehdi Sahebis Langzeitstudie erzählt sowohl von Leid als auch von Glück. «Gefangene des Schicksals» lässt uns an den Erfahrungen ihrer Protagonist:innen teilhaben und zwingt uns so, ihr vermeintlich schicksalhaftes Unglück als Unrecht anzuerkennen, gegen das wir hier, in der Schweiz, durchaus etwas tun könnten.

«Gefangene des Schicksals». Regie: Mehdi Sahebi. Schweiz 2024. Ab 14. März 2024 im Kino.

Vorpremieren mit Regisseur und Aktion Vierviertel in: Zug, Kino Gotthard, Mo, 11. März 2024, 20 Uhr; Luzern, Stattkino, Di, 12. März 2024, 18.30 Uhr; Basel, Kultkino Atelier, Mi, 13. März 2024, 18.15 Uhr.